Die Inschriften des Landkreises Göppingen
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 41: Göppingen (1996)
Nr. 5 Geislingen-Altenstadt, Lindenhof, Oberböhringer Str. 5 1. H. 13. Jh., 2. H. 13. Jh. (?)
Beschreibung
Wandmalereifragment mit Darstellung einer Stifterin (?) mit Namenbeischrift und später eingeritzter Kritzelinschrift. Im Erdgeschoß, Ostwand des Speisesaals. Aus der ehem. Pfarrkirche St. Michael1, die 1582 großenteils wegen Baufälligkeit abgebrochen wurde. Für das an derselben Stelle errichtete ev. Pfarrhaus wurden Teile des Baus wiederverwendet. Das Gebäude diente dann von 1822–80 als Revierförsterhaus und ist seither in Privatbesitz. Wiederholte Umbauten haben die ältere Bausubstanz zerstört. Bei Baumaßnahmen 1961 wurde die Wandmalerei entdeckt, abgelöst, mit einem Holzrahmen versehen und an dem jetzigen Standort angebracht2. Erhalten ist der Oberkörper einer stehenden oder wohl eher knienden Frau, die sich nach rechts wendet und in den erhobenen Händen einen flachen Korb darreicht, dessen Inhalt nicht mehr kenntlich ist. Bekleidet ist sie mit einem langen Gewand, Mantel und Gebende3. Über dem Kopf fragmentarische Namenbeischrift (A). Rechts unter der Figur noch einige nicht mehr deutbare parallel verlaufende waagerechte und senkrechte Linien und dunklere Farbflächen sowie eine nachträglich in den Putz eingeritzte, nur mehr teilweise lesbare Kritzelinschrift (B). Inschrift (A) stellenweise bei der Restaurierung ergänzt (Ergänzungen durch Strichelung kenntlich gemacht).
Maße: H. (Rest) 124,5, B. 66, Bu. 5,3–7,0 (A), 1,6–2,0 cm (B).
Schriftart(en): Romanische Majuskel (A), gotische Minuskel ohne Brechungen, flüchtige Ausführung (B).
- A
HAEDEW[…a)
- B
C̣e[. .]ṇteb) mụsc) / ḷc̣ịp̣ị[…
Textkritischer Apparat
- Obere Hälfte des ersten E und Haste des D ergänzt.
- Statt C vielleicht Cl zu lesen. Nach dem ersten e wohl m oder w.
- Langes s; statt u vielleicht ei zu lesen.
Anmerkungen
- Ab 1275 (Pleban bereits 1241) bezeugte romanische Wehrkirche, angelegt nahe dem Burgspitz der helfensteinischen Ministerialenfamilie von Geislingen (urk. bis 1296). Hummel, Wandmalereien Kr. Göppingen 97 vermutet als Anbringungsort den Chorbogen der Kirche.
- Hummel, ebd. gibt fälschlich das Jahr 1962 an, vgl. aber die Fundmeldung: H. Schellhammer, St. Hedwig-Verehrung im Schwabenland, in: Schles. Rundschau 13 (1961) Nr. 10 (1961 III 2) 5.
- Die flache Kappe wird von Hummel, Wandmalereien Kr. Göppingen 97 unzutreffend als „Herzogshut“ bezeichnet.
- Die entsprechende Bildung des oberen Balkens beim ersten E ist sicherlich erst Ergebnis der Restaurierung. Das zweite E weist jedenfalls die übliche Balkenform mit linksschrägem Sporn auf.
- Faltenstil; Gebende als für das 13. Jahrhundert, vor allem für dessen erste Hälfte typische Kopfbedeckung der Frauen (einer der letzten Belege: um 1310, Glasmalerei aus Konstanz, vgl. CVMA Baden/Pfalz Abb. 24). Für wetvolle Hinweise zur kunsthistorischen Einordnung danke ich meiner Kollegin Dr. Anneliese Seeliger-Zeiss.
- Zur Entwicklung der gotischen Schriften im 12. und 13. Jahrhundert vgl. Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache. I: Vom späten 12. Jh. bis um 1300, Text- und Tafelbd., Wiesbaden 1987.
- Zu ihr grundlegend Joseph Gottschalk (wie unten) sowie ders., Hedwigsdarstellungen außerhalb Schlesiens, in: Archiv für schles. Kirchengesch. 10 (1952) 19–29; ders., Mittelalterliche Hedwigs-Erinnerungen, ebd. 14 (1956) 208–219; ders., die älteste Bilderhandschrift mit den Quellen zum Leben der hl. Hedwig, in: Aachener Kundtbll. d. Museumsvereins 34 (1967) 61–161 und der Ausstellungskatalog Herzöge und Heilige. Das Geschlecht der Andechs-Meranier im europäischen Hochmittelalter, hg. v. Josef Kirmeier u. Evamaria Brockhoff. Kat. z. Landesausst. im Kloster Andechs 13. Juli–24. Okt. 1993 (Veröff. zur Bayer. Gesch. u. Kultur 24/93), München 1993, 242–248. – Zuletzt: Das Bild der heiligen Hedwig in Mittelalter und Neuzeit, hg. v. Eckhard Grunewald u. Nikolaus Gussone (Schriften d. Bundesinstituts f. ostdeutsche Kultur u. Gesch. 7), München 1996; darin der Beitrag von Romuald Kaczmarek, Das Bild der heiligen Hedwig. Zeugnisse in der Kunst vom 13. bis zum 18. Jahrhundert 137–158, mit dem berechtigten Zweifel (140) an der Identifizierung der Darstellung in der „ehemaligen Klosterkirche bei Geislingen“ (!) als hl. Hedwig.
- Vgl. allerdings das Hildesheimer Reliquiar für die Reliquien Kaiser Heinrichs II. aus der Zeit um 1170 (jetzt Paris, Louvre, Inv.-Nr. OA 49), auf dem die hll. Sigmund, Eugeus und Oswald sämtlich ohne Nimbus dargestellt sind. Den Hinweis verdanke ich der freundl. Mitteilung von Frau Dr. Christine Wulf, Göttingen.
- Abwegig die Angaben bei Hummel, Wandmalereien Kr. Göppingen 97: „Die Heilige ist ohne Nimbus dargestellt, worin aber kein Hinweis dafür zu sehen ist, daß das Bild vor der Heiligsprechung (1276) [!] entstanden ist“. Hummel deutet den Korb „ähnlich wie bei der hl. Elisabeth als Zeichen ihrer Mildtätigkeit gegenüber den Armen“.
Nachweise
- H. Schellhammer, St. Hedwig-Verehrung im Schwabenland, in: Schles. Rundschau 13 (1961) Nr. 10 (1961 III 2) 5 (dat. spätes 14. Jh.).
- Joseph Gottschalk, St. Hedwig. Herzogin von Schlesien (Forschungen u. Quellen zur Kirchen- u. Kulturgesch. Ostdeutschlands 2), Köln Graz 1964, 310.
- Ders., Hedwig von Andechs – Herzogin von Schlesien. Eine Botin des Friedens, Freiburg Basel Wien o.J., 17, 91.
- Akermann, Kunstwerke im LKr. Göppingen 52f. (m. Abb.).
- Ders., Neue Schätze alter Kunst.
- Heribert Hummel, Ein schwäbisches Hedwigsbild aus dem frühen 14. Jahrhundert, in: Archiv f. schles. Kirchengesch. 38 (1980) 195–204, Taf. 4.
- Ders., Wandmalereien Kr. Göppingen 97, Abb. 12.
- Gotik an Fils und Lauter 72 Abb. 30.
- Albert Kley, Der Lindenhof, in: Von Gizelingen zum Ulmer Tor. Spurensuche im mittelalterlichen Geislingen. Begleitheft zur Weihnachtsausst. 1993 in der Galerie im Alten Bau Geislingen/Steige, Geislingen 1993, 29–36, hier: 29f. (m. Abb.).
Zitierhinweis:
DI 41, Göppingen, Nr. 5 (Harald Drös), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di041h012k0000500.
Kommentar
Die Inschrift besteht ausschließlich aus kapitalen Buchstaben, A hat einen langen Deckbalken und einen geknickten Mittelbalken. Die auffällig schmalen Hasten verbreitern sich an den Enden keilförmig, beim Buchstaben H nur zu mäßig großen Dreiecken. Etwas kräftiger ist lediglich die Bogenlinie des D ausgeführt, ohne aber eine Bogenschwellung auszubilden. Der untere Balken des E ist merkwürdig nach oben umgebogen, so daß der Sporn fast waagerecht zu liegen kommt. Im ersten Fall wurde die Lösung offenbar gewählt, um der Darstellung darunter auszuweichen (der Kopf ragt in die Schriftzeile), das zweite E wurde dann wohl analog dazu gebildet4. Der dünnstrichige Duktus, das Fehlen unzialer Formen – die gerade bei D, E und H schon früh und häufig auftreten – und die relativ schwachen Schaft- und Balkenverstärkungen rechtfertigen es, die Inschrift noch als romanische Majuskel anzusprechen, typische Elemente der gotischen Majuskel wie Bogenschwellungen und Buchstabenabschlüsse fehlen noch völlig. Ein Vergleich mit gemalten Inschriften des südwestdeutschen Raums auf Glasfenstern und (nur spärlich erhaltenen) Wandmalereien sowie mit Inschriften auf Goldschmiedearbeiten macht eine Ansetzung der Geislinger Inschrift in die 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts wahrscheinlich. Dazu paßt der stilistische Befund der Malerei5.
Auch die nachträglich angebrachte Ritzinschrift dürfte ihrem Duktus nach (schlanke Buchstabenformen, fehlende Brechungen, e mit langer, schräg nach oben geführter „Zunge“) noch aus dem 13. Jahrhundert stammen. Ein sinnvoller Text läßt sich allerdings nicht mehr rekonstruieren, so daß der Zweck dieser Inschrift unklar bleibt6.
Wer die bildlich Dargestellte und inschriftlich Bezeichnete ist, läßt sich nicht mehr klären. Vermutlich handelt es sich um eine Stifterin oder Wohltäterin der Altenstädter Pfarrkirche, jedenfalls entspricht die Darstellung der für Stifterbilder üblichen Konzeption. Vielleicht gehörte die Frau dem 1296 letztmals urkundlich bezeugten Dienstmannengeschlecht von Geislingen oder aber der Grafenfamilie von Helfenstein, deren Genealogie im 13. Jahrhundert erst unzureichend erforscht ist, an. Mit Sicherheit ist die bislang vertretene Ansicht zurückzuweisen, die Dargestellte sei die hl. Hedwig von Andechs, Herzogin von Schlesien7. Nicht nur fehlen die üblichen typischen Attribute der Heiligen, das Paar Schuhe oder die Muttergottesfigur, vor allem fehlt der Heiligenschein8. Und die Frühdatierung der Wandmalerei schließt diese Identifizierung ohnehin aus, denn Hedwig von Schlesien starb erst 1243 und wurde 1267 heiliggesprochen9.