Inschriftenkatalog: Landkreis Calw

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 30: Landkreis Calw (1992)

Nr. 143† Kloster Hirsau, Klosterkirche St. Peter und Paul 12. Jh./ vor 1492

Beschreibung

Versepitaph für Abt Wilhelm von Hirsau. Nach einem Zeugnis aus dem Jahr 1492 aufgehängt am Vierungspfeiler über dem Tumbengrab (nr. 4). Ausführung unbekannt, vermutlich nicht in Stein gehauen, sondern geschrieben auf eine mit Pergament überzogene Holztafel1.

Wortlaut nach Vita Wilhelmi.

  1. Hac in scriptura Willelme patet tua vita.Cunctis ut speculum praelucet vita bonorum,Ut quivis doctus proprios hinc corrigat actus,Quid sit vitandum discernens quidve gerendum.

    5 More quidem speculi radiat pia vita beatiPatris Willelmi virtutum lumine clari.Exultet talis genitrix Bawaria prolis,Suevia se tantum letetur habere patronum.Norica quem prolem, tulit hunc Hirsaugia patrem,

    10 Felix per talem pastorem spiritualem,Patrem multorum per doctrinam genitorum.Moribus egregius fuit et virtutibus almus,Perfectam plebem Domino sacravit et aedemVobis, Aureli, Petre, Paule, patres venerandi.

    15 Cellam Gregori tibi fundans atque Georgi.Pluraque sanctorum loca disponens aliorum.Struxit et instruxit, quia recto tramite duxit.Collapsam dudum vitam reparans monachorum.Quadruvii priscos transcendit et ipse magistros.

    20 Cantibus errorem varium correxit ad artem.Terrarum metas scrutans et temporis horas.Ac numeros abaci vidit tam mente sagaci.Artibus his illi queat ut vix quis similari.Quod verbis docuit operum virtute probavit.

    25 Pauperibus, viduis, claudis caecis, peregrinis,Infirmis, sanis, quocumque dolore gravatisProspera providit, contraria quaeque removit.Simplex et rectus, simul omnibus omnia factus.Christe tibi vivus, mundo vere crucifixus.

    30 Postquam per plures pro te sudavit agones.Defunctus, tecum iam vivit semper in aevum.Anno milleno complevit et nonageno,Quarto Nonas Iulii, hic petens defossa sepulcri,Sic defunctus tecum iam felix vivit in aevum

    35 Pater is venerandus, et vir cuncta laude precandusInclyte Wilhelme, pater virtutibus redimite,Alma fac nunc prece, liberemur ut a tristi neceCorporis et animae, hic Deo famulantes devote,Obambulando tumbam, tibi patri colendo paratam.

    40 Bona illic dentur, unde nostrae mentes purgentur,Ubi es nobiscum, dulci somno exspectans ChristumSupreme venturum, et iustis bona vitae daturum.Wilhelmi abbatis ah! nos vita iungat beatisSoli me post tui autem, dans videre claritati,

    45 Chorum cum turma, qui caelica sunt super astra,More Deum laudantes, et dulci sono iubilantes,Per paradisi prata volvendo carmina lata,Regi regum Domino qui throno illic sedet in alto,Valeat vox laudis, in aevum sic semper mansuris. Amen.

Übersetzung:

In dieser Schrift, Wilhelm, liegt dein Leben (jedem Leser) offen. Vor aller Augen glänzt wie ein Spiegel das Leben der Guten, damit ein jeder davon belehrt werde und sein eigenes Handeln danach bessere und unterscheide, was zu meiden und was zu tun sei. (5) So leuchtet nach Art eines Spiegels das fromme Leben des seligen Vaters Wilhelm, der vom Glanz der Tugenden erstrahlt. Es juble Bayern, die Erzeugerin eines solchen Sprößlings, Schwaben freue sich, einen so großen Patron zu haben. Norischer Herkunft war er, Hirsau hatte ihn zum Vater, (10) glücklich durch solch einen geistlichen Hirten, den Vater vieler Söhne durch seine Lehrtätigkeit. Hervorragend an Sitten war er, an Tugenden reich, ein vollkommenes Volk weihte er dem Herrn und ein vollkommenes Haus (sc. Kirche) euch, den verehrungswürdigen Vätern Aurelius, Petrus und Paulus. (15) Dir, Gregor, gründete er eine Zelle (Klosterreichenbach) und dir, Georg (St. Georgen). Auch für manche anderen Heiligen ordnete er die Stätten (der Verehrung) neu, baute und stattete sie aus, indem er das längst der Reform bedürftige Mönchtum auf den rechten Weg leitete. In der Kunst des Quadriviums übertraf er die alten Meister (20) und berichtigte mannigfache Versehen der Kunst gemäß in den Gesängen, er erforschte die Grenzen der Länder, die Stunden der Zeit(rechnung), die Zahlen des Rechenbretts (über)blickte er mit so scharfem Verstand, daß in diesen Künsten kaum jemand ihm gleichkommen kann. Was er in Worten lehrte, bewährte er durch die Tugend der Werke: (25) den Armen, den Witwen, den Blinden, den Lahmen, den Pilgern, den Kranken wie den Gesunden: von welchem Schmerz sie auch immer geplagt waren, er sorgte für ihren Vorteil, beseitigte alle Nachteile. Ehrlich und rechtschaffen hat er gleichzeitig für alle alles getan und dir, Christus, gelebt, wahrhaft der Welt gekreuzigt; (30) nachdem er in vielen Kämpfen sich für dich mühte, ist er dahingeschieden und lebt nun mit dir glücklich für immer in Ewigkeit. Im Jahr 1091, am 4. Tag vor den Nonen des Juli (Juli 4) vollendete er (seinen Lebenslauf) und begehrte hier die Tiefe des Grabes. So lebt er nun, dahingeschieden, mit dir glücklich in Ewigkeit (35), der ehrwürdige Vater, mit jeglichem Lob zu preisende Mann. Ruhmreicher Wilhelm, mit Tugenden bekränzter Vater, bewirke durch deine gütige Fürbitte, daß wir befreit werden vom schmerzlichen Tod des Leibes und der Seele, wir, die hier Gott ergeben dienen und das Grabmal umschreiten, das zu deiner Verehrung, Vater, errichtet ist. (40) Hier möge uns die Gnade geschenkt werden, kraft derer unsere Herzen gereinigt werden an dem Orte, wo du bei uns bist, in süßem Schlaf Christus erwartend, der am Ende wiederkehren wird und den Gerechten die Güter des Lebens schenken wird. Das Leben des Abtes Wilhelm möge uns, oh, mit den Seligen verbinden, (45) den Chor mit der Heerschar, die über den himmlischen Sternen weilen, nach dem Brauche Gott preisend und mit süßem Klang jubilierend, indem sie durch die Paradiesesfluren ihre Lieder weithin erschallen lassen für den König der Könige, der dort auf hohem Throne sitzt. Möge die Stimme des Lobes Kraft haben, so daß wir in Ewigkeit so bleiben werden. Amen.

Kommentar

Die Überlieferung des Vers-Epitaphs für Abt Wilhelm von Hirsau schließt in den Handschriften des 12. Jahrhunderts an die Vita des Haimo (?) an (Vers 1–31); die 18 Hexameter des zweiten Teils (AnnoAmen) sind eine spätere Hinzufügung, die sich deutlich vom ersten Teil abheben2. Die Hexameter folgen keinen quantitierenden Regeln, sie lassen sich allenfalls als akzentuierende Verse (Dreiheber mit weiblichem Schluß, Dreiheber mit Auftakt und weiblichem Schluß, freie Senkungen, Endreim) verstehen. Inhaltlich haben sie eher den Tenor eines gemeinschaftlichen Gebetes an den als Seligen verehrten Abt (bei einer Prozession um das Hochgrab in der Mitte der Kirche? – vgl. Vers 39), während Vers 1–31 sich als versifizierte Lebensbeschreibung charakterisieren läßt, die aber möglicherweise auch zur öffentlichen Lesung bei den Seelenmessen bestimmt war3. Ob die Verse 1–31 vor dem Spätmittelalter je real als Inschrift ausgeführt waren, muß offenbleiben. Die Anbringung des gesamten Vers-Epitaphs bezeugt Wilhelm Wittwer, Mönch von St. Ulrich und Afra in Augsburg, der 1492 während einer Wildbader Kur Hirsau besuchte und die damals noch erhaltene Inschrift (‚pendens apud eius sepulchrum‘) abschrieb4. Für die Entstehungszeit kommt als terminus post quem am ehesten die Zeit der Einführung der Bursfelder Reform (1458) in Frage, mit der eine Wiederbesinnung auf die Zeit der klösterlichen Anfänge und erneute Pflege wissenschaftlicher Interessen verbunden war5. Über die spezifische Ausführung der Tafel sind nur Vermutungen möglich. Eine Einmeißelung von 49 Hexametern in Stein ist unwahrscheinlich, in Minuskelschrift allerdings nicht auszuschließen6. Denkbar ist aber auch eine schreibschriftliche Fassung auf Pergament, das auf eine Holztafel gespannt und über dem Grab aufgehängt wurde. Im Spätmittelalter sind solche Tafeln häufiger bezeugt und auch in Originalen erhalten7.

Anmerkungen

  1. Weizsäcker, Baugeschichte S. 31 möchte den nordöstlichen Vierungspfeiler als Standort in Anspruch nehmen.
  2. Vgl. auch Weizsäcker (wie Anm. 1) und Manitius, Die lateinische Literatur des Mittelalters III S. 571f. – Der Anschluß an den ersten Teil erfolgte durch Weglassung von Vers 31, dessen zweiter Teil in Vers 34 wieder aufgenommen wurde; vgl. dazu MG SS XII p. 209–225 zur Überlieferung der Handschriften und den Lesarten. – Korrupt ist offenbar Vers 44.
  3. Zum öffentlichen Vortrag von Grabepigrammen vgl. Hengstl, Totenklage S. 16f.
  4. Über ihn Rolf Schmidt, Reichenau und St. Gallen. Ihre literarische Überlieferung zur Zeit des Klosterhumanismus in St. Ulrich und Afra zu Augsburg um 1500. Sigmaringen 1985, S. 9, 32 und passim. Wilhelm Wittwer war als Klosterchronist ein Vertreter des ‚Klosterhumanismus‘, d. h. auch der Rückbesinnung auf die klösterliche Vergangenheit und darin durchaus Trithemius vergleichbar. Das erklärt – und eine Verbindung zu seinem Namenspatron? – vielleicht sein Interesse an der Abschrift der Tafel. – Die Überlieferung des Wilhelm Wittwer beschrieben in MG SS XII unter 5.
  5. Irtenkauf, Hirsau S. 34ff. – Vgl. auch nrr. 135, 141.
  6. Eine vergleichbar lange Inschrift ist nachgewiesen auf einem Epitaph in Stein in der Katharinenkirche in Oppenheim in DI 23 (Oppenheim) nr. 231 (1598).
  7. Vgl. dazu Hartmut Boockmann, Über Schrifttafeln in mittelalterlichen Kirchen, in: Deutsches Archiv 40 (1984) S. 210–224. – Eine deutliche Parallele wäre die Lebensbeschreibung des Bruders Reiner auf einer pergamentbespannten Holztafel in Osnabrück: DI 26 (Stadt Osnabrück) nr. 49 (1465).

Nachweise

  1. MG SS XII p. 224 sq.
  2. Weizsäcker, Baugeschichte S. 31f.

Zitierhinweis:
DI 30, Landkreis Calw, Nr. 143† (Renate Neumüllers-Klauser), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di030h010k0014306.