Die Inschriften des Großkreises Karlsruhe

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 20: Die Inschriften des Großkreises Karlsruhe (1980)

Nr. 60 Karlsruhe, kath. Stadtpfarrkirche St. Stephan um 1450/70

Beschreibung

Altarkreuz. Angeblich aus Rastatt stammend, 1818 an die Stephanskirche geschenkt; seit 1971 als Dauerleihgabe im Badischen Landesmuseum Karlsruhe. Silber, teilweise vergoldet, ehemals mit Steinen und Perlen besetzt; Spuren von Email. Letzte Restaurierung 1973 durch Michael Amberg, Würzburg. An der Vorderseite ist das Kreuz an den Enden der Kreuzarme mit je einem Vierpaß besetzt, der eine Propheten-Halbfigur in Hochrelief enthält; die Propheten tragen lebhaft geschlungene Spruchbänder (A, B, C, D – im Uhrzeigersinn l. beginnend) in Händen. Im Schnittpunkt der Kreuzarme glattes Medaillon (ehemals Reliquienkapsel?), das das Haupt des vollplastisch gearbeiteten Gekreuzigten wie ein Nimbus hinterfängt. Auf der Rückseite die Evangelistensymbole und eine Agnus-Dei-Kapsel (spätere Zutaten). Trotz Spuren von Beschädigungen guter Erhaltungszustand.

Maße: H. (gesamt) 101, H. (Schriftbänder) 0,6–0,7, Bu. 0,3 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel (B), humanistische Minuskel (A, C, D).

© Badisches Landesmuseum Karlsruhe [1/2]

  1. A

    Expandi / manus meas / tota die ad populum / infidelem Esa lxv1) /

Übersetzung:

Ich recke meine Hände aus den ganzen Tag zu einem ungehorsamen Volk.

  1. B

    foderu(n)t manus meas / et pedes / meos / psalmo2) /

Übersetzung:

Sie haben meine Hände und meine Füße durchgraben.

  1. C

    Moyses / Erit Vita tua pendens / ante te / deutero / xxviii3) /

Übersetzung:

Dein Leben wird vor dir schweben.

  1. D

    . . . . . / con/fix[e]runt / [S]ach XII4) /

Übersetzung:

(Sie werden mich ansehen, welchen) sie zerstochen haben.

Kommentar
Das ikonographische Programm ist ungewöhnlich, denn an die Stelle der auf Altarkreuzen mit Dreipaß- oder Lilienendungen allgemein üblichen Evangelistensymbole an der Schauseite sind hier vier Propheten getreten, kenntlich gemacht durch die Spruchbandtexte. Eine gleiche Verbindung zeigt der Kalvarienberg der Kartause von Champmol bei Dijon von Claus Sluter (1401), bereichert durch Jeremias und Daniel5. Der Stil der Halbfiguren des Kreuzes weist ebenfalls auf den niederländisch-burgundischen Kreis um Sluter und den Meister von Flémalle6. Der vollrunde, gegossene Kruzifixus gehört einer späteren Stilphase an. Aufgrund der engen Verwandtschaft mit dem Baden-Badener Steinkreuz des Nicolaus Gerhaerts von 1467 ist er als Werk des – seit 1494 in Straßburg tätigen – Goldschmieds Jörg Schongauer bezeichnet worden7.
Der bisher nicht beachtete Schriftbefund kann die Annahme stützen, daß das Kreuz möglicherweise keine einheitliche Schöpfung ist. Die Inschrift Davids (B)8, der als Vorläufer und Vorfahre Christi oben am Kreuzesstamm an hervorgehobener Stelle dargestellt ist, wurde in einer sehr fein gravierten gotischen Minuskel ausgeführt. Dagegen sind die Beischriften der übrigen Propheten in einer um 1450 bisher nicht nachweisbaren Schrift graviert: in einer humanistischen Minuskel mit Kapitalis-Versalien. Diese in der Monumentalschrift selten verwendete Schriftform scheint nördlich der Alpen zuerst am Ulmer Chorgestühl (begonnen 1469, vollendet 1474)9 vorzukommen. Da die Schriftbänder des Kreuzes ebenso wie die gegossenen Hände der getriebenen Prophetenreliefs separat gearbeitet und angesetzt sind, ist zu erwägen, ob die heutige Gestalt des Kreuzes nicht das Ergebnis einer noch in spätgotischer Zeit erfolgten Restaurierung ist; B blieb im ursprünglichen Zustand von etwa 1450 erhalten, während A, C und D anläßlich einer nicht vor 1470 anzusetzenden Umarbeitung durch einen versierten, mit den neuesten Stil- und Schriftformen seiner Zeit vertrauten Goldschmied entstammen könnten, welcher zu diesem Zeitpunkt auch das Kruzifix anfügte.
Der ursprüngliche Standort des Kreuzes und die Heimat der beteiligten Werkstätten sind nicht bekannt. Neben Straßburg wird neuerdings Speyer in Erwägung gezogen10. Eine Nachbildung des Kreuzes hat sich in dem zum Speyerer Bistum gehörigen Weil der Stadt (Kr. Böblingen) erhalten11.

Anmerkungen

  1. Jes. 65, 2; im Text der Vulgata „ad populum incredulum“.
  2. Ps. 21, 17.
  3. Deut. 28, 66: „…et erit vita tua quasi pendens ante te“.
  4. Zach. 12, 10: „(et aspicient ad me quem) confixerunt“.
  5. G. Troescher, Claus Sluter und die burgundische Plastik um die Wende des 14. Jahrhunderts. Freiburg i. Br. 1932, 85ff. – Zur Ikonographie vgl. Kirschbaum III (1971) 461f.
  6. Vgl. Kat. d. Ausst. Spätgotik am Oberrhein nr. 209, S. 249; J. M. Fritz, in: Jahrb. d. Staatl. Kunstsammlungen in Baden-Württemberg 9 (1972) 169.
  7. Zuschreibung durch Moser (1949); ebenso schon bei Schroth (1948) nr. 77.
  8. Nur die David-Inschrift stimmt wörtlich mit der David-Inschrift in Champmol überein; die übrigen drei Propheten sind hier mit anderen Schriftworten verbunden; vgl. Troescher a. a. O. 100ff.
  9. Dazu zuletzt: W. Deutsch, Der ehemalige Hochaltar und das Chorgestühl. In: 600 Jahre Ulmer Münster. Ulm 1977, 242ff. (Forschungen z. Geschichte d. Stadt Ulm 19). – Zu dieser Schriftform vgl. auch das in der Einleitung S. XXXI Gesagte.
  10. J. M. Fritz, in: Denkmalpflege Baden-Württemberg 5 (1976) H. 1, 23–26. – Das Kreuz läßt sich einstweilen nicht mit Sicherheit mit einem durch Schriftquellen belegten Goldschmiedewerk verbinden. Zur Hypothese einer Herkunft aus Speyer sei aber angemerkt, daß Bischof Matthias von Ramung in seinem Testament 1467 auf den Fronaltar des Domes ein „goldenes Kleinod mit Perlen und Ballas“ stiftete, was er von Herzog Karl d. Kühnen von Burgund zum Geschenk erhalten hatte; Remling II 174 Anm. 594. – Zu erwägen ist auch eine Herkunft aus der Klosterkirche Frauenalb. Der Generalvikar des Bischofs Siegfried von Venningen urkundete 1457 Aug. 26, er habe in Frauenalb verschiedene Weihen vorgenommen, darunter die der ganzen Kirche und des „silbernen, mit Edelsteinen besetzten Kreuzes“; er gewährte allen, die zu Ehren des Kreuzes und Leidens Christi vor dem silbernen Kreuz drei Paternoster und dreimal den Englischen Gruß sprechen, einen vierzigtägigen Ablaß; Gmelin, in: ZGO AF. 23 (1871) 300. – Jedenfalls ist zu beachten, daß das Kreuz aus Rastatt, d. h. aus dem Besitz der Markgrafen von Baden-Baden, nach Karlsruhe abgegeben wurde.
  11. Vgl. Kat. Spätgotik am Oberrhein, nr. 212.

Nachweise

  1. I. Schroth, Mittelalterliche Goldschmiedekunst am Oberrhein. Freiburg i. Br. 1948, nr. 77 (m. Abb.).
  2. L. Moser. Iörg Schongauer und sein Kreuzreliquiar in St. Stephan zu Karlsruhe. In: Baden I (1949) 39f.
  3. Ders., in: St. Konradsblatt 42 (1958) 1199.
  4. Kat. d. Ausst. Spätgotik am Oberrhein. Karlsruhe 1970, nr. 209, Abb. 186, 187.
  5. J. M. Fritz, Erwerbungsbericht IX, in: Jahrb. d. Staatl. Kunstsammlungen in Baden-Württemberg 8 (1971) 271, Abb. 17.
  6. Ders., Spätgotik am Oberrhein, Forschungsergebnisse u. Nachträge zur Ausstellung. Ebd. 9 (1972) 169ff.
  7. Ders., in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg 5 (1976) H. 1, 23–26 (m. Abb.).

Zitierhinweis:
DI 20, Die Inschriften des Großkreises Karlsruhe, Nr. 60 (Anneliese Seeliger-Zeiss), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di020h007k0006009.