Inschriftenkatalog: Landkreis Bergstraße

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 38: Bergstraße (1994)

Nr. 39 Lorsch, Torhalle E.14.Jh.-A.15.Jh.?

Beschreibung

Interzessionsinschriften mit einer Interzessionsdarstellung an der oberen Hälfte der Südwand. Die Darstellungen sind im wesentlichen nur noch in den Vorzeichnungen erhalten. Von der ursprünglichen Farbfassung sind lediglich Reste zu erkennen. Die Malerei nimmt die ganze Breite der Südwand ein. Links ist Maria dargestellt, die ihre Brust Christus vorweist. Die Figur ist stark verblaßt, und das sich um sie herumziehende Schriftband ist unleserlich. Neben Maria steht Christus als Schmerzensmann in einen Mantel gehüllt. Sein von einem Kreuznimbus umgebenes, dornenbekröntes Haupt neigt er zu Maria hin. Die Hände mit den Nagelwunden sind gut erkennbar. Die Rechte streckt er Maria entgegen, mit der Linken weist er auf seine Seitenwunde. Auf dem die Darstellung umgebenden Schriftband (A) sind nur noch wenige Buchstaben zu entziffern. Es folgt eine Szene mit Gottvater, neben dem rechts der nur mit einem Lendentuch bekleidete Christus kniet. Der mit einem Kreuznimbus umgebene Kopf Gottes ist nach rechts geneigt, und die linke Hand streckt der Vater zu dem knienden Christus hin, während die Rechte auf der Brust ruht. Möglicherweise war die Figur auf einer Bank sitzend dargestellt. Christus zeigt Gott die Wundmale seiner Hände, die Arme in starrem Orantengestus erhoben. Das Gottvater umgebende Schriftband (B) ist stark verblaßt, so daß auch hier nur wenige Buchstaben klar zu erkennen sind. Dasselbe gilt für ein kreisförmiges Schriftband rechts neben dem knienden Christus (C). Auf allen Schriftbändern sind gotische Minuskeln in schwarzer Farbe und paragraphenförmige Worttrenner verwendet worden.

Maße: Bu. 5 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel.

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Susanne Kern) [1/5]

  1. A

    [...]rs[..] · an · vns · [...]ren · [.]e[...]r[...] · dr[...] · [...]

  2. B

    [...] · dv · mv[s] · ha)[.]r[...] · da[.] · [...]

  3. C

    [...wi]r [a]lle · svnder · sin · [...]

Kommentar

Die Schrift ist so verblaßt, daß eine Lesung des Textes nur noch an wenigen Stellen möglich ist. Erschwert wird die Lesung zudem durch die im Sommer 1934 vorgenommenen Restaurierungsversuche einzelner Buchstaben durch H. Velte.1) Der Vergleich der leider nur noch bruchstückhaft erhaltenen Originalpausen Veltes2) mit dem heute sichtbaren Zustand der Schriftbänder zeigt, daß Velte an einigen Stellen versucht hat, Reste von Hasten einzelner Buchstaben zu ergänzen, was jedoch als mißglückt bezeichnet werden muß. Die hier wiedergegebene Lesung erfolgte unter Einbeziehung der Pausen.3)

Die wenigen Buchstaben, die im Zusammenhang entziffert werden können, lassen erkennen, daß die Inschriften in deutscher Sprache verfaßt waren. Auch die vermutlich zeitgleiche Wandmalerei mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts in der katholischen Kirche von Eltville (Rheingau) zeigt die Reste eines Schriftbandes in deutscher Sprache.4) Hans Schupp setzt aufgrund seines Vergleiches der gotischen Ausmalung der Torhalle mit der Eltviller Chorbogenausmalung und insbesondere mit der Ausmalung der Ostwand sowie des Kapellenerkers des Heppenheimer Kurfürstensaals die Entstehung der Lorscher Malerei zwischen 1397 und 1400 an.5) Zudem geht er von einer Ausführung der drei Wandmalereien durch eine Werkstatt aus.6)

Um 1400 war nicht nur die lateinische Version des speculum humanae salvationis (SHS = Heilsspiegel) schon weit verbreitet,7) durch dessen 39. Kapitel die Interzession hauptsächlich bekannt wurde,8) sondern es lagen bereits deutsche Übersetzungen in Prosa und in Versform vor.9) Die Fürbitte für die Menschen durch Christus und Maria wird im Heilsspiegel in zwei Szenen dargestellt. In den Handschriften des 14. Jahrhunderts hält Christus dem in der Mandorla dargestellten Gottvater die Wundmale seiner Hände als Fürbitte für die Menschen entgegen. In einer anderen Abbildung zeigt Maria ihre Brust dem von der Mandorla umgebenen Christus.10) In späteren Handschriften ändern sich die Darstellungsformen teilweise. So steht in einer Speyerer Handschrift von 1475 Christus als Schmerzensmann vor Maria.11)

Für die Darstellung in der Lorscher Wandmalerei hat der aus zwei Szenen bestehende Aufbau der Interzession im Heilsspiegel als Vorlage gedient.12) Sollte der Zeitansatz um 1400 richtig sein, weicht die Lorscher Wandmalerei allerdings in einigen Details von der zu jener Zeit in den Handschriften vorherrschenden Darstellungsform ab. So zeigt Maria Christus als Schmerzensmann ihre Brust, Gottvater ist von einem Schriftband statt von einer Mandorla umgeben, und Christus kniet vor ihm. Nach den Textfragmenten zu urteilen, sind die Lorscher Inschriften weder Übersetzungen des 39. Kapitels des SHS13) noch Übersetzungen bekannter Bildbeischriften aus den Handschriften.14) Inschrift (C) läßt jedoch erkennen, daß der entscheidende Gedanke des 39. Kapitels des SHS – die Sünden der Menschen und ihre Vergebung – hier frei paraphrasiert worden ist. Einen endgültigen Aufschluß über eventuelle Vorlagen und damit auch über die Zeitstellung kann aber nur ein Vergleich mit allen Handschriften, insbesondere den deutschsprachigen, bringen, der hier nicht geleistet werden kann.

Textkritischer Apparat

  1. Auch b möglich.

Anmerkungen

  1. Vgl. Behn, Karolingische Klosterkirche 83.
  2. Die Pausen Veltes wurden erst kürzlich von Herrn Erwin Wagner, Verwaltung der staatlichen Schlösser und Gärten, Lorsch, wiederentdeckt und mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
  3. Bei der Entzifferung des Textes gewährte mir Herr Dr. Rüdiger Fuchs, Mainz, seine freundliche Hilfe.
  4. Vgl. DI Rheingau-Taunus-Kreis.
  5. H. Schupp, Die gotischen Wandmalereien in der Königshalle zu Lorsch, in: Laurissa Jubilans, Lorsch 1964, 135-144, bes. 140-143.
  6. Ebd.
  7. Vgl. die Zusammenstellung der lateinischen Handschriften bei Speculum Humanae Salvationis I, edd. J. Lutz/P. Perdrizet, Leipzig 1907, IX-XVII.
  8. D. Koepplin, Interzession, in: LCI 2 (1970) 346.
  9. Lutz/Perdrizet [wie Anm.7] 103f. und 337.
  10. Vgl. z.B. die Darstellung in der Handschrift Historisches Archiv Köln W5* 105, 132 u. 134 (2.H.14.Jh.), vgl. J. Vennebusch, Die Theologischen Handschriften des Stadtarchivs Köln. Teil 5. Handschriften des Bestandes W5* und Fragmente, Köln-Wien 1989, 38, mit weiterführender Literatur. Vgl. die Münchner Handschrift clm. 146 (Mitte 14.Jh.) bei Speculum Humanae Salvationis II, edd. J. Lutz/P. Perdrizet, Leipzig 1909, Taf. 77 u. 78 sowie die Abbildung bei K.-A. Wirth, Auf den Spuren einer frühen Heilsspiegel-Handschrift vom Oberrhein, in: Jahrbuch des Zentralinstituts für Kunstgeschichte I (1985) 115-204, hier 120, 179, 182f. Zum SHS vgl. E. Breitenbach, Speculum humanae salvationis, Straßburg 1930, 262f.
  11. Abb. bei A. Henry (Ed.), The Mirors of Man‘s Saluacioun, Aldershot 1986, 196. Eine andere Form bei Paris, Bibl. Nat. Franc. 6275 (15. Jh.), Abb. bei Lutz/Perdrizet [wie Anm. 7] Taf. 135.
  12. Freundlicher Hinweis von Frau Susanne Kern, Mainz.
  13. Text bei Lutz/Perdrizet [wie Anm. 7] 80f.
  14. Vgl. dazu Wirth [wie Anm. 10] 178 mit Anm. 193.

Zitierhinweis:
DI 38, Bergstraße, Nr. 39 (Sebastian Scholz), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di038mz04k0003906.