Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 69 Dom-Museum 1274?, 15. Jh.

Beschreibung

Stab des Bischofs Otto I.1) Silber und Elfenbein. Die Krümme endet in einem Drachenkopf mit geöffnetem Rachen, dem ein Lamm mit heute fehlender Kreuzfahne rückwärts gewandt den Kopf zuwendet. Die aus Elfenbein bestehende Krümme wurde in spätgotischer Zeit2) mit vergoldeten Silberstreifen gefaßt, die mit Taubändern, Rosetten und Blättern verziert sind. An der Krümme befindet sich das Wappen des Bistums Hildesheim. Der Schaft ist mit der Krümme oberhalb des Knaufs durch einen sechseckigen Silberring verbunden, auf dem Inschrift A in zwei Zeilen, die durch ein Ornamentband getrennt werden, angebracht ist. Unterhalb des Knaufs ein Silberring mit Inschrift B in zwei Zeilen, die durch ein schmaleres Ornamentband getrennt sind. Es folgt ein Ring aus Elfenbein mit Inschrift D und ein weiterer Silberring mit der zweizeiligen Inschrift C. Auf einem weiter unten befindlichen Ring ist die aus dem 15. Jahrhundert stammende Inschrift E angebracht. Die Inschriften der Silberringe sind zwischen zwei Linien graviert und nielliert, die Inschrift des Elfenbeinrings ist eingegraben und mit roter Farbe gefüllt.

Maße: L.: 168 cm; Bu.: 0,4 cm (A), 0,35 cm (B, C), 0,5 cm (D), 0,6 cm (E).

Schriftart(en): Gotische Majuskel (A–D), gotische Minuskel (E).

Hildesheim, Dom-Museum [1/1]

  1. A

    + COLLIGE · SVSTENTA STIMV/+LA VAGA MORBIDA · LENTA ·

  2. B

    + ATTRAHE · PER · PRIMVM · ME·/+DIO · REGE · PVNGE · PER · IMVM3)

  3. C

    · + PASCE GREGE·M NORMA DO·/+CE · SERVA · CORRIGE FORMA ·

  4. D

    + · OTTO · EP(ISCOPV)Sa) · I(N) · HILDENS(EM) ·

  5. E

    aue maria4)

Übersetzung:

Sammle, was herumirrt, stütze das Kranke, sporne das Träge an. (A)

Ziehe mit dem obersten Teil [des Bischofsstabs die Menschen] an, lenke [sie] mit der Mitte, stich [sie] mit dem untersten Teil. (B)

Weide die Herde und lehre, bewahre, bessere und bilde sie gemäß der Vorschrift. (C)

Otto, Bischof in Hildesheim. (D)

Gegrüßt seist du, Maria. (E)

Versmaß: Hexameter, zweisilbig leoninisch gereimt (A, B, C). Im Hexameter A stehen unverbunden zunächst die drei Imperative, denen in gleicher Reihenfolge die drei Objekte zugeordnet sind.

Wappen:
Bistum Hildesheim*

Kommentar

E und C sind mit Abschlußstrichen versehen, die freien Bogenenden des unzialen D und des eingerollten G tragen zum Teil bis auf die Grundlinie herabgezogene Sporen, in einem Fall ist das freie Ende des D gegabelt. Der Balken des L in LENTA endet in einem breit ausladenden Sporn, wie überhaupt die Schriftausführung in starkem Maße durch die großen, teils in einem Punkt endenden (A–C), teils breit gegabelten Sporen gekennzeichnet ist. Auf der Cauda des R und auf der linken Haste eines kapitalen A sind Schwellungen aufgesetzt. Die sehr sorgfältig ausgeführten Buchstaben der Inschriften A–C sind von feinen Zierlinien begleitet. Auffällig ist, daß H in ATTRAHE wie in zwei Fällen auf der Grabplatte Ottos I. (vgl. Nr. 70) mit verkürzter zweiter Haste ausgeführt ist.

Die Inschriften A–C greifen eine im 13. Jahrhundert gängige Interpretation der einzelnen Teile des Bischofsstabes auf. Papst Innozenz III. († 1216) schreibt über den Bischofsstab: Quod autem est acutus in fine, rectus in medio, retortus in summo, designat quod pontifex debet per eum pungere pigros, regere debiles, colligere vagos ‚weil er spitz am Ende, gerade in der Mitte, gekrümmt an der Spitze ist, bezeichnet er, was der Bischof mit ihm tun soll: die Trägen anstoßen, die Kraftlosen lenken und die Herumirrenden sammeln‘. Im weiteren Textverlauf zitiert er den Hexameter der Inschrift A.5) Diese Deutungen sehen den Bischofsstab einerseits in der Tradition des Hirtenstabes mit seinen konkreten Funktionen, verweisen andererseits aber auch auf die bischöfliche Regierungsgewalt.

Zu den biographischen Daten Bischof Ottos I. vgl. Nr. 70. Unter der Voraussetzung, daß der Bischofsstab im allgemeinen bei der Weihe überreicht wird,6) dürfte er um 1274, dem Weihejahr Ottos, entstanden sein.

Textkritischer Apparat

  1. EPC.

Anmerkungen

  1. Inv. Nr.: DS 69.
  2. Elbern/Reuther, Domschatz, S. 68.
  3. Walther, Proverbia 1, Nr. 1663 (A und B).
  4. Liturgischer Text nach Lc. 1,28.
  5. Innozenz III., De sacro altaris mysterio, 1, 62 De baculo ..., PL 217, Sp. 796 D; vgl. auch Friedrich Focke: Szepter und Krummstab. Eine symbolgeschichtliche Untersuchung. In: Festgabe für Alois Fuchs, hg. von Wilhelm Tack. Paderborn 1950, S. 337–387, hier S. 374 u. S. 384. S. a. Hugo von St. Viktor, Speculum ecclesiae, PL 127, Sp. 354 (Nachweis Berges in B/R, S. 89); Petrus Cantor, Verbum abbreviatum, PL 205, Sp. 176 sowie die Ausführungen von Robert Favreau: Epigraphie médiévale. Turnhout 1997 (L’Atelier du Médiéviste 5), S. 232.
  6. LThK, 2. Auflage, Bd. 2, Sp. 510, s. v. Bischofsstab.

Nachweise

  1. DBHi, HS C 761, o. S. (Zeichnung).
  2. Kratz, Dom 2, S. 180f.
  3. Mithoff, Kunstdenkmale, S. 112.
  4. Kd. Hildesheim, Kirchen, S. 109 (A–C).
  5. Elbern/Reuther, Domschatz, S. 68.
  6. Slg. Rieckenberg, S. 349.

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 69 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0006903.