Inschriftenkatalog: Landkreis Calw

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 30: Landkreis Calw (1992)

Nr. 160 Hirsau, Marienkapelle nach 1498

Beschreibung

Deckplatte vom Hochgrab des hl. Bischofs Aurelius. An der Südwand der Kapelle. Ursprünglicher Standort in der zerstörten Peter-und-Paul-Kirche hinter dem Hochaltar1. Hochrechteckige Platte aus grauem Sandstein. Eingetieftes Mittelfeld, von Astwerk gerahmt, darin Relief des Bischofs mit Mitra und Pedum, das Haupt von einem Nimbus umgeben. Inschrift auf dem abgeschrägten Rand umlaufend, Beginn auf der linken Seitenleiste, von außen ablesbar. Die Platte ist im oberen Drittel durchgebrochen, an den Rändern unter Schriftverlust beschädigt.

Maße: H. 199, B. 97, Bu. 8 cm.

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis.

© Heidelberger Akademie der Wissenschaften [1/2]

  1. ANNO · BENIGNITATIS · OCTINGENTESIMO · TRICESIMO · / ALMI · P(RAE)SVL(I)S · AVRELII · / VENERA(N)DO · CORPOREa) · DE · YTALIA T(RA)NSLATO · EST · EIDE(M) · HIRSAVGIA · SV/SCIPIE(N)DOb) · FVNDATA

Übersetzung:

Nachdem im Jahre der Gnade 830 der ehrwürde Leib des großen Bischofs Aurelius aus Italien überführt worden war, wurde zu seiner Aufnahme Hirsau gegründet.

Kommentar

Die Schrift zeigt überwiegend Kapitalisbuchstaben mit stark historisierenden Elementen in der Art der frühhumanistischen Kapitalis: Enklaven (bei EST stehen S und T in den Bögen des unzialen E, C hat einmal I und einmal O eingeschrieben), Ligatur wie TA, dargestellt durch einen breiten Deckstrich des A, AV, NE, TR, ein langes F in FVNDATA, ein langes S in SVSCIPIENDO und in TRANSLATO. Der Text ist keine Grabschrift, sondern eine Stiftungsinschrift für die Klostergründung des Jahres 830. Ihr Wortlaut und ebenso die Kapitalis mit offenbar bewußtem Rückgriff auf Schriften des 12. Jahrhunderts (eckiges C in TRICESIMO) lassen die Vermutung zu, daß Trithemius an ihrer Abfassung beteiligt war; die Rückbesinnung auf die Gründungszeit wird auch in anderen Inschriften dokumentiert (vgl. nrr. 135, 141, 145).

Die Überführung der Reliquien des hl. Aurelius aus Mailand nach Hirsau auf Veranlassung Bischof Notings von Vercelli berichtet zuerst die Vita prior S. Aurelii (c. 12), ihr folgend die auf Veranlassung Abt Wilhelms von Hirsau verfaßte Vita Aurelii des Williram von Ebersberg2. Eine Überführung der Reliquien aus dem Kloster an der Nagold in das 1091 eingeweihte Kloster St. Peter und Paul ist nicht bezeugt. Eine Entnahme von Einzelpartikeln zur Niederlegung im Hochaltar 1091 steht dazu nicht im Widerspruch3. Erst 1488, nach dem Anschluß Hirsaus an die Bursfelder Reform, soll – nach der Überlieferung bei Trithemius – Abt Blasius Schelltrub die Reliquien geborgen haben: ‚sacra eius ossa de tumulo levans, ne humiditate nimia computrescent, loco sicciore ac dentiore summa pietate locavit‘4. Die Überlieferung bei Trithemius verdient Glauben, zumal er in jenen Jahren häufiger als Gast im Kloster weilte. Für das Jahr 1498 bezeugt Trithemius eine Öffnung der aus der Aurelius-Kirche überführten Tumba (hier wohl: des Sarges): ‚(Abt Blasius) tumbam S. Aurelii pontificis aperuit, ossa eius cum magna reverentia extraxit et conspicienda fratribus ostendit; deinde (missa) … celebrata reposuit sacra busta in cryptam retro summum altare, ubi prius iacuerat, loco mundato pulchriusque ornato‘5.

Diese Quellenzitate ergeben ein ziemlich genaues Bild: 1488 wurde das Reliquienbehältnis überführt, offenbar ohne größere Feierlichkeiten. Zehn Jahre später erst entnahm man die Reliquien, hielt eine feierliche Reliquienweisung und eine Messe vor dem Konvent und setzte danach die Reliquien hinter dem Hochaltar bei; eine angehängte schedula enthielt die Namen der Konventangehörigen und sollte offenbar als Authentikum dienen. Auffallend ist hier die Anknüpfung an die liturgischen Riten bei Reliquientranslationen und -ostensionen im hohen Mittelalter. Die Lokalisierung in cryptam retro summum altare ist hier nicht als selbständiger Bauteil zu verstehen, sondern bezeichnet eine Beisetzung unter dem Kirchenfußboden hinter dem Hochaltar6. Die Umschreibung ‚loco mundato pulchriusque ornato‘ dürfte sich auf die Ausstattung des Grabes beziehen und damit die neu angefertigte Deckplatte für das Tischgrab bezeichnen. Ein Zeitansatz nach 1498 und vor 1507 dürfte auch nach kunsthistorischen Kriterien der Ausführung der Skulptur entsprechen.

Eine singuläre Überlieferung bei Parsimonius besagt, daß 1584 Nov. 14 ‚Sant Aurelij grabstein aus der Kirchen des alten Closters, weil solche Kirch vff fürstlichen bevelch abgebrochen worden, herein in die Kirchen des newen Klosters, damitt er zur gedechtnus behalten werde, gefürt, vnd hinder den hohen Altar gesetzt worden‘; die Inschrift des Parsimonius entspricht vorliegendem Text7. Der Schluß, die spätgotische Figurenplatte sei für St. Aurelius gefertigt worden und erst 1584 nach St. Peter und Paul gekommen, läßt sich trotzdem schwer halten; er würde bedingen, daß man nach 1584 für einen katholischen Heiligen und Kirchenpatron ein Hochgrab in einer evangelischen Klosterkirche errichtete, obwohl in gleichem Zusammenhang der Bericht der herzoglichen Baukommission davon spricht, daß ‚noch der Zeit also heimblicher weiß dem Aurelio geopffert, vnnd also ketzerei gesucht würdt‘. Das ist kaum nachvollziehbar. Die Wahrscheinlichkeit spricht sogar dafür, daß es einen eigentlichen Grabstein in der Aurelius-Kirche nicht gab, weil die Aurelius-Reliquien – wie im 11. Jahrhundert üblich – im Hochaltar beigesetzt waren. Eine Memorientafel, eine Gedenkplatte o. ä. könnte aber den Wortlaut des hier wiedergegebenen Textes in der Aurelius-Kirche überliefert haben; die Übernahme einer solchen älteren Inschrift auf ein neues Denkmal (d. h. hier die figürliche Platte) ist an sich nicht außergewöhnlich und zu belegen8. Ein alter und relativ unscheinbarer Stein ohne bildliche Darstellung – der frühere Träger der Inschrift – konnte auch in St. Aurelius verbleiben, nachdem 1557 Graf Wilhelm Werner von Zimmern die Aurelius-Reliquien zunächst nach Herrenzimmern und später nach Hechingen transloziert hatte9. Erst als die Aurelius-Kirche vor dem Abbruch stand, wurde dann wohl der Grabstein, der noch gelegentlich von heimlichen Anhängern des alten Glaubens besucht wurde, auf Rat der herzoglichen Baukommission ‚allein von Alters wegen‘ in die Peter-und-Pauls-Kirche überführt. Bereits diese Formulierung spricht gegen eine Gleichsetzung des überführten Denkmals mit der Figurenplatte. Möglicherweise legitimierte Parsimonius mit der Nachricht von der Überführung des Steins auf Rat der Baukommission die Bewahrung und Erhaltung eines viel aufwendigeren Heiligen-Denkmals in einem evangelischen Gotteshaus10.

Textkritischer Apparat

  1. O in C eingeschrieben.
  2. I in C eingeschrieben.

Anmerkungen

  1. Dieser Standort belegt bei Parsimonius, ihm folgend Crusius, vgl. Anm. 7. Nach der Zerstörung des Klosters wurde der Stein offenbar aus den Ruinen gerettet; 1860 stand er an der Südseite der Sakristei: OAB Calw S. 229.
  2. BHL p. 819–821; AASS Nov. IV p. 128–142. – Vgl. aber auch im Codex Hirsaugiensis den ersten Gründungsbericht, dem die Inschrift im Wortlaut verpflichtet scheint (‚corpus sancti Aurelii … de Ytalia translatum est, et Hirsaugia primum fundata‘), s. Schmid, Stifter S. 23, 63.
  3. Vgl. AASS Nov. IV p. 133; Codex Hirsaugiensis, ed. Schneider S. 21f. – Zur Terminologie ossa bzw. corpus auch für Teile von Heiligenleibern vgl. zuletzt Martin Heinzelmann, Translationsberichte und andere Quellen des Reliquienkultes (= Typologie des sources Fasc. 33) Turnhout 1979, S. 20ff. (mit Belegen).
  4. Annales Hirsaugienses II p. 533.
  5. Ebd. p. 572.
  6. So belegt auch bei Rainolt fol. 116v: ‚Aliud retro altare, loco ubi Evangelium canitur, elevatum ex lapide cui insculptus S. Aurelius episcopus‘ (danach der Inschrift-Text). – Eine Nachzeichnung bringt HStAStuttgart J 1–416 (Beilage 2) fol. 15r. – Der Standort hinter dem Hochaltar (‚post (retro) summum altare‘) als bevorzugter Platz für Heiligengräber wird ausführlich belegt bei Heinzelmann (wie Anm. 3) S. 29f. – Ob die ergrabenen Reste eines Schachtes im Chor der St.-Peter-und-Pauls-Kirche dem Reliquienbehälter hinter dem Hochaltar zuzuordnen sind, mithin die crypta darstellen, läßt sich vorläufig nicht belegen, hat aber einige Wahrscheinlichkeit für sich.
  7. Parsimonius fol. 129. – Crusius, Annales Suevici Lib. XII partis III p. 792 übernimmt die Angabe des Parsimonius.
  8. Vgl. DI XIV (Mannheim–Sinsheim) nrr. 6 und 7.
  9. Darüber AASS. Nov. IV p. 133.
  10. Vgl. dazu HStAStuttgart, 1584 Best. A 28441/42, Hirsau, Kloster- und Forstverwaltung Bü 370. – Die vorübergehende Wiederbelebung gottesdienstlicher Gebräuche um 1468 kann kaum die Aufstellung eines aufwendigen Heiligen-Denkmals und eines ebenso aufwendigen Stifterdenkmals für Graf Erlafried begründen. – Irtenkauf 1957, S. 271 vertritt zwar (zurückgehend auf Weizsäcker, Baugeschichte S. 30) die Annahme, beide Denkmäler seien ursprünglich für St. Aurelius geschaffen worden, zitiert aber ebenfalls nur die Parsimonius-Berichte. Es liegt m. E. auf der Hand, daß in der Aurelius-Kirche ein Stifterdenkmal für Erlafried (unbekannt welcher Art) und ein Gedenkstein für den Kirchenpatron vorhanden gewesen sein müssen; die Rückbesinnung auf die Vergangenheit des Klosters, wie sie sich in St. Peter und Paul seit dem Spätmittelalter dokumentiert, mußte aber Denkmäler gerade da setzen, wo sie nicht vorhanden waren, d. h. hier in St. Peter und Paul.

Nachweise

  1. Parsimonius fol. 130v.
  2. Rainolt fol. 116v.
  3. Crusius, Annales Suevici Lib. XII partis III, p. 792.
  4. Klemm, in: Bes. lit. Beilage Staatsanzeiger 1881, S. 234.
  5. OAB Calw S. 229.
  6. Bach, Grabdenkmale S. 119.
  7. Weizsäcker, Baugeschichte S. 30.

Zitierhinweis:
DI 30, Landkreis Calw, Nr. 160 (Renate Neumüllers-Klauser), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di030h010k0016007.