Die Inschriften des Landkreises Göttingen

2. DIE INSCHRIFTEN DES LANDKREISES GÖTTINGEN – ALLGEMEINE ENTWICKLUNGEN UND TERRITORIALE BESONDERHEITEN

Die Besonderheit der hier edierten Inschriften des Landkreises Göttingen besteht darin, daß es sich bei dem Bearbeitungsgebiet um drei Altkreise – Göttingen, Hannoversch Münden und Duderstadt – handelt, von denen die Altkreise Göttingen und Hannoversch Münden zum ehemals braunschweigischen und damit protestantisch geprägten Territorium gehörten, der Altkreis Duderstadt aber zum ehemals mainzischen und damit katholisch geprägten Territorium. Der seit dem 1. Januar 1973 bestehende Großkreis umfaßt neben den drei genannten Altkreisen noch weitere Orte, die im Zuge der Arrondierung aus anderen Landkreisen hinzukamen; als Inschriftenstandorte sind hier im Nordwesten des Bearbeitungsgebiets das ehemals zum Landkreis Northeim gehörende Adelebsen mit den Dörfern Barterode, Eberhausen, Erbsen und Güntersen zu nennen, im Nordosten das zum ehemaligen Landkreis Osterode gehörende Wollershausen. Während der Altkreis Göttingen nur mit vergleichsweise wenigen Dörfern und Inschriftenträgern in diesem Band vertreten ist, bilden die Ortschaften der beiden anderen Altkreise vor allem durch die beiden ehemaligen Kreisstädte die ganz unterschiedlich ausgeprägten Schwerpunkte dieses Bestands. Die Diskrepanz ergibt sich besonders im Vergleich der beiden großen Inschriftenstandorte – auf der einen Seite das von einer abgeschlossenen Oberschicht regierte Duderstadt weit ab von seinem katholischen Mainzer Landesherrn, auf der anderen Seite Münden, das durch die Residenz der Braunschweiger Herzöge und durch die Lage an einer wichtigen Wasserstraße gleichermaßen geprägt war.

Der Altkreis Duderstadt

Der Altkreis Duderstadt umfaßt das katholisch geprägte Untereichsfeld und setzt sich zusammen aus der Stadt Duderstadt mit ihren zugehörigen Dörfern, den sogenannten ‚Kespeldörfern’, dem großen Amt Gieboldehausen und dem kleinen Amt Lindau, zu dem außer Lindau nur die Dörfer Bilshausen, Bodensee und Renshausen gehörten. Inschriften aus dem Bearbeitungszeitraum finden sich im alten Amt Lindau nur in Bilshausen und in Bodensee, die mit drei Katalognummern kaum ins Gewicht fallen. Mehr Inschriften sind aus den zum Amt Gieboldehausen gehörenden Dörfern überliefert, der Amtssitz ist mit neun Katalognummern und einigen Baudaten vertreten, die Amtsdörfer jeweils mit nur ein oder zwei Inschriften. Den Schwerpunkt bilden die Inschriften der Stadt Duderstadt, die ein Sechstel des gesamten Bestands ausmachen.

Die heute unmittelbar an der niedersächsischen Landesgrenze gelegene Stadt Duderstadt1) ist erstmalig im Jahr 927 in einer Urkunde erwähnt, in der König Heinrich I. seine Gemahlin mit Witwengut unter anderem in Duderstadt ausstattete. Im Jahr 974 gelangte Duderstadt durch eine [Druckseite 12] Schenkung Ottos II. an dessen Schwester Mathilde, die Äbtissin des Stiftes St. Servatius in Quedlinburg. 1236 verkaufte das Stift Duderstadt an die Landgrafen von Thüringen, nach deren Aussterben es in den Besitz des Welfenhauses kam. Zu dieser Zeit hatte sich das am Kreuzungspunkt zweier wichtiger Verkehrswege gelegene Duderstadt bereits von einer curtis und einer angrenzenden Kaufleutesiedlung zu einer Stadt entwickelt, die durch die Braunschweiger Herzöge gefördert wurde. Chronischer Geldmangel zwang diese jedoch in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die Stadt zusammen mit dem Amt Gieboldehausen und weiteren Besitzungen in der sogenannten ‚Goldenen Mark’ an das Erzbistum Mainz zu verpfänden, das in diesem Gebiet um eine Arrondierung seines Territoriums bemüht war. Im Jahr 1342 gingen Duderstadt und das Amt Gieboldehausen durch Verkauf an das Erzstift Mainz über. Die sehr komplizierte Kaufabwicklung führte Mitte des 16. Jahrhunderts dazu, daß die Braunschweiger Herzöge Ansprüche auf ihre ehemaligen Besitzungen erhoben und diese vor dem Reichskammergericht einklagten. Der Prozeß zog sich bis zum Jahr 1692 hin, änderte aber nichts an der territorialen Zugehörigkeit Duderstadts und des Amtes Gieboldehausen zum Erzstift Mainz.2) Das kleine Amt Lindau kam nach verschiedenen Verpfändungen erst zu Beginn des 16. Jahrhunderts endgültig in den Besitz des Erzstifts Mainz.

Die ehemalige Zugehörigkeit zum Kurfürstentum Mainz bedingte eine konfessionelle Sonderentwicklung des Untereichsfelds im Vergleich zu den angrenzenden Gebieten. Unter dem Eindruck des sich in den benachbarten Territorien im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts durchsetzenden Protestantismus öffneten sich auch die Kirchen des Untereichsfelds um die Jahrhundertmitte protestantischen Predigern. Die Bürger der Stadt Duderstadt übernahmen hierbei eine führende Rolle und hatten eine gewisse Vorbildfunktion für die Einwohner der Dörfer.3) Offiziell blieb die Stadt Duderstadt, in der es schon in den 20er Jahren erste evangelische Predigten gegeben hatte, ebenso wie die Dörfer des Untereichsfelds bis zum Jahr 1559 katholisch. Die führenden Familien der Stadt hatten sich jedoch ebenso wie die in der Gegend ansässigen Adelsfamilien zu diesem Zeitpunkt bereits dem Protestantismus zugewandt. Noch bei einer 1549 von Mainz aus durchgeführten Kirchenvisitation gaben alle Geistlichen an, das Abendmahl nach dem katholischen Ritus zu halten. Nur zehn Jahre später baten dieselben Geistlichen die Regierung in Mainz darum, dem Druck der Bevölkerung nachgeben und das Abendmahl in beiderlei Gestalt reichen zu dürfen, da die Bevölkerung nicht mehr an katholischen Gottesdiensten teilnehme und für den Besuch evangelischer Gottesdienste auch weitere Wege nicht scheue. Zwar wurde dieses Ersuchen abschlägig beschieden, da sich die Mainzer Regierung jedoch in dieser Zeit kaum um das weit entfernt gelegene Eichsfeld kümmerte, wurde bald in sämtlichen Kirchen des Untereichsfelds evangelischer Gottesdienst gehalten. Kurz nach der Ernennung Daniel Brendels zum Mainzer Erzbischof begann 1574 die Durchführung der Gegenreformation im Untereichsfeld unter Einsetzung eigens zu diesem Zweck ausgebildeter Jesuiten. Zunächst scheiterte dieses Unterfangen jedoch am hartnäckigen Widerstand der Bevölkerung und führte erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts unter Androhung von Gewalt gegen jeden einzelnen Untertanen zu dem von der Mainzer Regierung gewünschten Ergebnis, jedenfalls was die Bevölkerung der Dörfer betraf. Viele Duderstädter Bürger hielten auch weiterhin am evangelischen Glauben fest und dokumentierten diese Haltung für jedermann deutlich sichtbar in den Inschriften an ihren Häusern (vgl. S. 18f.), auch wenn die Kirche St. Cyriakus nach längerem Hin und Her bereits 1579 endgültig wieder in katholische Hand gegeben werden mußte. Erst der Westfälische Frieden ermöglichte Mainz hier die endgültige Durchführung der Gegenreformation.4) Die Kirche St. Servatius wurde 1808 zur Zeit des Königreichs Westfalen wieder Mittelpunkt der evangelischen Gemeinde Duderstadts.

Auch heute noch wird das Bild Duderstadts geprägt durch die beiden großen Kirchen St. Cyriakus (Oberkirche) und St. Servatius (Unterkirche), das in verschiedenen Bauphasen seit dem 14. Jahrhundert errichtete und immer wieder erweiterte Rathaus sowie durch die erhaltenen bzw. rekonstruierten Teile des alten inneren Befestigungsrings, besonders durch das Westertor mit seiner charakteristischen gedrehten Dachkonstruktion. Sowohl die verschiedenen Bauphasen des Rathauses (zur seiner Baugeschichte vgl. Nr. 40) als auch die Erbauung des Westertors (vgl. Nr. 36) sind inschriftlich dokumentiert. Auch der Baubeginn von St. Cyriakus im Jahr 1394 ist inschriftlich festgehalten [Druckseite 13] (Nr. 22). Die beiden in ihrer heutigen Form im wesentlichen im 15. Jahrhundert errichteten spätgotischen Hallenkirchen St. Cyriakus und St. Servatius weisen beide große, inschriftlich datierte Schlußsteinprogramme auf (Nr. 23 u. 125). Allerdings sind die Schlußsteine von St. Servatius wie die ganze Kirche bei einem Großbrand im Jahr 1915 schwer beschädigt und in der Folgezeit weitgehend erneuert worden. Die Kirche erhielt eine Ausstattung im Jugendstil. Abgesehen von den Schlußsteinen hat St. Servatius heute nur noch zwei Grabdenkmäler aus dem Bearbeitungszeitraum aufzuweisen (Nr. 18 u. 397), von denen das außen angebrachte nahezu vollkommen verwittert ist, sowie zwei kopial überlieferte Inschriften von durch den Brand zerstörten Glocken (Nr. 32 u. 80). Das Fehlen weiterer Inschriften ist jedoch nicht auf den Brand zurückzuführen, sondern auf voraufgegangene Veränderungen des Kircheninneren, da auch die Inventare des 19. Jahrhunderts keine weiteren Inschriften verzeichnen. Dagegen hat St. Cyriakus mit 18 Katalognummern noch eine deutlich größere Zahl erhaltener Inschriftenträger aufzuweisen. Insgesamt fällt aber – vor allem im Vergleich zu Münden – die niedrige Zahl erhaltener Grabdenkmäler in den beiden Duderstädter Kirchen auf, die auch nicht durch eine kopiale Überlieferung ergänzt wird. Dies läßt darauf schließen, daß die Grabdenkmäler schon vor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus den beiden Kirchen entfernt worden sind. Trotz mehrfacher verheerender Stadtbrände – die beiden letzten in den Jahren 1911 und 1915 zerstörten weite Teile des Sackviertels – hat sich dagegen eine beträchtliche Zahl von Fachwerkhäusern mit Inschriften aus der Zeit vor 1650 erhalten (zu deren Besonderheiten vgl. Kap. 3, S. 17–19).

Viele Dorfkirchen des Untereichsfelds sind nach den Zerstörungen des Dreißigjährigen Kriegs zunächst notdürftig wiederhergestellt und dann in der Barockzeit erneuert worden. Dies hat zur Folge, daß sich hier – mit Ausnahme der Glocken und einiger an die Neubauten übernommener Tafeln mit Bauinschriften – nur wenige Inschriftenträger aus der Zeit vor 1650 erhalten haben. Da es in den Dörfern bis zum 19. Jahrhundert häufig zu Bränden kam, die ganze Straßenzüge zerstörten, gibt es hier wie auch in den anderen Altkreisen nur noch ganz vereinzelt Inschriften an privaten oder öffentlichen Gebäuden aus der Zeit vor 1650.

In jeder Beziehung eine Sonderstellung nimmt die Kirche in Wollershausen ein, die im Bearbeitungszeitraum zum braunschweigischen Territorium gehörte und unmittelbar an der Grenze zum Untereichsfeld lag. Eine enge Verbindung zum benachbarten Gieboldehausen ergab sich durch die Adelsfamilie von Minnigerode, die in beiden Orten Besitzungen hatte. Die von der Witwe des Johann von Minnigerode, Dorothea von Hanstein, unmittelbar nach 1611 umgebaute und als Familiengrablege bestimmte Kirche in Wollershausen bietet mit ihrer geschlossen erhaltenen Ausstattung aus der Erbauungszeit des Chors ein für den Landkreis Göttingen einzigartiges Ensemble von Inschriftenträgern (Nr. 306, 309, 310, 311, 312, 313, 322), zumal sich die beiden Grabdenkmäler für Johann von Minnigerode und seine Familie (Nr. 309 u. 310) durch ihre besonders hohe Qualität auszeichnen.

Der Altkreis Göttingen

Der Altkreis Göttingen setzte sich aus einer Vielzahl kleinerer Ämter und Herrschaften zusammen und umfaßte das die Stadt umgebende Gebiet mit weiter Ausdehnung nach Nordwesten und nach Süden. Eine Besonderheit unter den alten Herrschaftsbezirken stellt die Herrschaft Plesse dar, die nach dem Aussterben der Herren von Plesse in den Besitz der Landgrafen von Hessen kam (vgl. Nr. 180). Auf dieses alte Besitzverhältnis geht der Umstand zurück, daß die Kirchengemeinden dieses kleinen Gebiets noch heute evangelisch-reformiert sind. Die anderen Orte gehörten alle zum Territorium des ehemaligen braunschweigischen Fürstentums Calenberg-Göttingen. Hier führte Herzogin Elisabeth, die Witwe Herzog Erichs I., während der Vormundschaftsregierung für ihren Sohn mit Hilfe von Antonius Corvinus 1542 die evangelisch-lutherische Kirchenordnung ein.5) Erich II., der nach erlangter Volljährigkeit zum katholischen Glauben übertrat, verfügte allerdings für sein Fürstentum, daß die Gemeinden selbstverantwortlich über ihren Glauben entscheiden sollten und daß den Klöstern in dieser Sache vollständige Freiheit eingeräumt werden sollte. Abgesehen von wenigen Klöstern blieben die Gemeinden jedoch evangelisch. Nach der Übernahme der Regierung durch Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel im Jahr 1584 wurde auch in sämtlichen Klöstern endgültig die Reformation durchgeführt.

Für das Zisterzienserinnenkloster Mariengarten und für das Benediktinerkloster Reinhausen, die beide mit Inschriften in diesem Band vertreten sind, bedeutete das Jahr 1542 die Auflösung der Konvente und den Übergang des Klosterbesitzes in landesherrliche Verwaltung. Während die ehemalige Klosterkirche in Mariengarten bis auf zwei Grabplatten (Nr. 172 u. 176) ihrer alten Innenausstattung beraubt ist, haben sich in der Kirche in Reinhausen durch die Nutzung als Gemeindekirche bedeutende Teile ihrer alten Innenausstattung erhalten, darunter ein als Wandmalereiprogramm ausgeführter Christophoruszyklus (Nr. 49) und zwei spätgotische Altäre (Nr. 82 u. 114). Die Burg Plesse, der ehemalige Sitz der Herren von Plesse, besteht heute nur noch als Ruine und hat lediglich eine kopial überlieferte Inschrift aufzuweisen (Nr. 180). Dagegen ist die Errichtung der verschiedenen zu der großen Burganlage der Familie von Adelebsen gehörenden Gebäude durch Bauinschriften und Baudaten dokumentiert (Nr. 229, 234 u. 341). Zwei große Epitaphien für Mitglieder der Familie (Nr. 196 u. 279) prägen den Chor der Adelebser Kirche, in der auch noch zwei Grabplatten (Nr. 197 u. 267) aus der ehemaligen Familiengrablege erhalten sind. Eine bedeutende Adelsgrablege ging mit dem Neubau der Kirche in Kerstlingerode in den Jahren 1857/8 endgültig verloren, die Grabdenkmäler der Familie von Kerstlingerode (Nr. 269, 321, 379) befanden sich aber vermutlich zu diesem Zeitpunkt bereits in einem stark verfallenen Zustand. Von den Ausstattungsgegenständen, die die Familie stiftete, haben sich ein Kelch und eine Patene erhalten (Nr. 377 u. 378), die Inschriften weiterer Stücke sind kopial überliefert.

Der Altkreis Münden

Die Grenzen des Altkreises Münden folgten dem Verlauf der Weser und Fulda sowie im Süden der hessischen Landesgrenze. Der Altkreis umschloß im wesentlichen das alte (Ober)amt und die Stadt Münden, die Klosterämter Bursfelde und Hilwartshausen und das Gericht Jühnde. Kirchengeschichtlich gilt hier dasselbe wie für die ehemals braunschweigischen Gebiete des Altkreises Göttingen.

Zur Entstehungsgeschichte Mündens gibt es mangels sicherer Urkundenbelege verschiedene Theorien, von denen sich die Annahme Heinemeyers, es handle sich um eine Gründung der Landgrafen von Hessen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, als die plausibelste inzwischen allgemein durchgesetzt hat.5)Die erste urkundliche Erwähnung Mündens fällt in das Jahr 1183, 1247 wurde der Stadt vom Braunschweiger Herzog Otto dem Kind das Stapelrecht verliehen. Dieses resultierte aus der Lage Mündens am Zusammenfluß von Werra und Fulda zur Weser und dem sogenannten ‚Werrahohl’, einem Gefälle zwischen Werra und Fulda, das die Schiffer zum vorübergehenden Entladen ihrer Waren zwang, um den Höhenunterschied mit niedrigerem Tiefgang der Schiffe zu überwinden. Münden war daher ein wichtiger Warenumschlagplatz. Zusätzliche Bedeutung erhielt es dadurch, daß die Braunschweiger Herzöge die im Nordosten der Stadt auf einer Anhöhe über der Werra gelegene Burg seit Ende des 15. Jahrhunderts als Residenz nutzten und zu diesem Zweck ausbauten. Die Funktion als Residenzstadt behielt Münden bis zum Tod Erichs II. im Jahr 1584. Allerdings hielten sich weder Erich I. noch Erich II. längere Zeit in Münden auf, auch wenn Erich II. beträchtliche Mittel für den Wiederaufbau des 1560 abgebrannten Schlosses aufwandte (zur Baugeschichte vgl. Nr. 166).

Die Bedeutung der Schiffahrt für die Stadt wuchs ab der Mitte des 16. Jahrhunderts, zumindest was die Zahl der Schiffer und ihrer Fahrten betraf, die sich bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts etwa verdoppelte.6)Im Jahr 1592 gründeten die Mündener Schiffer eine Gilde, um ihre Angelegenheiten besser regeln zu können. Allen Mündener Bürgern war es gestattet, ein Schiff zu besitzen; sofern sie nicht Gildemitglied waren, unterlagen sie aber nach Gründung der Gilde Transportbeschränkungen.7) Die Häuser der Schiffer lagen besonders in der Ziegelstraße, der Siebenturmstraße, [Druckseite 15] der Petersilienstraße, der Hinterstraße und der Tanzwerderstraße in der Nähe der Umschlagplätze.8) Auch während des Dreißigjährigen Kriegs waren lediglich die äußeren Bedingungen der Schiffahrt erschwert, das Kriegsgeschehen änderte aber nichts an dem lebhaften Schiffsverkehr.9)

Daß die Stadt in der zweiten Hälfte des 16. wie auch im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts wirtschaftlich florierte, dokumentiert die private und öffentliche Bautätigkeit, besonders der 1604/5 errichtete repräsentative Rathausbau (zur Baugeschichte vgl. Nr. 276). Als Ende des Mündener Wohlstands gilt allgemein der Überfall Tillys auf die Stadt am 26. Mai 1626, bei dem nach einem Bericht des Rates 787 Bürger zu Tode gekommen und 200 Bürger verletzt worden sein sollen. Wenn man davon ausgeht, daß Münden vor 1626 zwischen 2500 und 3000 Einwohnern hatte,9) hätte sich die Zahl der Toten immerhin auf ein Drittel bzw. ein Viertel der gesamten Bevölkerung belaufen. Den Schaden an verwüsteten Bürgerhäusern bezifferte der Rat auf 20526 Taler, den Schaden an Schiffen und deren Zubehör auf 6463 Taler.10) Eigenartig an diesen Angaben ist allerdings der Umstand, daß in den verschiedenen aus der Zeit unmittelbar nach 1626 überlieferten städtischen und kirchlichen Quellen im wesentlichen dieselben Personen genannt sind wie vor dem Überfall und daß sich in der Mündener Altstadt ein großer Häuserbestand aus der Zeit vor 1626 ebenso wie das Rathaus unversehrt erhalten hat. Dies legt zumindest den Verdacht nahe, daß der sehr stark dramatisierende und vermutlich um allgemeine Greueltopoi der Zeit bereicherte Bericht des Mündener Rates, der offenbar auch die zu Tode gekommenen Militärpersonen in die Zahl der Bürger einrechnete, von späteren Generationen allzu wörtlich genommen wurde. Sicher belegt ist lediglich, daß die Explosion des Pulverturms die Ägidienkirche und die umliegenden Häuser zerstörte. Tatsächlich wurde Münden im Dreißigjährigen Krieg wie die anderen Ortschaften des Landkreises auch durch die ständigen Kontributionszahlungen und Einquartierungen wirtschaftlich wesentlich geschwächt. Um ihre Glocken behalten zu können, mußte die Stadt nach der Einnahme im Jahr 1626 eine Summe von 1000 Reichstalern an den im Feldlager vor Göttingen (vgl. A4 Nr. 6) liegenden Grafen von Fürstenberg zahlen.11)

Die Inschriften der Stadt Münden machen mit 145 Katalogartikeln ein Drittel des gesamten Bestands dieses Bandes aus. Von den 145 Nummern entfällt ein gutes Drittel auf die Inschriften der Kirche St. Blasius, darunter eine größere Zahl im Original erhaltener Grabdenkmäler. Während die Kirche St. Ägidien, die 1626 beim Überfall Tillys auf die Stadt zerstört und erst 1684 wiederaufgebaut wurde, kaum mehr Inschriftenträger aus dem Bearbeitungszeitraum aufzuweisen hat, dokumentieren die Inschriften von St. Blasius verschiedene Baumaßnahmen an der Kirche (hierzu vgl. Nr. 71) und die öfter wiederkehrenden Hochwasser (Nr. 9, 160, 382) ebenso wie die Funktion der Kirche als herzogliche Grablege und Stadtkirche für Bürger und Hofbedienstete. Eine größere Zahl bis dahin unbekannter Grabplatten und Fragmente wurde erst 1973 im Zuge einer umfangreichen Grabung in der Kirche aufgefunden. Ein weiteres Drittel der Mündener Inschriften entfällt auf die in Fachwerk errichteten Bürgerhäuser der Stadt. Weitere Schwerpunkte bilden das 1560 durch einen großen Brand zerstörte und in den folgenden Jahrzehnten wiederaufgebaute Schloß sowie das 1604/5 errichtete Rathaus.

Zum Altkreis Münden gehören das ehemalige Benediktinerkloster Bursfelde und das ehemalige Augustinerinnenkloster Hilwartshausen. In beiden Klöstern wurde nach der Übernahme der Regierung durch Herzog Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel gegen Ende des 16. Jahrhunderts die Reformation durchgeführt. Das Kloster Hilwartshausen wurde im Dreißigjährigen Krieg weitgehend zerstört. Inschriftlich dokumentiert ist es hier durch die älteste – nur noch kopial überlieferte – Inschrift dieses Bestands (Nr. 1), die sich am Altar der Klosterkirche befunden haben soll, auf dem Wappenglas einer Äbtissin (Nr. 227) sowie in Inschriften an Ausstattungsstücken der durch die Hilwartshäuser Äbtissin in den Jahren 1610–12 umgebauten Kirche in Gimte (vgl. Nr. 294 u. 298). Anders als Hilwartshausen ist die romanische Kirche des Klosters Bursfelde, das durch die Gründung der ‚Bursfelder Kongregation’ Mitte des 15. Jahrhunderts Ausgangspunkt einer bedeutenden Reformbewegung wurde, gut erhalten (zur Gründungsgeschichte vgl. Nr. 147). Allerdings wurde die dreischiffige Basilika im 19. Jahrhundert dadurch stark verändert, daß man [Druckseite 16] zwischen dem großen dreigeteilten Chor und dem Kirchenschiff zwei Mauern einzog und die Kirche damit in eine durch einen Mittelgang getrennte West- und Ostkirche unterteilte. Die anderen Gebäude auf dem Klosterareal, die stark verfallen waren, wurden seit dem 18. Jahrhundert erneuert. Hier haben sich keine Inschriften aus der Blütezeit des Klosters erhalten, aber auch in der Kirche selbst finden sich heute nur noch zwei Inschriftenträger aus dieser Zeit. Das Stiftergrab für Heinrich von Northeim (Nr. 47) dürfte ebenso aus der Zeit der Reformbewegung Mitte des 15. Jahrhunderts stammen wie das erst bei der Restaurierung der Kirche 1902/3 entdeckte bedeutende Wandmalereiprogramm (Nr. 59) in der Westkirche.

Die übrigen Ortschaften im Altkreis Münden haben wie die Dörfer der anderen Altkreise jeweils nur wenige Inschriftenträger aus dem Bearbeitungszeitraum aufzuweisen, bei denen es sich fast ausnahmslos um Ausstattungsstücke der Kirchen handelt. Während aus den anderen Altkreisen keine Flurdenkmäler überliefert sind, haben sich im Steinbachtal bei Münden zwei Kreuzsteine erhalten (Nr. 304 u. 305), ein Steinkreuz aus der Umgebung von Varmissen (Nr. 13) gehört heute zum Bestand des Städtischen Museums Göttingen, zwei weitere Steine aus der Umgebung von Meensen sind heute nicht mehr auffindbar, ihre Inschriften aber kopial überliefert (Nr. 262 u. 387).

Zitationshinweis:

DI 66, Lkr. Göttingen, Einleitung, 2. Die Inschriften des Landkreises Göttingen – Allgemeine Entwicklungen und territoriale Besonderheiten (Sabine Wehking), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di066g012e000.

  1. Zur Geschichte der Stadt Duderstadt: Ritter, Ratsherren, S. 14–17. Zur Geschichte des Altkreises: Lufen, Altkreis Duderstadt, S. 18–21 u. S. 91–94. »
  2. Hierzu ausführlich Wehking, Amt Gieboldehausen, S. 25–29 u. S. 115–123. »
  3. Hierzu und zum folgenden ausführlich Wehking, Amt Gieboldehausen, S. 84–109. »
  4. Knieb, Reformation, passim. Die auf einer akribischen Quellenauswertung beruhende Darstellung Kniebs ist trotz der erzkatholischen Haltung des Verfassers immer noch das maßgebliche Werk zur Reformation und Gegenreformation auf dem Eichsfeld. Vgl. a. Haase, Die Evangelischen, S. 32–66. »
  5. Karl Heinemeyer, Die Gründung der Stadt Münden. Ein Beitrag zur Geschichte des hessisch-niedersächsischen Grenzgebietes im hohen Mittelalter. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 23, 1973, S. 114–230. Einen Überblick über die Geschichte Mündens bieten Gerhardy, Rathaus, S. 166ff., u. Lufen, Altkreis Münden, S. 116–120. »
  6. Veronika Albrink, Das Mündener Schiffergewerbe im 17. und 18. Jahrhundert, Magisterarbeit Phil. Fak. der Universität Göttingen 1990, masch. Manuskript in StA Hann. Münden, A 18, S. 24. »
  7. Ebd., S. 45. »
  8. Ebd., S. 147. »
  9. Ritter, Ratsherren, S. 93. »
  10. HSTA Hannover, Cal. Br. 8, Nr. 1240, fol. 1f. »
  11. StA Hann. Münden, MR XI-1-2. »