Inschriftenkatalog: Landkreis Jena

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 39: Landkreis Jena (1995)

Nr. 11 Ammerbach, Dorfkirche St. Nicolai 2. H. 14. Jh.?

Beschreibung

Kryptogramm auf der kleinsten der drei Bronzeglocken;1) seit 1928, nachdem die beiden anderen im I. Weltkrieg abgegeben und durch Stahlglocken ersetzt worden sind, auf der oberen Empore, Südseite, abgestellt. Einzeilige Inschrift zwischen zwei gedrehten Schnurstegen am Glockenhals; auf der Flanke zwei unscharfe Reliefs; am Wolm zwei Stege.

Maße: Dm. 54 cm; H. 45 cm; Bu. 3 cm.

Schriftart(en): Gotische Majuskel, erhaben.

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Luise u. Klaus Hallof) [1/4]

  1. a) R F M F E V F L E S L O R P A R Tb) Ic)

Kommentar

Die Inschriften auf der Ammerbacher und verwandten Glocken haben zu zahlreichen Diskussionen Anlaß gegeben. Bergner stellt sie zu den Majuskelglocken von Graitschen2) und Rodigast, Krs. Eisenberg,3) Sulzbach, Krs. Apolda,4) sowie im Lkrs. Jena zu denen von Großkröbitz (Nr. 12), Lehesten (Nr. 13), Oßmaritz (Nr. 14) und Ziegenhain (Nr. 15) und weist sie einem im Raum Jena tätigen Gießer zu, den er den „Jenaer Kryptogrammisten“ nennt. Weiter ist seinen Werken (zumindest zum Teil) gemeinsam das Relief eines auf einem Drachen stehenden Bischofs; dieses ist aber weder auf seine Glocken noch überhaupt auf den Jenaer Raum beschränkt.5) Auf der Ammerbacher Glocke fehlt es; diese weist dagegen zwei andere Reliefs auf, bei denen es sich ebenso um Pilgerzeichen handelt wie bei einem anderen, den Glocken zu Graitschen und Großkröbitz (Nr. 12) gemeinsamen Relief, das Maria mit dem Jesusknaben und einen Wappenschild mit einem Löwen (Ldgfsch. Thüringen) zeigt.6)

Die Wallfahrtszeichen auf der Ammerbacher Glocke sind von P. Liebeskind untersucht worden. Das eine7) zeigt unter einem mit Krabben besetzten Giebel einen knienden Heiligen mit Nimbus, der in der Rechten einen Stab (?) hält; es sind offenbar bislang keine weiteren, besser erhaltenen Abgüsse des Zeichens in Thüringen bekanntgeworden. Das andere8) stellt die Büste eines bärtigen Bischofs mit perlenbesetzter Mitra dar, auf dessen Schulter zwei kleinere Bischöfe mit dem Pastorale in den Händen stehen. Die Darstellung deutet auf die Wallfahrt zu Ehren eines Bischofs; weitere Abgüsse des durch das Fehlen eines Rahmens auffälligen Zeichens sind bekannt.9)

Die Schrift des „Jenaer Kryptogrammisten“ hat mit den perlenartigen Abschlüssen der Hasten und den mitunter ausgefallenen Formen der Buchstaben10) einen Ziercharakter, wenngleich an ihrer Herkunft aus der späten gotischen Majuskel kein Zweifel bestehen kann. Die Schwellungen der Hasten sind zugunsten einer gleichmäßigeren Strichstärke zurückgenommen; das gilt auch für die rechten Abschlußstriche an C und E. Die Einheitlichkeit der Formen auf den verschiedenen Glocken legt die Annahme einer Verwendung von Modeln nahe. Eine Datierung ist daher schwierig; von der Schrift her ist nur ein Ansatz vor dem Ende des 14. Jh.,11) d. h. dem Sieg der Minuskel, möglich, wenngleich verschiedene Gründe für eine spätere Zeit sprechen mögen. Sicher ist auch mit einer langen Tradierung der Buchstabenformen unter den Glockengießern zu rechnen. So erscheint auf einer undatierten Minuskel-Glocke in Wiegendorf üb. Apolda12) das typische R des Kryptogrammisten und ein Majuskel-E zwischen den Lettern. Für P. Liebeskind geben die verwendeten Wallfahrtszeichen Anlaß für eine Datierung in das 15. Jh., wobei er sich auf die kleine Glocke in Arnshaugk13) beruft, die er (fälschlich, wie sich gezeigt hat) dem „Kryptogrammisten“ zuschreibt und die gleichzeitig ein weiteres, auf Minuskelglocken bezeugtes Pilgerzeichen aufweist.14)

Das Alphabet des Kryptogrammisten umfaßt die Buchstaben: A, B, C, E, F, H, I, L, M, N, O, P, R, S, T, V, davon T und O nur auf der Glocke in Lehesten und auf der Ammerbacher Glocke, die mit 18 Lettern die wenigsten aufweist.15) D und T werden durch Drehung von C und G gewonnen.16) Nicht üblich ist sonst die Kennzeichnung des Anfanges der Inschrift, hier durch ein aus neun Punkten im Quadrat gebildetes Ornament.17)

Die Buchstaben sind in keiner festen oder sich wiederholenden, sondern offenbar freier18) Reihung zusammengestellt. Man kann annehmen, daß bei diesen Glocken dem Gießer die Wahl der Lettern freigestellt war und er nur seinen eigenen künstlerischen Intentionen folgte; in der Tat sind die Buchstaben in sehr regelmäßigem Abstand angeordnet, und bestimmte Buchstaben (F, H, L) erscheinen regelmäßig um 180º gedreht. Daß die Kryptogramm-Inschriften einer mangelnden Bildung des Gießers geschuldet seien, wird man um so weniger behaupten dürfen, als mit der ihm zuzuschreibenden Glocke von Flemmingen19) ein gegenteiliges Zeugnis vorliegt. Überhaupt muß man mit einer sehr weiten Wirkung20) dieses Thüringer Gießers und seiner Nachfolger rechnen, nachdem ihm Bergner die Majuskelglocke von Hirschfeld im Krs. Bad Liebenwerda21) zuweisen konnte.22) Diese Wirkung zeigt sich auch darin, daß weitere Glocken des Lkrs. Jena einerseits ähnliche Buchstabenformen aufweisen,23) andererseits ebenfalls mit Kryptogramm-Inschriften versehen sind.24) Dieses Phänomen ist um so auffälliger, als weitere Kryptogramm-Glocken in Thüringen offenbar nicht nachgewiesen sind.25)

Über die Kritik an jüngsten Versuchen, die Kryptogramme auf den Glocken zu interpretieren, s. ausführlich die Einleitung, S. XXXIXXLII.

Textkritischer Apparat

  1. Neun Punkte im Quadrat.
  2. Zur Deutung des Buchstabens, s. Anm. 16.
  3. F und L um 180º gedreht, ebenso das zweite E.

Anmerkungen

  1. Die große Glocke: Nr. 65.
  2. Nachzeichnung in BuKTh I (Jena), 1888, 63. Köster 1979, 378 Anm. 35 behauptet, daß die Kryptogramm-Glocke von Graitschen sich jetzt im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg befände. Dies ist nicht zutreffend. Zum mittelalterlichen Geläut von Graitschen ausführlich Hallof 1993, 5–28; darin 18–23 zur Kryptogramm-Glocke.
  3. BuKTh I (Jena), 1888, 195–196; danach Bergner 1896, 181, ohne Autopsie. Nach frdl. Mitteilung von Pf. D. Tonndorf (Graitschen) ist die Kirche in Rodigast in den 70er Jahren abgerissen und sind die dort befindlichen Glocken an das Beerdigungsinstitut nach Eisenberg verkauft worden. Es dürfte sich dabei um neue (Stahl-)Glocken gehandelt haben; die alten sind den Weltkriegen zum Opfer gefallen.
  4. BuKTh XIV (Apolda), 1892, 69; Bergner 1896, 179 Nr. 6.
  5. Bergner weist es auf einer Minuskelglocke in der Neustädter Kirche von Mühlberg in Sachsen nach, die die Inschrift trägt: hilf got du libe maria berot uns (Worttrennung durch Medaillons mit dem Lamm Gottes); an der Flanke zwei Medaillons (Engel mit Kelch und Kreuzigung) und das Relief des Bischofs (BuKPrSa XXVIII (Liebenwerda), 1910, 183 und Fig. 159). Zur Deutung des Reliefs, s. Nr. 14.
  6. Vgl. Nr. 12.
  7. H. 7 cm; Liebeskind 1904, 54 Nr. 6, wo der Stab fehlt. Vgl. Wette 1756, 245: „eine Person mit einem Schlüssel in der Hand ..., utrum Petrum Apostolum, an pontificem Romanum, Petri vicarium? me latet“.
  8. H. 8 cm; Liebeskind 1904, 54. Unten rechts ist deutlich die Öse zu sehen. Bergner beschreibt das Relief als „sehr beschädigt, wie in Jena“; die Jenaer Glocken sind alle 1945 vernichtet worden, vgl. DI 33 (Jena), Nrr. 3, 4, 8, 9, 49. Von einem Wallfahrtszeichen an ihnen ist nichts überliefert.
  9. Liebeskind 1905, 126. Das Motiv scheint für verschiedene Heilige geprägt worden zu sein, deren Kopfreliquar es vorstellt. Es ist in Köckeritz b. Weida nachgewiesen, wo ein Schriftband unter der rechten Schulterfigur die Inschrift s– – –dolf erkennen ließ (a. O. Abb. 12; auf derselben Glocke ein ganz ähnlich aufgefaßtes Relief eines bartlosen Bischofs); später wurde eine Glocke aus Droyßig b. Weißenfels von 1440 bekannt, die nicht nur einen mit dem Ammerbacher identischen Abguß zeigt, sondern eine weitere Darstellung des Bischofs, sitzend auf einem Thron mit Tierköpfen, über den Schultern zwei Engel, zu Füßen zwei Figuren kniend, und die „zur Not“ als s. nicasius entzifferbare Inschrift; wir hätten es demnach mit einer Wallfahrt nach Reims zu tun. Ob das auch für das Ammerbacher Wallfahrtszeichen gilt, muß dahingestellt bleiben. – Für Nicasius von Reims spricht auch, daß dieser stets kephalophor dargestellt wurde, mit dem abgeschlagenen Haupt in der Hand.
  10. Besonders das gerundete A mit ungleich langen Hasten und schrägrechts verlaufenden „Mittel“balken; ferner F mit schräg nach unten führendem, am Ende gegabeltem Mittelbalken, der mit dem keilförmigem Sporn des oberen Balkens verbunden ist.
  11. Wohl kaum in das 13. Jh., wie Leidenfrost will; auch Bergner 1896, 175, schreibt: „13. Jhd.“. Die Kirche zu Ammerbach wird 1228 das erste Mal urkundlich erwähnt, vgl. UB Jena II, S. XXXVIII, Anm. 1. – Lehfeldt: „frühgothisch“.
  12. Nachzeichnung bei Liebeskind 1905, 117 Abb. 2.
  13. Vgl. ausführlich bei Nr. 8.
  14. Liebeskind 1904, 54; vgl. Nr. 78, Anm. 2.
  15. Ausführlich Hallof 1993, 19 mit Abb. 10. Anzahl der Lettern: Rodigast: 18; Nr. 11 (Dm. 54 cm): 18 + Interpunktion; Nr. 12 (Dm. 52,5 cm): 20; Nr. 14 (Dm. 61 cm): 20; Nr. 15: 21; Nr. 13: 24; Sulzbach (97 cm): 24; Graitschen: 30.
  16. Eine Unterscheidung ist nur im Kontext möglich, der bei den Kryptogrammen natürlich fehlt. Die Buchstaben werden daher nach ihrer tatsächlichen Stellung angegeben, eine Drehung um 180º nicht angenommen. Nr. 14 (B) ist das erste C richtig, das zweite aber um 180º gedreht.
  17. Dieses Ornament findet sich in ähnlicher Form auf der späten Majuskel-Glocke von 1450 in Leutra, Nr. 44; s. Einleitung, Anm. 146.
  18. Nach Walter stehen die Buchstaben „wohl in Vertretung des Alphabets“, was nicht zutrifft; vgl. Köster 1979, 378 Anm. 35, der sie aus seinem Katalog der Alphabetinschriften ausschließt. U. E. hätte dies auch für Nr. 17 gelten sollen.
  19. DI 9 (Krs. Naumburg), Nr. 366, dort auf M. 14. Jh.(?) datiert. Die Zuschreibung erfolgte durch Bergner aufgrund der eigenwilligen Schriftformen, wobei vor allem das gerundete A zu nennen ist. Von den Glocken im Lkrs. Jena abweichend ist die Anordnung der Inschrift in zwei durch einfache Stege (nicht gedrehte Schnurstege) getrennte Zeilen. Die Inschrift selbst lautet: MARIA + LVCIA + PETRVS / PATER NOSTER SANCTA ∙ ORA ∙ PRO + NOBIS ∙ ET SANCTA9; als Worttrenner erscheinen kleine Glöckchen (eine sorgfältige Nachzeichnung gibt Bergner in: BuKPrSa XXVI (Naumburg-Land), 1905, 28).
  20. Die Kryptogramm-Glocke der St. Marcus-Kirche in Bischberg weist nach Ausweis des Photos, das wir der Freundlichkeit von Prof. Dr. W. Koch verdanken, nicht die Typen des Jenaer Meisters auf; die Inschrift wird in DI 18 (Lkrs. Bamberg), Nr. 32 wie folgt gelesen: (Vase) N P G N V K N . W N C G X R + V H R O W N T V T ; als Worttrenner erscheinen zwei Mal Glöckchen, am Schluß ein w-ähnliches Gießerzeichen (?).
  21. BuKPrSa XXVIII (Liebenwerda), 1910, 88 und Fig. 76. Die Inschrift lautet: + CASPAR ∙ MELCHIOR ∙ G ∙ BALTASAR; Worttrennung durch kleine Relief-Glöckchen. Das gerundete A zeigt zwar links oben eine Nase, die aber nicht schräg durch den Buchstaben weitergeführt, sondern durch einen Querstrich ersetzt wird (wie in Nr. 8).
  22. Über eine Glocke in Eisdorf b. Lützen (jetzt in Hohenlohe, Gem. Kitzen b. Leipzig; BuKPrSa VIII (Krs. Merseburg), 1883, 37–39) bestehen hinsichtlich der Zuschreibung noch Zweifel. Die Inschrift (Bu. 1,5 cm, somit nur halb so hoch wie auf den Glocken um Jena) lautet (vgl. die Nachzeichnung, Fig. 32 und 33): PETRVS + LVCAS + MARCAS + IOHANNES + MATEVS + GOT HILF ∙/+ HILF + GOT + MARIA ∙ BERAT ∙ EN∙VIL ∙ MICH ∙ VOL ∙ GENOD (Worttrennung durch kleine Glöckchen; der Schluß ist vielleicht als „empfiehl mich voll Gnade“ zu deuten). Zwischen den Schriftstreifen befinden sich sieben Medaillons; unter denselben vier Pilgerzeichen (alle, wie es scheint, mit Darstellungen der drei Könige, also wohl auf Köln bezüglich; vgl. Schilling 1988, 336 und Abb. 399) und das Reliefs des Bischofs (wie auf Nr. 14). Einerseits liefert sie den willkommenen Nachweis, daß für G und T der gleiche Model verwendet wurde (Im Wort GOT deutlich; „für G und T ist derselbe Model, nur umgekehrt, verwendet“ (Otte). G fehlt auf den Glocken um Jena); andererseits sind A und F nicht von der üblichen Form.
  23. Besonders Nr. 44, wo auch das Interpunktionszeichen (neun Punkte ins Quadrat gestellt) wiederkehrt; ferner Nr. 8.
  24. Nr. 17 (Majuskel), Nr. 39 (Minuskel).
  25. Im Glockenmuseum Apolda befindet sich eine Kryptogramm-Glocke aus dem Ort Gauern üb. Gera; sie enthält zwischen zwei einfachen Stegen die Inschrift, deren Buchstabenformen sich von denen des „Kryptogrammisten“ – trotz der perlenförmigen Abschlüsse der Hasten – hinlänglich unterscheidet. Auf der Flanke sind zwei Reliefs abgegossen: Bischof Servatius und ein weiterer Bischof.

Nachweise

  1. Wette 1756, 245.
  2. BuKTh I (Jena), 1888, 9 (Nachzeichnung).
  3. Bergner 1896, 181–182.
  4. Schlippe 1975, 352–354 und Abb. 5.
  5. Vgl. Liebeskind 1904, 54.
  6. Walter 1913, 193.
  7. Leidenfrost 1928, 29–30.
  8. Mühlmann 1970, 58.

Zitierhinweis:
DI 39, Landkreis Jena, Nr. 11 (Luise und Klaus Hallof), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di039b006k0001100.