Inschriftenkatalog: Großkreis Karlsruhe

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 20: Die Inschriften des Großkreises Karlsruhe (1980)

Nr. 222† Bretten, Geburtshaus von Philipp Melanchthon1 n. 1560

Beschreibung

Gedenkinschriften auf Philipp Melanchthon.

I. Vier Distichen zu Ehren von Melanchthon, angeblich ehemals an der Außenwand angebracht. Art der Ausführung unbekannt. Überliefert durch einen handschriftlichen Eintrag in einem – im Besitz der Heidelberger Universitätsbibliothek befindlichen – Exemplar der Melanchthon-Biographie von J. Camerarius, erschienen 15662. Unveröffentlicht.

© Heidelberger Akademie der Wissenschaften [1/1]

  1. Aedibus his hausit lumen vitale PhilippusQuo non ingenio cultior ullus erat.Quo duce relligio purum caput intulit astrisArtbius ingenuis quo duce crevit honos.Smyrna, Rhodus, Colophon, Salamis, Chios, Argos, AthenaeCertavere super vate Melesigene. Tu tibi Bretta magis gaude, quod fama PhilippiFacta sit aeternum vel sine lite tua.

Übersetzung:

Philippus schöpfte in diesem Haus des Lebens Licht, / seinem Geist kam an Bildung keiner gleich. / Unter seiner Führung erhob die Religion das reine Haupt unter die Sterne, / unter seiner Führung wuchs den freien Künsten die Ehre, / Smyrna, Rhodos, Colophon, Salamis, Argos, Athen: / sie stritten um den Dichter Melesigenes (Homer). / Umsomehr freue du dich, Bretten, weil der Ruhm des Philippus / sogar ohne Hader auf ewig dein ist.

Kommentar

Der Eintrag befindet sich in Kursivschrift mit Tinte auf dem Vorsatzblatt (verso) vor dem Titelblatt. Von derselben Hand wurde über die Verse folgender Vermerk gesetzt: „Brettae, In aedium (Fußnote: Ibi natus P(hilippus) M(elanchthon)) exteriore pariete adscriptum Epigram(m)a“. Daraus geht hervor, daß die Distichen nicht nur in literarischer Form überliefert waren. Das Erscheinungsjahr des Buches von Camerarius 1566 bildet den terminus post quem für den handschriftlichen Eintrag der Distichen, nicht aber für die Inschrift selbst, die durchaus schon Jahre vorher entstanden sein kann. An den hier verwendeten Vergleich Melanchthons mit Homer (Melesigenes) klingt eine Textstelle bei David Chytraeus 1583 an3.

II. Inschriftfragment im Erdgeschoß des Melanchthonhauses4. Der Überlieferung nach ehemals am steinernen Türsturz oder Torgewände von Melanchthons Geburtshaus (zerstört 1689) eingehauen; im Jahr 1896 aus dem Schutt des barocken Nachfolgebaues geborgen. Quader aus rotem Sandstein, Oberfläche stark beschädigt, seitliche Kanten abgeschlagen (Buchstabenverlust); an der Stirnseite zweizeilig beschriftet.

Maße: H. 30, B. (Teilmaß) 46, Bu. 8 cm.

Schriftart(en): Kapitalis.

  1. . . . 19 · AP(RI)LIS / [A]NNO · 156[0] /

Kommentar

Eine Inschrift, zu der dieses Fragment paßt, ist erstmals in einer handschriftlichen Quelle des späten 16. Jahrhunderts, erhalten in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, überliefert5. Wiederum handelt es sich um einen handschriftlichen Eintrag eines Nachbesitzers, was die zeitliche Eingrenzung erschwert6. Die Inschrift wird als Umschrift am Eingang des Geburtshauses und als in Stein gehauen bezeichnet7. Ihr Wortlaut stimmt inhaltlich, jedoch nicht in der Schreibung8, in den letzten Worten mit dem vorliegenden Fragment überein:

  1. DEI PIETATE NATVS EST IN HAC DOMO DOCTISSIMVS PHILIPPVS MELANCHTON · XVI FEBRVARIJ ANNO MCCCCLXXXXVII · OBIJT XVIIII APRILIS · A(NN)O · MDLX /

Übersetzung:

Durch Gottes Gnade wurde in diesem Hause der hochgelehrte Philipp Melanchthon am 16. Februar im Jahr 1497 geboren. Er starb am 19. April im Jahr 1560.

Im Druck veröffentlicht wurde diese Inschrift zuerst durch den Brettener Humanisten Michael Heberer im Jahre 16109. Abgesehen von geringfügigen Abweichungen in der Schreibung ist Heberers Wortlaut mit der Stuttgarter Quelle identisch; es fehlt die Angabe des Todestages10. Im Todesjahr Melanchthons 1560 war sein Bruder, der Brettener Chronist Georg Schwartzerdt d. J., Besitzer des Schwartzerdtschen Stammhauses11. Es wäre denkbar, daß er die Anbringung von I und II veranlaßt hat, zumal er dem Bruder und Reformator auch in seiner Reimchronik von 1536/61 ein literarisches Denkmal setzte12. Bei der Zerstörung Brettens 1689 wurde auch das Haus vernichtet. Auf demselben Platz baute der Bäcker Alexander Würz 1705 ein neues Fachwerkhaus, das die Erinnerung an den Vorgängerbau wachhielt: Türinschrift II wurde auf einem Eckständer in veränderter Form und in der Version Heberers – d. h. ohne Nennung des Todestags – wiederum eingehauen13. Auch von dieser erneuerten Inschrift ist ein Fragment erhalten geblieben: beim Abbruch des Würz’schen Hauses 1896 wurde ein Balken aus Eichenholz gerettet, der unter einer Schicht von Tünche diese Inschrift trug; der Balken gelangte zusammen mit Fragment II in die Schausammlung des Melanchthonhauses. Ein drittes Mal wurde die Gedenkinschrift auf einer 1830 angefertigten Gußeisenplatte reproduziert (Version von 1705); auch diese befindet sich im Melanchthonhaus14.

Mit Hilfe der Stuttgarter Quelle läßt sich die vorliegende, sehr fragmentarisch erhaltene Inschrift einwandfrei als Rest der originalen Gedenkinschrift am Geburtshaus Melanchthons identifizieren. Für eine Entstehung bald nach der Jahrhundertmitte spricht die Ausführung in einer sehr schlank proportionierten, der frühhumanistischen Kapitalis noch nahestehenden Schriftform15.

Anmerkungen

  1. Melanchthonstr. 1; an seiner Stelle seit 1896 der als Archiv, Museum und Gedächtnisstätte dienende Neubau des Melanchthonhauses; vgl. Nikolaus Müller, Festschrift 1903.
  2. J. Camerarius, De Philippi Melanchthoni ortu, totius vitae curriculo et morte etc. Lipsiae (1566). – Nachweis der erhaltenen Exemplare dieses Druckes bei Hammer, Melanchthonforschung I nr. 366; dort kein Hinweis auf die Verse.
  3. D. Chytraeus, De Greichgaea, abgedruckt bei: J. J. Reinhard, Rerum Palatinarum nec non regionum finitimarum etc., Carolsruhae 1748, 518: „Cumque septem urbes certent de stirpe insignis Homeri: Smyrna, Rhodus, Colophon, Salamis, Chius, Argos, Athenae; quantum hoc decus est oppidi Greichgaeae Brettae, quod Philippum genuit?“ (benutzt wurde das Exemplar der Heidelberger Universitätsbibliothek).
  4. Erstmals veröffentlicht von Müller a. a. O. 17.
  5. Hs. Cod. Hist. 284, nachträglicher Eintrag fol. 193v. Beschreibung bei W. v. Heyd, Die Handschriften der Kgl. öffentlichen Bibliothek zu Stuttgart I 2, nr. 25.
  6. Die italienische, vor 1507 entstandene Handschrift war bis ca. 1568/72 im Besitz des Aventin-Schülers Oswald von Eck; sie wurde nach 1572 von dem Komburger Dekan Erasmus Neustetter gen. Stürmer (gest. 1595) der Kromburger Bibliothek einverleibt.
  7. „Brettae Circa fores domus in qua natus est Ph: Melanchthon Lapidi incisa sunt haec“.
  8. Die Handschrift verwendet im Gegensatz zu dem vorliegenden Fragment die römische Zahlschreibung.
  9. M. Heberer, Aegyptiaca servitus etc. Heydelberg 1610, 6. – Zu Heberer vgl. nrr. 191, 294, 389.
  10. Ebenso bei Zeillerus (1632); eine weitere Variante, die ganz auf die Nennung des Todesjahres verzichtet, bei Adamus (1620) 327f.
  11. Die Liteatur zu Melanchthon und zu seiner Familie verzeichnet Schottenloher II nrr. 15003–15511; VII nrr. 56885–57021; ferner Hammer, Melanchthonforschung I 1ff. – Zur Person Georg Schwartzerdts vgl. nr. 202.
  12. Abgedruckt bei Schäfer, Quellenbuch 223–263.
  13. Abbildung des Hauses bei M. Schefold, Alte Ansichten aus Baden. Weißenhorn (1971) nr. 21741. Es wurde aufgrund der Inschrift bereits im 18. Jahrhundert fälschlich als das Geburtshaus des Reformators angesehen; vgl. Nikolaus Müller, in: Der Pfeiferturm 8 (1940) Nr. 1. Auf dem gegenüberliegenden Eckständer (verloren) stand die Bauinschrift: „A(lexander) W(ürz) 1705 M E W(ürz)“. Genaue Ortsangabe und Material sind nur bei Wickenburg (I 2, fol. 23) verzeichnet: „… am mittlern Eckpfosten in holtz eingehauen“. Die anderen Autoren des 18. Jahrhunderts sprechen weiter vom „thorgestell“; sie beweisen damit ihre Abhängigkeit von Heberer.
  14. Müller a. a. O. 22. – Weitere Gedenkinschriften nrr. 294, 389.
  15. A mit gebrochenem Querbalken, L mit geschwungenem Querstrich, Siculus-Kürzung.

Nachweise

  1. KdmBaden IX 1, 38f.
  2. Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek Hs. Cod. 284, fol. 193v.
  3. M. Heberer, Aegyptiaca servitus (1610), 6.
  4. M. Adamus, Vitae Germanorum theologorum etc., Heidelbergae 1620, 327ff.
  5. M. Zeillerus, 541.
  6. Andreae, Bretta 13.
  7. Wickenburg I 2, fol. 23.
  8. Nikolaus Müller, Festschrift Bretten 1903, 17, 19.
  9. Becher, Chytraeus 142, Anm. 105.
  10. Hammer, Melanchthonforschung III nr. A 762a.

Zitierhinweis:
DI 20, Die Inschriften des Großkreises Karlsruhe, Nr. 222† (Anneliese Seeliger-Zeiss), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di020h007k0022209.