Inschriftenkatalog: Landkreis Bergstraße

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 38: Bergstraße (1994)

Nr. 78 Neckarsteinach, Evangelische Kirche 1498

Beschreibung

Zwei Fürbittinschriften und eine Bibelparaphrase mit Spruch auf einer Glocke. Sie gehört zu einem Dreiergeläut und hängt auf der Südseite des Turms. Die auf der Schulter der Glocke umlaufende Inschrift (A) wird durch einen Fries aus stehenden, mit Bögen verbundenen Lilien bekrönt, zwischen denen kleine Kreuzblumen stehen. Die zweite Inschrift (B) befindet sich zwischen Stegen auf der Flanke. Am Ende des Textes ist ein Gießerstempel angebracht, der ein Wappen mit einer Glocke und eine unleserliche Umschrift aufweist. Dahinter beginnt ein Kettenfries, der sich bis zum Anfang der Inschrift hinzieht. Inschrift (C) läuft zwischen einfachen Stegen auf dem Schlag um. Bei den Inschriften (A) und (C) werden die Textanfänge durch eine weisende Hand markiert. Als Worttrenner dienen in (A) paragraphenförmig ausgezogene Quadrangeln und in (B) und (C) auf einem Dreibein stehende kleine Blumentöpfe. In der Unterzone der Flanke trägt die Glocke vier Reliefs: eine Kreuzigungsgruppe auf einem vierstufigen Sockel, der aus dem Worttrennungsornament der Inschrift (A) aufgebaut ist, zweimal die Muttergottes mit Kind, von einer unleserlichen Umschrift gerahmt und noch einmal dieselbe Darstellung ohne Umschrift.

Maße: H. 79, Dm. 74, Bu. 3,5 (A), 2 (B, C) cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel.

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Thomas G. Tempel) [1/9]

  1. A

    ihesvs · nazarenvs · rex · ivdeorvm · miserere · nobis · amen · m · cccc · lxxxxviii · ior

  2. B

    archangele · dei · michael · nvncivs · svmi · ora · pro · nobis · in · conspectv · domini · allelvya

  3. C

    dimissa · svnt · marie · magdalene · peccata · multa · quoniam · dilexit · mvltvm1) · qve · pro · nobis · digvetvra) · prefari · dominvm · mentem · sanctam · spontaneam · honorem · deo · et · patrieb)2)

Übersetzung:

Jesus von Nazareth, König der Juden, erbarme dich unser, Amen.(A)

Erzengel Michael, Bote des höchsten Gottes, bitte für uns im Angesicht des Herrn, halleluja.(B)

Maria Magdalena wurden viele Sünden vergeben, weil sie viel geliebt hat, und sie will für uns den Herrn, den unschuldigen und freien Sinn und die Ehre für Gott und das Vaterland verkünden.(C)

Kommentar

Die für die Inschrift verwendete Bandminuskel ist jener auf der Glocke der evangelischen Thomaskirche in Kleinsteinbach (Lkrs. Karlsruhe) sehr ähnlich, die von Hans Lamprecht aus Deneuvre gegossen wurde. Besonders auffällig ist das x, das an ein schreibschriftliches c mit durchstrichenem Bogen erinnert, sowie die völlige Übereinstimmung der bei (A) verwendeten Worttrenner und der weisenden Hand sowie des Kettenfrieses. Auch der aus dem Worttrennungsornament aufgebaute vierstufige Sockel zeigt eine große Verwandtschaft mit jenem auf der Glocke aus Kleinsteinbach. Aufgrund dieser Übereinstimmungen kann man vermuten, daß die Glocke entweder von Hans Lamprecht selbst oder von einem seiner Schüler stammt.3) Auch mit der Neckarsteinacher Glocke von 1556 hat die Glocke von 1498 viele Merkmale gemeinsam.4)

Während es sich bei den Inschriften (A) und (B) um Fürbitten handelt, sind in der Inschrift (C) eine Bibelparaphrase und ein Spruch miteinander verbunden. Der erste Teil der Inschrift bis mvltvm bezieht sich auf den Bericht im Lukasevangelium, wonach eine Sünderin Jesus mit ihren Tränen und mit Salböl die Füße wusch und sie mit ihren Haaren trocknete. Dafür wurden ihr die Sünden vergeben. Diese Frau wurde seit Gregor d. Gr. mit Maria Magdalena identifiziert.5)

Der zweite Teil der Inschrift ab qve bezieht sich auf die Glocke selbst und beschreibt ihre Funktion. Die Formulierung mentem sanctam spontaneam honorem deo et patriae liberationem stammt ursprünglich aus dem Kult der heiligen Agathe, die man seit dem Ende des 10. Jahrhunderts gegen Brand, Blitzschlag und Fegefeuer anrief.6) Wegen dieser Verbindung wurde der Spruch zu Anfang des 13. Jahrhunderts für Glockeninschriften verwendet, da die Glocken durch ihr Läuten ebenfalls solche Bedrohungen abwenden sollten. Der Text findet sich auf französischen, italienischen und spanischen Glocken7), ist aber auf deutschen Glocken bis 1498 nicht nachweisbar. Im vorliegenden Fall ist er auf Maria Magdalena umgedeutet worden, womit sich auch eine Veränderung des Sinngehalts ergibt. Während in den anderen Fällen mit dieser Inschrift der Schutz der hl. Agathe vor Unglücksfällen angerufen wurde, wird hier durch die Erweiterung des Textes die Funktion der Glocke mit jener der Maria Magdalena identifiziert. Das prefari Dominum, die Verkündigung des Herrn, bezieht sich somit darauf, daß Maria als erste den Jüngern die Auferstehung Christi verkündigte.8)

Das mentem sanctam spontaneam steht in diesem veränderten Kontext möglicherweise für die geistige Haltung der Heiligen, die von jedem schlechten Gedanken frei ist. Das Läuten soll die Christen dazu auffordern, es ihr gleich zu tun.

Textkritischer Apparat

  1. So statt dignetur.
  2. Hier ist das in der Vorlage stehende liberationem weggelassen worden, vgl. dazu R. Favreau, Mentem sanctam, spontaneam, honorem Deo et patriae liberationem. Epigraphie et mentalités, in: J. Stiennon, Mélanges, Liège 1982, 235-244, hier 237f. und den Kommentar.

Anmerkungen

  1. Lc. 7,37-38.
  2. Bei Schneider 79 und Möller/Krauß 91 wird diese Inschrift fälschlich der Neckarsteinacher Glocke von 1556 zugeordnet.
  3. Zu Hans Lamprecht vgl. Deutscher Glockenatlas Baden 22 und 331f. mit Abb. 87-89. Vgl. auch DI 20 (Kreis Karlsruhe) Nr. 59.
  4. Vgl. dazu Nr. 142.
  5. J. Michl, Maria Magdalena, in: LThK 7 (1962) 39.
  6. Favreau [wie Anm. b] 237-239.
  7. Favreau [wie Anm. b] 239f.
  8. Mt. 28,1-8; Mc. 16,1-9; Lc. 24,10; Io. 20,11-17.

Nachweise

  1. Schneider, Beiträge 79f.
  2. Pfaff, Heidelberg 302.
  3. Möller/Krauß, Neckarsteinach 91f.

Zitierhinweis:
DI 38, Bergstraße, Nr. 78 (Sebastian Scholz), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di038mz04k0007804.