Inschriftenkatalog: Bad Kreuznach

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 34: Bad Kreuznach (1993)

Nr. 30 Bad Kreuznach um 1330/40? (um 1510)

Beschreibung

Kreuzreliquiar aus zwei zusammengesetzten Teilen mit Namensinschriften der vier Evangelisten, Jesus-Monogramm und Kreuztitulus; getriebenes und gegossenes Silber, vergoldet. Die Inschriften wurden bisher nicht beachtet. Der wohl um 1330/40 bzw. 1380/90 angefertigte obere Teil1) soll vor 1501 vom Kreuznacher Karmeliterkonvent für 110 Goldgulden von ihren Kölner Ordensbrüdern erworben worden sein2). Unter Verwendung dieser älteren Teile erweiterte der Aachener Goldschmied Hans von Reutlingen um 15103) das Reliquienkreuz durch einen prachtvollen, als Ständer dienenden Kreuzesfuß. Nach Aufhebung des Klosters im Jahr 1564 wurde das Reliquiar bis 1687/98 in Köln bzw. Mainz verwahrt. Der obere Teil besteht im Kern aus einem schlichten, 66 cm hohen Kreuz, dessen Balken aus geschliffenem Bergkristall die spanartig eingelegten Kreuzespartikel durchscheinen lassen. In den Zwickeln der Kreuzesarme sitzen vier farbig emaillierte, transluzide Medaillons mit den figürlichen Symbolen der Evangelisten, die mit ihren Namen versehene Spruchbänder (A) halten. Am Kreuzesfuß sind unter Baldachinarchitektur kleine Figuren der hl. Helena sowie der Muttergottes mit dem Kind angebracht, dazu oben seitlich die Halbfiguren der vier großen Propheten mit unbeschrifteten Spruchbändern.

Um 1510 dürften durch Hans von Reutlingen entscheidende Veränderungen vorgenommen worden sein: Er verzierte das Kreuz nicht nur mit Astwerk, Rosetten und wohl auch durch das sich in der Schnittstelle beider Kreuzesarme befindliche, plastisch gearbeitete Jesus-Monogramm (B)4), sondern fügte vor allem den äußerst kunstvollen, turmartigen Unterbau5) hinzu. Von gleicher Höhe wie der Oberteil zeigt er neben einer Kreuzigungsgruppe mit dem eingravierten, mit rautenförmigen Worttrennern versehenen Titulus (C) eine Vielzahl Statuetten biblischer und heiliger Figuren6), die von kunstvoller spätgotischer Zierarchitektur umgeben werden. Das gesamte Reliqiuar ruht wiederum auf einer von drei kleinen Löwen getragenen zwölfseitigen Fußplatte. Meistermarke und Aachener Beschauzeichen7) befinden sich auf der Sockelplatte rechts und links des Kreuzes. Da diese „zweitgrößte erhaltene Goldschmiedearbeit der Gotik“8) noch 1904 wegen ihres schlechten Zustandes nicht mehr aufgestellt werden konnte, wurde sie in den Jahren 1912, 1954 und 1980 mehrmals gründlich restauriert9).

Maße: H. 132,5, Dm. (Sockel) 31,5, Bu. 0,3 (A), 1,5 (B), 1 cm (C).

Schriftart(en): Gotische Minuskel (A), Kapitalis (B, C).

Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz (Thomas G. Tempel) [1/6]

  1. A

    s(anctus) mateus // santusa) iho[(annes)]b) // s(an)c(tu)s lukas // · s(an)c(tu)s marku[(s)]10)

  2. B

    IH(ESV)Sc)

  3. C

    · I(ESVS) · N(AZARENVS) · R(EX) · I(VDEORVM)11) ·

Kommentar

Wenn die von kunsthistorischer Seite vorgenommene Frühdatierung des Oberteils zutrifft, handelt es sich hier um die erste gotische Minuskel des Bearbeitungsgebietes. Die winzigen Buchstaben wurden in das Metall eingraviert und zum Kontrast mit einer schwärzlichen Masse gefüllt. Von epigraphischer Seite läßt sich gegen diese Datierung wenig einzuwenden, zumal die besondere Herstellungsart der Entwicklung in der Lapidarschrift vorgreift12) und sich die gewählte ‘moderne‘ Schriftart – eher noch als die zu dieser Zeit eigentlich übliche gotische Majuskel – besonders gut für kleinformatige Inschriften eignet. Als Varianten werden bei sanctus vorne langes, hinten rundes s verwendet. Durch den später hinzugefügten Untersatz konnte der sonst auch als Vortragekreuz dienende obere Teil des Reliqiuars zu bestimmten Festtagen auf dem Altar13) aufgestellt werden.

Der lokalen Überlieferung14) zufolge soll es sich bei dem oberen Teil um eben jenes Reliquienkreuz gehandelt haben, das – nach Trithemius15) – der Sponheimer Benediktinerabt Craffto im Jahre 1167 von Papst Alexander IV. erhalten habe, das dann von Abt Philipp II. 1390 verkauft bzw. von einem Sponheimer Grafen dem Kreuznacher Kloster geschenkt und im Jahr 1501 umgearbeitet worden sei. Durch die oft zitierte, wohl verläßliche Notiz über die Kölner Herkunft16) des Kreuzes wird die bis heute17) ungebrochen tradierte Provenienzgeschichte neuerdings teilweise wohl zurecht bezweifelt18). Dennoch bleiben etliche Fragen ungeklärt: Könnte sich die aus zweiter Hand überlieferte Kaufnotiz über das etwa 2,5 kg schwere, silbervergoldete Kreuz nicht auch auf das gesamte Reliquiar oder gar auf ein ganz anderes, mittlerweile verschwundenes Kreuz bezogen haben19)? Wo wurde das Oberteil des Reliquiars hergestellt? Seit wann befand es sich wirklich im Kreuznacher Karmeliterkloster? Wer war zu Beginn des 16. Jahrhunderts in der Lage, sich mit Hans von Reutlingen – dem Siegelschneider Kaiser Maximilians – einen der berühmtesten zeitgenössischen Goldschmiede auszusuchen und den von ihm gefertigten, überaus kostbaren Unterteil zu finanzieren?

Textkritischer Apparat

  1. Sic!
  2. So vermutlich für ioh(ann)es; vierter Buchstabe undeutlich.
  3. Der Balken des weit auseinandergezogenen H ist mit einem Kreuz versehen. Die Inschrift wurde – nimmt man die Seite mit der Kreuzigungsszene als Schauseite – verkehrt herum eingesetzt. – Vgl. zur griechisch-lateinischen Mischform dieser Kürzung Nr. 218.

Anmerkungen

  1. Überzeugende Datierung der Medaillons, der Figuren am Fuß des Kreuzes und des „architektonischen Gehäuses“ durch Fritz 200 und – ihm folgend – Schatzkunst Trier 186. Dagegen datierten Kdm. 82 und Buslay/Velten 84f. (letztere aufgrund eines angeblich wissenschaftlichen Gutachtens) auf 1380/90 und wiesen diese Teile des Reliquiars der damaligen Mainzer Schule zu.
  2. Die neuere Literatur bezieht sich hierbei auf eine Notiz in der verläßlichen handschriftlichen Chronik des Karmeliterpaters J. Milendunck, der um die Mitte des 17. Jh. die Klöster seiner Ordensprovinz bereiste. Er berichtet auf einem beigeklebtem Zettel (Historia fol. 151 bzw. fol. 169) zum Jahr 1501 von einer Visitation des Karmeliterklosters in Kreuznach, bei dem eines „crucis pretiosae argentae deauratae habentis in pondere decem marcas cum sex uncys argenti emptae per 110 florenos in auro a conventu coloniensi“ gedacht worden sei. Diese Stelle kann jedoch keineswegs – wie in der jüngeren Literatur ausnahmslos geschehen – für das Jahr 1501 als den angeblichen Zeitpunkt des Erwerbs des Oberteil des Kreuzes herangezogen werden.
  3. Vgl. zu dieser Datierung zuletzt Lüdke mit Verweis auf mehrere Spezialuntersuchungen.
  4. Zuschreibung aufgrund der Schriftart.
  5. Ausführliche Beschreibung bei Kdm. 80ff. und Fritz 200ff.
  6. Neben der Kreuzigungszene mit Maria und Johannes handelt es sich (laut Kdm. und Fritz) um die hll. Hieronymus mit Stab und Buch, Kilian mit Schwert und Buch, Wendelin mit Hirtenschaufel und Buch, Hildegard mit Buch, Petrus, Paulus, Johannes Evangelist, Katharina, Barbara, Margaretha sowie zwei Figuren ohne Attribut (vielleicht Rupert von Bingen und der Karmeliterheilige Simon Stock); zudem sind zwei Engel mit den Leidenswerkzeugen abgebildet.
  7. Vgl. die Abb. bei M. Rosenberg, Der Goldschmiede Merkzeichen. Bd. 1 Frankfurt 31922 Nr. 30 sowie DI 31 (Aachen, Dom) S. 101 Nr. 2.
  8. So Fritz 317.
  9. Vgl. dazu Kirsch 38, Kdm. 81 und Brubach 11.
  10. Reihenfolge von links nach rechts und von oben nach unten.
  11. Jo. 19,19.
  12. Vgl. dazu Neumüllers-Klauser, Schrift und Sprache 64.
  13. Vgl. zur liturgischen Funktion P. Springer, Kreuzfüße. Ikonographie und Typologie eines hochmittelalterlichen Gerätes (Bronzegeräte des Mittelalters Bd. 3). Berlin 1981, 14ff.
  14. Vgl. Andreae 147, Widder 43, Schneegans, Beschreibung 157, Lehfeldt 305, Kdm. 80f., Buslay/Velten 84 und Emmerling 12.
  15. Trithemius, Chron. Sponh. 254.
  16. Das Kölner Karmeliterkloster war berühmt für seinen überaus reichen Bestand an Reliquiaren, vgl. dazu P. Clemen (Hg.) u.a., Die Kunstdenkmäler der Stadt Köln (Kdm. Rheinprovinz 7, 3). Düsseldorf 1937, 205f.
  17. So zuletzt Lipps, Entdeckungsreisen 44.
  18. So mit Nachdruck Fritz 200.
  19. In dem bei Buslay/Velten 13 zitierten, wohl aus dem 17. Jh. stammenden (im Pfarrarchiv St. Nikolaus nicht mehr auffindbaren) Manuskript „Des Carmeliters Angeli historiola“ heißt es zum Jahr 1332, daß das zu dieser Zeit „ohne Einfassung in dem Karmeliterkloster aufbewahrte Kreuzpartikul renoviert“ und zum Jahr 1501, daß „in diesem Jahr (...) die Partikula sancti Crucis für 1000 Gulden und etwas mehr zu Cöllen (...) auf Costen des Klosters gefaßt“ worden sei (S. 16) – somit könnte man auch von der Existenz zweier unterschiedlicher Kreuze ausgehen.

Nachweise

  1. Kupferstiche um 1700 und 1747 (Nachweise Kdm. 80).
  2. Andreae, Crucenacum Palatinum 147 (erw.).
  3. Lehfeldt, Bau- und Kunstdenkmäler 305f. (erw.).
  4. Kirsch, St. Nikolauskirche 36ff. (erw.) – Alte Kunst S. 93, Nr. 445 (erw.).
  5. Fr. Witte, Tausend Jahre deutsche Kunst am Rhein. Die Denkmäler der Plastik und des Kunstgewerbes auf der Jahrtausend-Ausstellung in Köln. Bd. 2, Leipzig 1932, Taf. 274.
  6. Kdm. 80ff. mit Abb. 42 (A) und 44 sowie Taf. IV (A-C).
  7. C. Gündel, Das Kreuzreliquiar von Sankt Nikolaus, in: Allgemeine Zeitung Bad Kreuznach vom 13. Juli 1954 (erw.).
  8. Art Sacre Rhenan. Oeuvres du Moyen-Age de Rhénanie-Palatinat. Kat. Exposition Eglise St. Philibert Dijon, 24. Juin-30. Septembre 1963, Abb. 56.
  9. E.G. Grimme, Ein unbekanntes Werk des Hans von Reutlingen, in: Aachener Kunstbll. 1963, 185-188.
  10. Zimmermann, Kunstwerke 1-2 (1964) (mit Abb.).
  11. Buslay/Velten, St. Nikolaus 16 und 84f. (erw.) – Emmerling, Bad Kreuznach 12 (erw.) und Abb. 5.
  12. Brubach, St. Nikolaus 11 (erw.) und Abb. S. 16.
  13. D. Lüdke, Die Statuetten der gotischen Goldschmiede. Studien zu den „autonomen“ und vollrunden Bildwerken der Goldschmiedeplastik und den Statuettenreliquiaren in Europa zwischen 1230 und 1530 (tuduv-Studien, Reihe Kunstgeschichte Bd. 4). München 1983, Nr. 313, S.698f. (erw.) – J.M. Fritz, Goldschmiedekunst der Gotik in Europa. München 1982, 200 und 317 (erw.) mit Abb. 114, 115, 951, 952.
  14. Schatzkunst Tier (Treveris Sacra, Kunst und Kultur in der Diözese Trier Bd. 3). Trier 1984, 185f. (mit Abb.).

Zitierhinweis:
DI 34, Bad Kreuznach, Nr. 30 (Eberhard J. Nikitsch), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di034mz03k0003001.