Inschriftenkatalog: Landkreis Bergstraße

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 38: Bergstraße (1994)

Nr. 9† Lorsch, Klosterkirche 1090

Beschreibung

Gedenkinschrift für den Märtyrer Nazarius auf einer Bleitafel. Die heute verlorene Tafel wurde bei den Aufräumarbeiten nach dem Brand von 1090 im Schutt der Kirche gefunden.

Nach Chronicon Laurishamense.

  1. S(an)c(tu)s Nazarius Mediolani passus

Übersetzung:

Der heilige Nazarius, der in Mailand gelitten hat.

Kommentar

Am 21. März 1090 wurde bei der Sonnwendfeier durch eine Unachtsamkeit bei dem Spiel mit Feuerrädern die Klosterkirche in Brand gesetzt und stark zerstört. Darauf wurde von verschiedenen Seiten behauptet, das Kloster besitze die Reliquien des Märtyrers Nazarius in Wirklichkeit überhaupt nicht, da dieser ein solches Unglück nicht zugelassen hätte. Der Konvent fühlte sich unter Druck gesetzt und ließ im Schutt der Kirche nach den Gebeinen des Nazarius suchen. Nach anfänglichen Mißerfolgen fand man schließlich einen Marmorsarkophag und darin einen Bleisarg, der den Körper des Märtyrers enthielt. Auf seiner Brust lag die Bleitafel mit der Inschrift.1)

Es gibt zwei Märtyrer mit dem Namen Nazarius: zum einen den Römer Nazarius, der in der Regel zusammen mit den Märtyrern Basilides, Cyrinus und Nabor genannt wird, und deren Gedenktag der 12. Juni ist, zum anderen den Mailänder Nazarius, dessen zusammen mit Celsus am 28. Juli gedacht wird. Der Tag ihrer Inventio ist jedoch der 12. Juni, was zu Verwechslungen mit dem Römer Nazarius führen konnte.2)

Das älteste Lorscher Kalendar, dessen Einträge aus der Zeit zwischen 780 und 784 stammen,3) führt zum 13. Juni (!) Basilides, Cyrinus, Nabor und Nazarius an.4) Diese vier nennt auch das gegen Ende des 9. Jahrhunderts enstandene Lorscher Kalendar aus Cod. Pal. lat. 485 richtig zum 12. Juni.5) Die vier Namen enthält ebenso das wohl noch dem 11. Jahrhundert zugehörige Kalendar aus Cod. Pal. lat. 499, wobei dort Nazarius an erster Stelle steht und durch Majuskelschrift in roter Farbe hervorgehoben ist.6) Die Märtyrer Nazarius und Celsus finden sich in keinem der drei Kalendare.

Auch nach den Zeugnissen Theodulfs von Orléans, der Fortsetzung der Annales Petaviani und der Annales Laurissenses minores hatte Lorsch im Jahr 765 die Reliquien des römischen Märtyrers Nazarius erhalten.7) Das geben auch die Martyrologien des Hrabanus Maurus und des Notker Balbulus an.8) Da die Bibliothek des Klosters aber seit dem 10. Jahrhundert eine Passio s. Nazarii et Celsi pueri besaß,9) war der Mailänder Nazarius den Lorscher Mönchen durchaus bekannt.

Es gibt deshalb zwei Möglichkeiten, den überlieferten Inschriftentext zu erklären. Da vermutlich die ursprünglich im Kloster vorhandenen Reliquien bei dem Brand völlig zerstört worden waren, war man gezwungen, schnell einen entsprechenden Ersatz zu schaffen. Um die Identität des aufgefundenen Leichnams mit jener des Märtyrers sichtbar zu machen, wurde die Bleitafel mit der Inschrift gefälscht und mit in den Sarg gelegt.10) Entweder ist es aufgrund der Hast, den Besitz der Märtyrerreliquien nachzuweisen, zu einer Verwechslung der beiden Nazarii gekommen, oder die Überlieferung der Chronik ist fehlerhaft. Da die Chronik auch im übrigen einige Fehler aufweist, ist das nicht undenkbar, setzt allerdings voraus, daß der Schreiber der zwischen 1170-1175 verfaßten Chronik11) sich nicht mehr selbst über den Wortlaut der Tafel informieren konnte.

Anmerkungen

  1. CL I Kap. 134, 404f. Zur Problematik dieser Art von Fälschungen vgl. Neumüllers-Klauser, Epigraphische Fälschungen 176f.
  2. Falk, Lorsch 139; CL I Kap. 134, 405, Anm. 6.
  3. Vgl. W. Böhne, Das älteste Lorscher Kalendar und seine Vorlagen, in: Die Reichsabtei Lorsch II, Darmstadt 1977, 173f. u. 195ff.
  4. Böhne [wie Anm. 3] 217.
  5. Gugumus, Lorscher Kalendarien 298; zur Datierung ebd. 289.
  6. Gugumus, Lorscher Kalendarien 303-305 u. 315.
  7. MGH Poetae I 549f.; MGH SS 1, 11.; MGH SS 1, 117.
  8. MPL 110, 1150; MPL 131, 1105.
  9. G. Becker, Catalogi Bibliothecarum Antiqui, Bonn 1885, 113, Nr. 504.
  10. Zur Praxis und Bedeutung der Beigabe solcher Tafeln vgl. Ehrentraut 214-225.
  11. Zur Datierung vgl. CL I 16-18.

Nachweise

  1. CL I Kap. 134, 405.
  2. Helwich, Ant. Lauresham. 66.
  3. Falk, Lorsch 139.
  4. Kraus, Inschriften II 325, Nr. 24.
  5. Ehrentraut, Bleierne Inschriftentafeln 214.

Zitierhinweis:
DI 38, Bergstraße, Nr. 9† (Sebastian Scholz), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di038mz04k0000905.