Die Inschriften des Landkreises Göttingen

5. Schriftformen

Abgesehen von alter Kapitalis und romanischer Majuskel finden sich im Inschriftenbestand des Landkreises Göttingen Beispiele für sämtliche bis zum Jahr 1650 auftretende epigraphische Schrif­ten mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vorherrschenden Kapitalis.

Gotische Majuskel

Die gotische Majuskel vereinigt kapitale und runde Buchstabenformen mit einer im Laufe der Zeit verstärkten Tendenz hin zu den runden Buchstabenformen. Allgemein charakteristisch für diese Schrift sind ausgeprägte keilförmige Verbreiterungen der Schaft- und Bogenenden sowie Bogen­schwellungen. Die an Schaft-, Balken- und Bogenenden angesetzten Sporen werden besonders betont und können vor allem bei C und E zu einem durchgehenden Abschlußstrich zusammen­wachsen.

Die gotische Majuskel findet sich hier ab 1257 vor allem auf den frühen Glocken (Nr. 2, 3, 5, 7, 12), aber auch in Stein (Nr. 4, 11, 13, 31) und als Wandmalerei (Nr. 26). In diesen Inschrif­ten treten kapitale und runde Formen im Wechsel auf, so beispielsweise auf der Altarplatte in Gimte aus der Zeit um 1300 (Nr. 4), wo kapitales neben unzialem H steht und kapi­tales M neben links geschlossenem bzw. durch Abschlußstrich geschlossenem symmetrischen unzialen M. Eine Spätform der gotischen Majuskel zeigt die Renshäuser Glocke von 1355 (Nr. 12) mit ausgeprägten Bogenschwellungen und tropfenförmigen Verdickungen sowie Nodi an den einzelnen Buchstabenbestandteilen. Ähnliche Buchstabenformen finden sich auch auf der Die­mardener Glocke aus dem Jahr 1379 (Nr. 17). Im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts wird die gotische Majuskel durch die gotische Minuskel abgelöst und danach nur noch für den Christus­namen (INRI, IHESUS) vor allem auf Goldschmiedearbeiten verwendet.

Gotische Minuskel

Im vorliegenden Bestand findet die gotische Minuskel seit dem Jahr 1342 bis zu ihrer Ablösung durch die Kapitalis um 1550 und damit über einen sehr langen Zeitraum Verwendung. Erstmals ist sie im Jahr 1342 an der Mündener Kirche St. Blasius (Nr. 9) angebracht, allerdings in einer noch nicht voll ausgebildeten Form, die zeigt, daß der Steinmetz zu dieser frühen Zeit noch nicht auf den seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts allgemein und innerhalb kurzer Zeit verbrei­teten Formenkanon dieser Schrift mit ihren charakteristischen Bogenbrechungen und der daraus resultierenden parallelen, oft gitterartigen Anordnung der senkrechten Buchstabenteile zurückgrei­fen konnte. Die im Mittelband stehenden Schäfte werden in der gotischen Minuskel an der Ober­linie des Mittelbandes und an der Grundlinie gebrochen, Bögen durch stumpfwinklige Brechung oder durch spitzwinkliges Abknicken in senkrechte, waagerechte oder schräge Elemente umge­wandelt.

Das zweite, sehr viel spätere Auftreten der gotischen Minuskel im Landkreis Göttingen auf einer Grabplatte in der Duderstädter Kirche St. Servatius von 1383 (Nr. 18) zeigt die voll ausgeprägte Form mit Bogenbrechungen, die in der Folgezeit in etlichen Bauinschriften sowie auf Grabplatten und Glocken vorkommt. Während die in Stein ausgeführten Inschriften in goti­scher Majuskel und die Mündener Inschrift in gotischer Minuskel von 1342 eingehauen sind, wur­den die Steininschriften im Landkreis Göttingen in gotischer Minuskel seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zum überwiegenden Teil erhaben gehauen. Dabei sind die Buchstaben zunächst oft in ein Zweilinienschema gestellt, über das die Ober- und Unterlängen kaum herausra­gen. Beson­ders plastisch sind die ins Mittelband gestellten Buchstaben einer Bauinschrift von der alten Mündener Werrabrücke aus dem Jahr 1401 gestaltet (Nr. 34), deren flächige Buch­staben­elemente in gitterartiger Anordnung die Schrifttafel ausfüllen. Deutliche Ober- und Unter­längen, deren Umrisse in die Rahmenleisten eingehauen sind, weisen die Inschriften am Duder­städter Westertor von 1424 (Nr. 36) und am Rathaus von 1432 (Nr. 40) auf. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vermehrt sich die Zahl der in ein Vierlinienschema gestellten Inschriften in gotischer Minuskel deutlich. Einer Spät­form mit langen gegabelten Oberlängen und weit ausgezogenen Zierhäkchen an den Buchstaben­enden aus dem Jahr 1487 in einer Bauinschrift an der Mündener Kirche St. Blasius (Nr. 71) stehen [Druckseite 27] zur gleichen Zeit und noch wesentlich später mehrere in der Buchstabengestaltung ver­gleichs­weise schmuck­lose, aber sehr qualitätvoll ausgeführte erhabene Steininschriften in gotischer Minuskel gegenüber (Nr. 73/1490, Nr. 110/1501, Nr. 130/1522), unter denen die Inschrift auf dem Sarkophagdeckel für Herzog Wilhelm II. von 1494 (Nr. 76) in ihrer formalen Strenge mit der Darstellung des Verstorbenen in Rüstung korrespondiert.

Die frühesten gotischen Minuskeln auf Metall finden sich auf dem Bronzetaufbecken (Nr. 19/1392) und auf der Tür einer Sakramentsnische in der Mündener Kirche St. Blasius (Nr. 37/4. Viertel 14. oder 1. Viertel 15. Jh.). Letztere zeigt zwei in das Mittelband gestellte Inschriften, von denen eine – wie die Inschrift des Taufbeckens – erhaben gegossen, die andere in glatten Buchstaben vor schraffiertem Hintergrund ausgeführt ist, eine Gestaltung, die besonders auf spätgotischen Goldschmiedearbeiten zu finden ist. Etliche Kelche in den Kirchen des Landkreises Göttingen aus dem 14. und 15. Jahrhundert sind mit kurzen Inschriften dieser Art auf den Schaftstücken verziert. Der Lutterberger Kelch (Nr. 50/2. Hälfte 14. oder 1. Hälfte 15. Jh.) trug als einziger dieses Bestands besonders dekorativ wirkende große Buchstaben auf einem um den runden Fuß verlaufenden Schriftband. Die älteste Glockeninschrift in gotischer Minuskel stammt aus dem Jahr 1399 (Nr. 24, Bernshausen). Ihre schmalen Buchstaben sind sehr einfach und schmucklos ausgeführt und zeigen als Besonderheit v mit stark linksschräger linker und senkrechter rech­ter Haste. Eine vergleichsweise einfache Ausführungsart weisen mit zwei Ausnahmen auch die anderen – allerdings nicht sehr zahlreich erhaltenen – Glockeninschrif­ten in gotischer Minuskel auf. Ganz anders sind die breiten, bandartig wirkenden Buchstaben­bestand­teile zweier Glockeninschriften von 1430 (Nr. 38) und 1458 (Nr. 52) gestaltet, deren Schmuckcharakter deutlich mehr betont ist.

Die älteren Hausinschriften des Landkreises Göttingen sind ebenfalls in gotischer Minuskel ausgeführt und stehen jeweils erhaben in vertiefter Zeile. In den Hausinschriften hält sich die goti­sche Minuskel am längsten bis in das dritte Viertel des 16. Jahrhunderts. Die beiden spätesten Beispiele aus den Jahren 1565 (Nr. 169) und 1570 (Nr. 178) zeigen eine Kombination der gotischen Minuskel mit Frakturversalien. Auch unter den Inschriften in Stein gibt es ein Beispiel für diese Kombination auf einer Mündener Grabplatte aus dem Jahr 1565 (Nr. 170). Ansonsten findet sich in den gotischen Minuskelinschriften über das immer wieder variierte A in Anno hinaus nur gelegentlich die Verwendung einzelner Versalien.

Frühhumanistische Kapitalis

Die frühhumanistische Kapitalis wird im Landkreis Göttingen überwiegend für Inschriften auf Altären, Goldschmiedearbeiten und für Hausinschriften verwendet. Mit 21 Nummern und fünf weiteren Inschriften in Kapitalis mit einzelnen Merkmalen der frühhumanistischen Kapitalis ist diese Schriftart im Landkreis Göttingen vergleichsweise häufig zu belegen. Am frühesten tritt sie auf einer Reihe von um 1500 entstandenen spätgotischen Altären in Nimben (Nr. 114, Nr. 116, Nr. 136) und Gewandsäumen (Nr. 82 u. Nr. 84) sowie auf dem Reinhäuser Altar (Nr. 82) auch als Verzierung der Rahmenleisten auf. Diese beson­ders dekorative Schrift, die Elemente verschiedener Schriftarten wie der gotischen Majuskel und der Kapitalis mit byzantinisch-griechischen Formen vereint und Schmuckelemente wie Ausbuch­tungen, Nodi und keilförmig verbreiterte Hasten aufweist, wurde von den Meistern der spätgoti­schen Altäre ebenso gerne verwendet wie von den Goldschmieden im ersten Viertel des 16. Jahr­hunderts (Nr. 123, 124, 133, 134). Während sich entsprechende Kombinationen von Inschriften­träger und Schriftart auch in anderen Inschriftenbeständen beobachten lassen, ist das Auftreten der frühhumanistischen Kapitalis in einer besonders ausgeprägten Form in drei Münde­ner Hausin­schriften aus den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts eher ungewöhnlich (Nr. 165, Nr. 167, Nr. 168), genauso wie die aus derselben Zeit stammende früh­humanistische Kapitalis auf einem Kaminsturz des Mündener Schlosses (Nr. 166/1562). Offenbar wurden die drei Häuser Lohstr. 18 von 1562, Burgstr. 4 von 1564 und Burgstr. 8, Hinterhaus von 1564 durch dieselbe Zimmerwerkstatt errichtet. Ob es lediglich auf einem Zufall beruht, daß der Kaminsturz des Schlosses und der Schwellbalken eines Mündener Hauses im Jahr 1562, also zu einer für die Verwendung der frühhumanistischen Kapitalis ver­gleichsweise späten Zeit, mit dieser Schrift versehen wurden, läßt sich nicht klären. Es gibt aber Unterschiede zwischen der Inschrift in Stein, die oben offenes D, retrogrades N, aber kapitales E aufweist, und den Hausinschriften, die durchgängig geschlossenes D und epsilonförmiges E zei­gen, aber kein retro­grades [Druckseite 28] N. Allen gemeinsam ist das spitzovale O und das konische M mit kur­zem Mittelteil. Ele­mente der frühhumanistischen Kapitalis finden sich auch noch an den wohl gleich­zeitig errichteten Mündener Häusern Sydekumstr. 13 und 15 (Nr. 246 u. 247), die laut dendrochro­nologischem Befund erst um 1600 entstanden sind. Damit läßt sich im Landkreis Göt­tingen eine Verwendung der frühhumanistischen Kapitalis bzw. einzelner Elemente dieser Schrift in Kapitalis­inschriften noch im gesamten 16. Jahrhundert nachwei­sen.

Fraktur und humanistische Minuskel

Diese beiden Minuskelschriften, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts allgemein Verwendung finden, kommen im Bestand des Landkreises Göttingen eher selten vor. Dies gilt ganz besonders für die humanistische Minuskel mit nur fünf Belegen in diesem Band. Allgemein kennzeichnend für diese Schrift sind runde Bögen und ohne Brechung endende Schäfte, f, Schaft-s und h weisen in der Regel keine Unterlänge auf. Wie schon in anderen Beständen läßt sich auch hier eine Bindung der humanistischen Minuskel an lateinische und der Fraktur an deutsche Inschriftentexte erken­nen. Bei den fünf Inschriften in humanistischer Minuskel handelt es sich in zwei Fällen um Quel­lenangaben (Nr. 183, gemalt, Nr. 424, eingeschnitzt), in je einem weiteren Fall um ein lateinisches Bibelzitat (Nr. 251, gemalt) und um eine kurze lateinische Sentenz (Nr. 299, Bronze­guß auf Stein­grabplatte). Die in ihrer Ausführung bedeutendste Inschrift in humanisti­scher Minuskel im Landkreis Göttingen, ein lateinisches Bibelzitat, findet sich am Mündener Rat­haus und trägt ganz deutlich die ‚Handschrift’ des Bildhauers Georg Crossmann, für die sich Par­allelen auf dessen Lemgoer Werken finden (vgl. dazu Nr. 276, Kommentar). Charakteristisch für die humanistische Minuskel Crossmanns ist die hohe schlanke Ausführung der Buch­staben mit der Tendenz, die Buchstaben in den Mittellängenbereich zu stellen. So stehen g und t ganz im Mittel­längenbereich, ebenso d mit klei­nem Bogen. Kennzeichnend für ihn sind auch das e mit sehr klei­nem oberen Bogenabschnitt, r mit Fahne in Form eines kleinen Häkchens sowie gera­des, stumpf auf der Zeile endendes t mit nach rechts angesetztem kleinen Balken. Eine Sonder­form, die die humanistische Minuskel mit Frakturmerkmalen wie nach rechts geneigten Oberlän­gen der Buch­staben, nach links umgebogenen, weit ausgezogenen Unterlängen von Schaft-s und f sowie dem spitzovalen o kombiniert, ist für eine lateinische Versgrabschrift auf dem Epitaph Nr. 196 (1580, gemalt) verwendet.

Charakteristische Merkmale der Fraktur sind Schwellzüge und Schwellschäfte sowie die spitz­ovale Form der gebrochenen Bögen, a ist in der Regel einstöckig ausgeführt, f, h und Schaft-s wei­sen oft Unterlängen auf. Die sonst für diese Schrift kennzeichnende Betonung der Ober- und Unterlängen durch Schleifenbildung oder andere ausgeprägte Zierformen ist allerdings in den norddeutschen Beständen eher die Ausnahme. Die Fraktur findet sich in diesem Bestand – abge­sehen von den bereits erwähnten Frakturversalien in Kombination mit gotischer Minuskel in den Hausinschriften – ganz überwiegend in gemalten Inschriften auf Holz und Glas und bietet damit einerseits aufgrund der oft eher nachlässigen Ausführungsart, andererseits aufgrund möglicher Veränderungen durch Restaurierungen kaum Material für eine schriftgeschichtliche Auswertung. Generell sind hier in Fraktur nur deutschsprachige Inschriften ausgeführt, charakteristisch ist die auf den Epitaphien Nr. 175 (Hannoversch Münden, 1567) und Nr. 196 (Adelebsen, 1580) verwendete Kombination mit lateinischen Inschriften in Kapitalis bzw. in humani­stischer Minuskel mit Frakturelementen. Die beiden gemalten Frakturinschriften zeigen einzelne Verzierungen der Unterlängen durch Schleifenbildung.

Neben den gemalten Frakturinschriften gibt es wenige Beispiele für in Holz oder auf Metall ausgeführte Fraktur. Bei den Inschriften in Holz handelt es sich ausnahmslos um Hausinschriften, deren Frakturcharakter im Wesentlichen durch die Versalien bestimmt wird, während in der ver­gleichsweise einfachen Gestaltung der Minuskelbuchstaben noch lange Einflüsse der gotischen Minuskel erhalten bleiben. Als besonders deutliche Beispiele hierfür stehen die Duderstädter Hausinschriften Nr. 226 und Nr. 228 aus der Zeit um 1595, deren aus aufwendi­gem Schleifenornament bestehende, extrem breit ausgeführte Versalien in auffälligem Gegensatz zu den schmucklosen Minuskeln stehen. Lediglich die Mündener Hausinschriften Nr. 374 von 1640 zeigen eindeutige Frakturmerkmale in der Gestaltung der Ober- und Unterlängen. Zwei Grab­denkmäler in Eisenguß tragen ebenfalls Inschriften in Fraktur (Nr. 184/1574, Nr. 372/1639), von denen besonders auf die Reinhäuser Grabplatte Nr. 184 hinzuweisen ist, da die Schrift hier ausgeprägte Ober- und Unterlängen aufweist, f und Schaft-s sind spitz ausgezo­gen, [Druckseite 29] der geschwungene Bogen des h ist unter die Zeile geführt, u, v und w mit Oberlänge am linken Schaft. Bemerkenswert ist hier der über zwei Zeilen reichende, aus vielfach verschlungenen Orna­menten gebildete Versal E, der in seiner Gestaltung an Buchschrift erinnert. Besonders schmuck­voll sind auch die Frakturinschriften auf dem Mündener Kaufgildepokal ausgeführt (Nr. 318/1618), die gravierten Buchstaben sind vergleichsweise breit, die d mit weit nach links umgebogener Oberlänge, die h mit weit nach links unter den vorhergehenden Buchstaben ausge­zo­ge­nem und nach rechts umgebogenem Bogenende, die w mit geschwungenem Anstrich, so daß sich Groß- und Kleinbuchstabe nicht voneinander unterscheiden lassen.

Kapitalis

Entsprechend der zeitlichen Verteilung der Inschriften des Landkreises Göttingen ist die Renais­sancekapitalis die in diesem Bestand vorherrschende Schriftform, die sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in allen Inschriftengruppen durchsetzt. Sieht man von dem verschiedentlich schon zuvor in Kapitalis ausgeführten Titulus INRI ab, stecken die beiden frühesten Beispiele für Kapi­talis im Landkreis Göttingen aus dem Jahr 1527 (Nr. 42) und aus der Zeit nach 1525 (Nr. 142) den Rahmen ab, in dem sich die Ausführungen dieser Schrift in der Folgezeit bewegen werden. Während die Kapitalis der als Drittverwendung ausgeführten Inschrift einer Mündener Bürgergrabplatte (Nr. 42) unbeholfen und unregelmäßig eingehauen ist, trägt das Epi­taph für Herzog Erich I. (Nr. 142) eine künstlerisch durchgeformte Kapitalis, die für den süddeut­schen Bildhauer Loy Hering charakteristische Schriftmerkmale aufweist (vgl. Kommentar Nr. 142). Die breit proportionierte Schrift mit ausgeprägten Serifen ist eingehauen und weist kreisförmiges O und konisches M mit auf die Grundlinie herabgezogenem Mittelteil auf. Der nächste Beleg für Kapitalis, die von Cort Mente gegossene Bronzegrabplatte Erichs I. von 1541 (Nr. 145), trägt ebenfalls eine sehr sorg­fältig gestaltete, erhaben in vertiefter Zeile gegossene Kapitalis, deren breite Buchstabenbe­stand­teile der Schrift ein kompaktes Erscheinungs­bild verleihen. Die koni­schen M sind hier besonders breit gestaltet mit nur bis zur Mittellinie reichendem Mittelteil.

Auf diese drei Beispiele bleiben die ausführlicheren Kapitalisinschriften in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts beschränkt, mit der Inschrift auf der Mündener Grabplatte Nr. 158 aus dem Jahr 1551 beginnt aber eine dichte Überlieferung von Kapitalisinschriften, neben denen zunächst noch Inschriften in frühhumanistischer Kapitalis oder mit einzelnen Merkmalen dieser Schrift stehen. Der weit überwiegende Teil der in Holz und Stein ausgeführten Kapitalisinschriften ist erhaben ausgeführt, oft in vertiefter Zeile. Auch wenn viele dieser Inschriften regelmäßig gestaltet sind und durchgehende Stilmerkmale wie den Wechsel von Haar- und Schattenstrichen, Bogenverstärkungen und den Abschluß der Buchstabenbestandteile durch Serifen oder keilförmige Verstärkungen erkennen lassen, so orientieren sich doch die wenigsten an den klassischen Pro­portionen der Kapitalis, vielmehr sind die meisten Kapitalisinschriften eher schmal proportioniert. Eine Ausnahme bilden zwei Hausinschriften in Münden (Nr. 179/1570?, Nr. 188/1576) mit einer breiten Buchstabengestaltung, die kreisförmiges O und ent­sprechend gestaltetes C, G und Q aufweisen. In beiden Inschriften steht M mit senkrechten Hasten und bis auf die Grundlinie reichendem Mittelteil im Wechsel mit konischem M, ebenfalls mit bis auf die Grundlinie reichendem Mittelteil. Unter den schmaler proportionierten Kapitalis­inschriften sind die Inschriften auf dem Epitaph (Nr. 309) und der Grabplatte (Nr. 310) des Johann von Minnigerode von 1616 aufgrund ihrer besonderen Qualität hervor­zuheben. Hier handelt es sich um in den Stein eingehauene und mit einer Gipsmasse ausge­füllte Buchstaben, die den Eindruck von Intarsien geben. Die Buchstaben zeigen einen Wechsel von Haar- und Schat­tenstrichen sowie Bogenverstärkungen. Die Haarstriche sind ebenso wie die sorg­fältig gestalteten Serifen in sehr feiner Kerbe gehauen, die die Inschriften besonders elegant wirken läßt.

Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts kann man an den Duderstädter Kapitalisinschriften eine Sonderentwicklung beobachten, die sich sonst nur an einem weiteren Beispiel im Landkreis Göt­tingen belegen läßt (Nr. 268/1603, Beienrode). Im Jahr 1592 ließ die Stadt Duderstadt zwei aufwendige Wappentafeln außen an ihrem Rathaus anbringen (Nr. 217) mit Inschriften in einer sehr manierierten Kapitalis, die in einem Fall rechtsgeneigt, im anderen senk­recht ausgerichtet ist. Viele Hastenenden sind im Bogen nach links oben oder rechts unten ausge­zogen und reichen oft über den nächsten Buchstaben hinaus, die Hasten sind teilweise geschwun­gen. Bemerkenswert ist, daß Inschriften dieser Art an anderen Orten in Niedersachsen erst nach 1650 auftreten. Diese öffentlich angebrachten Inschriften wirkten aber in Duderstadt offenbar stil­bildend, [Druckseite 30]denn vor allem in den Hausinschriften der Folgezeit lassen sich hier die wesentlichen Merkmale dieser Kapitalisschriften, wenn auch in der einen oder anderen abgewandelten bzw. abgeschwächten Form, wiederfinden. So zeigen die Inschriften am Haus Hinterstr. 73 von 1600 (Nr. 240) dasselbe V und verschränktes W mit gebogenen und weit ausgezogenen Linksschräghasten sowie A und M mit weit nach unten ausgezogener, gebogener Rechtsschrägha­ste. V und verschränktes W finden sich in derselben Form auch am Haus Kurze Str. 28 von 1608 (Nr. 285), hier in Kombination mit epsilonförmigem E und konischem M mit oben nach links in einem großen Zierhäkchen endendem, nur bis zur Mittellinie reichendem Mittelteil und N mit nach rechts unten ausgezogener Schräghaste. Das bereits im Zusammenhang der Hausinschriften (S. 19) hervorgehobene Haus Marktstr. 84 (Nr. 324/1620) zeigt eine besonders eigenwillige Variante dieser Kapitalis, die hier als sehr groß ausgeführte – schon ein wenig überladen wirkende – Versalschrift mit tropfenförmigen Verzierungen, Zierhäk­chen und Nodi gestaltet ist. So zeigt das N im Wort NOS nicht nur zu Zierhäkchen nach links ausgezogene Enden der linken Haste, sondern eine mit einem durchbrochenen Nodus besetzte Schräghaste sowie eine oben gegabelte rechte Haste, deren unteres Ende so weit ausgezogen ist, daß es den folgenden Buchstaben O unterfängt und in einer Schleife in das S übergeht.

Abgesehen von Duderstadt, wo neben der eben beschriebenen Sonderform der Kapitalis auch weiter die schmucklosere, schmaler proportionierte Kapitalis in Gebrauch war, zeigen die Kapita­lis­inschriften im Landkreis Göttingen bis zum Ende des Bearbeitungszeitraums kaum Entwicklun­gen in der Buchstabengestaltung. Lediglich eine häufigere Verwendung von M mit senkrechten Hasten läßt sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts konstatieren, neben dem aber auch wei­terhin konisches M in Gebrauch ist, eine durchgängige U-Schreibung statt der üblichen V-Schrei­bung für den Vokal u bleibt bis zum Ende des Bearbeitungszeitraums die Ausnahme.

Zitationshinweis:

DI 66, Lkr. Göttingen, Einleitung, 5. Schriftformen (Sabine Wehking), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di066g012e000.