Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 65 St. Michaelis 1. V. 13. Jh.

Beschreibung

Vgl. Schemazeichnung 2, S. 160.

Deckengemälde. Eichenholz. Das auf 105–107 cm x 12–22 cm großen Einzelbrettern aufgebrachte Gemälde überdeckt das gesamte Langhaus.1) Der Ostteil des Gemäldes wurde beim Einsturz des östlichen Vierungsturms im Jahr 16502) wahrscheinlich erheblich beschädigt und, sofern die im Jesaja-Feld (38) angebrachten Ziffern als Datum zu interpretieren sind, 1676 erneuert.3) In diesem Zusammenhang sind auch die übrigen Teile der Decke übermalt worden. Die Ergänzungen der Barockzeit wurden teilweise im Rahmen der im Jahr 1856 abgeschlossenen Renovierung4) übermalt und 50 Jahre später durch den Hannoveraner Maler Bohlmann bei einer zweiten Erneuerung wiederum restauriert. Diese Erneuerungen am Ostteil der Decke sind, da sie nicht wie die originalen Teile ausgelagert worden waren, im Zweiten Weltkrieg verbrannt und bei der Wiederanbringung des restaurierten Deckengemäldes im Jahr 1959 von Joseph Bohland neu geschaffen worden.5) Die Inschriften aller nicht-originalen Teile werden in spitzen Klammern wiedergegeben. Die im folgenden angegebenen arabischen Ziffern beziehen sich auf die Felder der Schemazeichnung 2, S. 1606) und entsprechen der bei Sommer, Deckenbild, verwendeten Numerierung.

In der Mitte des Deckenbildes befindet sich eine breite Reihe aus acht quadratischen Feldern, die den Stammbaum Christi im Schema des Jessebaums zeigen. Der eigentlichen Darstellung des Jessebaums, die im von Westen aus gesehen zweiten Feld beginnt, ist im ersten Feld das Bild des Sündenfalls vorangestellt. Das zweite Feld zeigt den schlafenden Jesse, aus dem (nach Is. 11,1) der Baum zum nächstfolgenden Bild des Königs David emporwächst. David ist in einem auf die Spitze gestellten Quadrat dargestellt. Wie alle folgenden Könige und Maria sitzt er in den Zweigen des Jessebaums. Er hält in der rechten Hand eine Scheibe, in der linken das Zepter. In den Zwickeln des auf die Spitze gestellten Quadrats sind in von Rankenwerk gebildeten Medaillons die Brustbilder von nicht näher spezifizierten Figuren dargestellt, die Figur oben links mit Schriftband (A), oben rechts mit Schriftband (B), die unteren Figuren ohne Inschriften. Das vierte Bild zeigt Salomo in einem Vierpaß, er hält ein Schriftband (C). In den Zwickeln des Vierpasses in Rankenmedaillons vier nicht näher bezeichnete Figuren. Die drei folgenden Felder (5, 6 und 7) zeigen den König Hiskia (5) in einem auf die Spitze gestellten Quadrat, begleitet von vier Figuren in den Zwickelmedaillons; den König Josia (6) in einem Vierpaß, ebenfalls begleitet von vier Figuren in Rahmenmedaillons und Maria (7) in einem auf die Spitze gestellten Quadrat, begleitet von den vier Kardinaltugenden in den Zwickelmedaillons. An der Spitze des Jessebaums (8) ist heute wie auch wohl im mittelalterlichen Original der thronende Christus in einem Kreis dargestellt.7) Seine Rechte ist segnend erhoben, in der Linken hält er ein Buch mit der Inschrift D.

Die Felder der Mittelreihe werden an der Nord- und an der Südseite von je einer Leiste mit hochrechteckigen Feldern begleitet, die sich über die Mittelreihe hinaus östlich und westlich im äußeren Rahmen in quadratischen Feldern fortsetzen. Diese Felder zeigen die vier Erzengel, die vier Evangelisten, allegorische Darstellungen der vier Paradiesflüsse und Personen aus dem Alten Testament in ganzfigurigen Darstellungen. Mit Ausnahme der Paradiesflüsse und der Evangelisten halten die Figuren Schriftbänder mit den Inschriften E und F. Auf der Nordseite (E) von Westen nach Osten: Paradiesfluß (90, ohne Inschrift), Evangelist Markus (9, ohne Inschrift), Paradiesfluß (10, ohne Inschrift), Jesaja (oder Micha?) (E 11), ? (E 12), Habakuk (E 13), Ezechiel (E 14), Jesaja? (E 15), Naum (E 16), ? (E 17), ? (E 18), ? (E 19), ? (E 20), Aaron (21, ohne Inschrift), Johannes der Täufer (E 22), Erzengel Gabriel (E 23 mit Datum: 1960), Evangelist Matthäus (24, ohne Inschrift), Erzengel Raphael (E 61). Auf der südlichen Seite (F) von Westen nach Osten: Paradiesfluß (86, ohne Inschrift), Evangelist Lukas (25, ohne Inschrift), Paradiesfluß (26, ohne Inschrift), Bileam (F 27), Malachias (F 28), Baruch (F 29), Hosea (F 30), Johel (F 31), Aggeus (Haggai) (F 32), Jona mit kahlem Haupt (F 33), Moses (F 34), ? (F 35), Abdias (F 36), Erzengel Gabriel (F 37), Jesaja (F 38), Erzengel Michael (F 39), Evangelist Johannes (40, ohne Inschrift), Erzengel Uriel (F 65).

Der äußere Rahmen zeigt in den Ecken in quadratischen Feldern die vier Evangelistensymbole mit den Inschriften G auf Schriftbändern, im Nordosten Matthäus (G 60), nordwestlich Markus (G 41), südwestlich Lukas (G 85), südöstlich Johannes (G 66). In den Randleisten des äußeren Rahmens sind in Medaillons Brustbilder von einigen der in Lc. 3,23–38 genannten Vorfahren Christi dargestellt, die jeweils durch Tituli in den Rahmen der Medaillons identifiziert sind. Auf dem östlichen Rahmen von Norden nach Süden die Inschriften H: Mattat (H 62), Eli (H 63) und Levi (H 64); auf dem westlichen von Norden nach Süden die Inschriften I: Enos (I 89), Seth (I 88), Cainan (I 87). Auf der nördlichen Seite des Rahmens von Westen nach Osten Inschriften K: Enoch (K 42), Lamech (K 43), Sem (K 44), Thare (K 45), Phares (K 46), Aram (K 47), Nasson (K 48), Melea (K 49), Jona (K 50), Joseph (K 51), Juda (K 52), Simeon (K 53), Levi (K 54), Cosan (K 55), Neri (K 56), Resa (K 57), Juda (K 58), Joseph (K 59). Auf der südlichen Seite des Rahmens von Osten nach Westen Inschriften L: Melchi (L 67), Jannae (L 68), Amos (L 69), Melchi (L 70), Addi (L 71), Elmadan (L 72), Her (L 73), Jorim (L 74), Natan (L 75), Obeth (L 76), Boas (L 77), Jakob (L 78), Isaac (L 79), Abraham (L 80), Nachor (L 81), Eber (L 82), Noah (L 83), Mathusalae (L 84). Die Inschriften sind gemalt, einzelne Inschriften sind ohne Worttrennung ausgeführt.

Maße: L.: 27,6 m; B.: 8,7 m;8) Bu.: 5,5–8,5 cm.

Schriftart(en): Romanische Majuskel, griechische Buchstaben (D).

Mittelreihe

  1. A

    DEa) FRVCTV U(ENTRIS) · T(UI)9)

  2. B

    INVENI. DAVID10)

  3. C

    · RAMI MEI. HONORIS ET.11)

  4. D

    〈Α Ω〉

Rechte und linke Leiste neben der Mittelreihe

  1. E 11

    · EGREDIETVR12)

  2. E 12

    · ECCE · V(ENIE)T · D(EV)Sb)c)13)

  3. E 13

    · VINIETd) · (ET)e) · N(ON) TAR(DABIT) ·14)

  4. E 14

    VIDI · PORTA(M). CLAV(SAM)f)15)

  5. E 15

    · DESC(E)NDET. D(OMI)N(V)S.16)

  6. E 16

    · IP(S)E · SCIET. SP(ER)ANTES.g) I(N). S(E)17)

  7. E 17

    · VENI. D(OMI)NEh) · VI(SITARE)18)

  8. E 18

    VENIET [...]〈A〉[...]i)19)

  9. E 19

    · IN · VNO · CX.j) O.k)〈S〉.20)

  10. E 20

    ·QVI. VEN(TVRVS) ·21)

  11. E 22

    PARATE. VIAM. D(OMIN)I.22)

  12. E 23

    〈S(ANCTVS). GABRIEL.〉

  13. E 61

    〈S(ANCTVS). RAPHAEL ·〉

  14. F 27

    ORIETVR S(TELLA)23)

  15. F 28

    · ECCE · VENIET · D(OMI)N(V)S · EXER(CITVVM)24)

  16. F 29

    . I(N). TERRIS VI(SVS) E(ST)l)25)

  17. F 30

    VNIRm) QVASI YMBER. N(OBIS) T(EMPORANEVS).26)

  18. F 31

    . I(N). MONTE · SYON SALVAT(IO)27)

  19. F 32

    . VENIET. DESIDERAT(VS) ·28)

  20. F 33

    · SVBIEVABIS.n)29)

  21. F 34

    · MITTE · QVE(M) ·30)

  22. F 35

    · VEDIES. VE.o)31)

  23. F 36

    . ERIT · R(EGNVM). DEO.p)32)

  24. F 37

    . AVE MARIA.33)

  25. F 38

    . ECTEq) · VIRGO. C(ONCIPIET) ·34)

  26. F 39

    〈S(ANCTVS) MICHAEL.〉

  27. F 65

    〈S(ANCTVS) VRIEL · 〉

Äußerer Rahmen

  1. G 60

    〈S(ANCTVS) MATHAEVS · 〉

  2. G 41

    〈S(ANCTVS) MARCVS.〉

  3. G 85

    S(ANCTVS) LVCAS ·

  4. G 66

    〈S(ANCTVS) IOHANNES.〉

  5. H 62

    〈 · QVI FVIT · MATTAT ·〉35)

  6. H 63

    〈 · QVI · FVIT · ELI〉

  7. H 64

    〈. QVI · FVIT · LEVI〉

  8. I 89

    〈QVI ·〉 FVIT ENOS

  9. I 88

    QVI. FVIT · SETH

  10. I 87

    · QVI. FVIT · CAINAN

  11. K 42

    .QVI. FVIT. ENOCH

  12. K 43

    .·QVI · FVIT IAMECH.r)

  13. K 44

    .·QVI · FVIT. SEM ·

  14. K 45

    〈.QVI. FVIT. THARFs)

  15. K 46

    · QVI FVIT · PHARES

  16. K 47

    · QV〈I〉. FV〈I6〉T · [.]RAMt)

  17. K 48

    .〈QVI〉. FVIT · 〈NASSON〉

  18. K 49

    · QVI · FVIT · MELAu)

  19. K 50

    · QVI · FVIT · IONA

  20. K 51

    · QVI · FVIT · I〈OS〉EPH

  21. K 52

    .QVI. FVIT. IVDA

  22. K 53

    · QVI · FVIT · SYMEON

  23. K 54

    · QVI · FVIT · LEVI

  24. K 55

    · QVI. FVIT · COSAN

  25. K 56

    〈. QVI. FVIT. MERI〉v)

  26. K 57

    〈. QVI. FVIT · ROSA〉w)

  27. K 58

    〈· QVI · FVIT · IVDA〉

  28. K 59

    〈· QVI · FVIT · IOSEPH〉

  29. L 67

    〈. QVI. FVIT. MELCHI〉

  30. L 68

    〈. QVI. FVIT. IANNE〉

  31. L 69

    〈. QVI. FVIT. AMOS〉

  32. L 70

    〈. QVI · FVIT. MELCHI〉

  33. L 71

    〈. QVI. FVIT. ADDI〉

  34. L 72

    〈. QVI. FVIT. ELMADAN〉

  35. L 73

    〈. QVI. FVIT. HER.〉

  36. L 74

    QVI · FVIT. IORIM

  37. L 75

    · QVI. FVIT · NATAN

  38. L 76

    · QVI. 〈FVIT. O〉BET

  39. L 77

    · QVI. FVIT. BOOZ.

  40. L 78

    .〈Q〉VI. FVIT. IAC〈OB〉

  41. L 79

    · Q〈VI. FVIT. IS〉AAC

  42. L 80

    · QVI. FVIT. ABRABEx)

  43. L 81

    · QVI. FVIT. NACHOR

  44. L 82

    · QVI. FVIT. IBERy)

  45. L 83

    · QVI · FVIT · NOFz)

  46. L 84

    .QVI. FVIT · MATVSALE ·

Übersetzung:

Aus der Frucht deines (sc. Davids) Leibes [will ich (einen Menschen) auf deinen Stuhl setzen]. (A) Ich habe [meinen Knecht] David gefunden. (B) Meine Zweige [sind] von Ehre und [Gnade]. (C) [...] es wird [...] ausgehen. (E 11) Siehe, Gott wird kommen [und ein Mensch aus dem Haus Davids]. (E 12) Er wird kommen und nicht zögern. (E 13) Ich sah die Pforte geschlossen. (E 14) Der Herr [der Heerscharen] wird herabsteigen. (E 15) Er wird die kennen, die auf ihn hoffen. (E 16) Komm, Herr, besuche [uns in Friedenszeiten]. (E 17) Er wird kommen [...]. (E 18) In einem aus [...]. (E 19) [...] der kommen wird [...]. (E 20) Bereitet den Weg des Herrn. (E 22) Ein Stern wird [aus Jakob] aufgehen. (F 27) Siehe [spricht er], der Herr der Heerscharen wird kommen. (F 28) [Danach] ist er auf der Erde gesehen worden. (F 29) Er wird wie ein später Regen zur rechten Zeit zu uns kommen. (F 30) Auf dem Berg Sion [...] die Rettung [...]. (F 31) Der Ersehnte wird kommen. (F 32) Du wirst [mein Leben aus der Zerrüttung] emporheben. (F 33) Schick den, [den du schicken willst]. (F 34) Der Kommende wird kommen. (F 35) Das Reich wird Gott gehören. (F 36) Gegrüßt seist du, Maria. (F 37) Siehe, eine Jungfrau wird empfangen. (F 38) Dieser war Mattat etc. (H–L)

Das Deckenbild wird in der kunsthistorischen Forschung verschieden datiert.36) Im wesentlichen zeichnen sich zwei Positionen ab, die beide durch Vergleiche mit der zeitgenössischen Buchmalerei gewonnen worden sind: zum einen die Spätdatierung in die Jahre um 1240/1250, zum anderen ein – hauptsächlich von Johannes Sommer vertretener – deutlich früherer zeitlicher Ansatz auf die Zeit gegen 1200. Sommer sieht die Decke als Teil der Renovierung unter Abt Dietrich (1181–1204), die unmittelbar nach der Heiligsprechung Bernwards (1193) einsetzte. Stilkritisch begründet er seinen Datierungsansatz mit dem Hinweis darauf, daß nach Abnahme der neuzeitlichen Übermalungen die kontrastreiche Binnenzeichnung verschwunden sei, die den Eindruck eines unruhig-zackigen Stils hervorgerufen habe. Das ursprüngliche Deckenbild sei folglich nicht mehr fraglos als „ein Werk des ausgeprägten Zackenstils“ anzusehen,37) der nach Haseloff im thüringisch-sächsischen Raum kurz nach 1210 fertig ausgebildet gewesen sei.38) Auch die Buchstabenformen der Inschriften sprächen für eine Entstehung der Deckenmalerei um 1200.39) Die dagegen u. a. von Haseloff, Kroos, Haussherr und zuletzt von Wolter-von dem Knesebeck40) vertretene Spätdatierung stellt die Deckenmalerei in die Nähe der Miniaturen, die, was den Gewandstil betrifft, der sogenannten zweiten Haseloffschen Reihe zugeordnet werden. Renate Kroos schließt sie in ihrer Untersuchung von drei niedersächsischen Bildhandschriften des 13. Jahrhunderts eng an das um 1240/50 entstandene Evangelistar Wien, ÖNB Ser. Nov. 12760 an, dessen Werkstatt sie mit guten Gründen in Hildesheim lokalisiert;41) Wolter-von dem Knesebeck weist besonders auf die Parallelen zum Gewandfigurenstil im Donaueschinger Psalter hin, der wahrscheinlich in Hildesheim entstanden und nicht vor 1235 illuminiert worden ist. Bei einem zeitlichen Ansatz um 1240/50 wäre die Deckenmalerei baugeschichtlich im Zusammenhang mit den umfangreichen Wiederherstellungsarbeiten unter Abt Gottschalk (1240–1259) zu sehen.42) Die im Rahmen der Bestands- und Zustandssicherung im Jahr 1999 durchgeführte dendrochronologische Untersuchung Kleins hat als Terminus ante quem non das Jahr 1197, wahrscheinlicher aber die Zeit von 1200–1220 nahegelegt.43)

Die Inschriften sind in einer Übergangsschrift von der romanischen zur gotischen Majuskel ausgeführt, die noch nicht die typischen Elemente der gotischen Majuskel aufweist. Auffällig ist Q mit langer, gewellter Cauda. Abgeschlossene E und C sind nicht zu beobachten, und das Nebeneinander von eckig-spitzen und runden Formen bleibt auf wenige Buchstaben beschränkt (D, E, H, N, V), wobei ein regelmäßiges Alternieren beider Formen – wie z. B. in den Inschriften der Domtaufe – noch nicht ausgeprägt ist. Diese Übergangsschrift läßt sich in Hildesheim seit dem Ende des 12. Jahrhunderts nachweisen. Sofern die Datierungen des Bernhardkelchs (Nr. 64) und der Domtaufe (Nr. 67) zutreffen, wird sie seit dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts durch die gotische Majuskel abgelöst. Der Buchstabenbefund scheint also eher die stilkritische Frühdatierung zu stützen und den dendrochronologischen Untersuchungsergebnissen entsprechend eine Entstehung etwa im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts nahezulegen. Die Einordnung der Decke in eine schriftgeschichtliche Entwicklungsreihe ist aber methodisch problematisch, weil die Buchstaben der Deckenmalerei keine besonders sorgfältige Durchformung im Sinne einer einheitlichen Verwendung von Schwellungen, Hastenverbreiterungen, Sporen oder Zierformen erkennen lassen. Ob es sich bei diesen Unregelmäßigkeiten um Charakteristika des Originals handelt, ist nicht mehr zu entscheiden. Wahrscheinlich haben die zahlreichen Erneuerungen – worauf auch die in Einzelfällen entstellten Texte hindeuten (E 18, E 19, F 35 u. a.) – im Bereich der Inschriften einen diffusen Befund geschaffen, der als Grundlage für eine differenzierte schriftgeschichtliche Einordnung nicht mehr ausreicht.

Die Inschriftentexte der Deckenmalerei deuten insgesamt auf das Kommen Christi hin. Eine ausführliche Deutung und eingehende bibelkundliche Kommentierung des Text-Bild-Programms gibt Andreas Lemmel. Seine Nachweise der in den Inschriftentexten benutzten Quellen lassen allerdings nicht deutlich werden, daß die Aussage der Inschriften zwar in letzter Instanz auf die Bibel zurückzuführen ist, ihr Wortlaut aber an vielen Stellen nicht der Vulgata entspricht, sondern der alltäglichen liturgischen Praxis, wie sie u. a. in den Lesungen des Stundengebets (E 14) oder in den im einzelnen nachgewiesenen Antiphonen der Adventszeit (E 12, E 17 u. a.) greifbar wird.44)

Textkritischer Apparat

  1. DE] D mit doppelter Haste.
  2. D(EV)S] Danach ist der Befund gestört.
  3. · ECCE · V(ENIET) · D(EV)S] ECCE Venie(n)t DieS Lemmel. Für die Auflösung der Abkürzungen legt Lemmel ausschließlich den Wortgebrauch der Bibel zugrunde, obwohl er diese Inschrift nicht auf eine konkrete Stelle zurückführen kann. Die hier vorgeschlagene, von Lemmel abweichende Auflösung der Abkürzungen entspricht dem Wortlaut der als Quelle nachgewiesenen Antiphon (vgl. Anm. 13).
  4. VINIET] Statt VENIET.
  5. Tironisches ET.
  6. CLAV(SAM)] Proklitisches A.
  7. SP(ER)ANTES.] Letztes S hochgestellt.
  8. D(OMI)NE] Befund: D mit den Bogen durchschneidendem Schrägstrich, der Bogen des D ist zugleich die Haste des runden N, der Bogen des runden N fällt mit dem Bogen des runden E zusammen.
  9. VENIET [...]A[...]] VENIET VT SALVET POPVLVM SVVM Kratz; VENIET ET SALVATOR Konjektur Sommer.
  10. CX] Statt EX.
  11. O.] Möglich ist auch die Lesung D. Inschrift E 19 ist nicht sinnvoll zu lesen.
  12. Die Lesung des letzten Buchstabens ist nicht eindeutig.
  13. VNIR] Statt V(E)NIET, möglicherweise ist das R aus einer ET-Ligatur fehlerhaft restauriert worden.
  14. SVBIEVABIS.] Statt SVBLEVABIS.
  15. · VEDIES. VE.] Keine sinnvolle Lesung möglich; VENIE(N)S VE(NIET) Kratz. Kratz’ Lesung gibt wohl den originalen Befund wieder. Das heute sichtbare D dürfte bei einer Restaurierung aus einem runden N verschrieben worden sein.
  16. DEO.] Rundes E in O gestellt und mit dem linken Bogen ligiert.
  17. . ECTE] Statt ECCE.
  18. IAMECH.] Statt LAMECH.
  19. THARF] Statt THARE.
  20. [.]RAM] Zu ergänzen zu ARAM.
  21. MELA] Möglicherweise fehlerhaft restauriert für MELEA.
  22. MERI] Wohl anstelle von NERI.
  23. ROSA] Wohl statt RESA.
  24. ABRABE] Statt ABRAHE ‚Abraham’.
  25. IBER] Möglicherweise lautete der ursprüngliche Befund EBER; denn rechts neben dem I befindet sich eine zweite, halbe Haste, die aus den Resten der keilförmigen Verbreiterungen der Querbalken des E bei einer Restaurierung hergestellt worden sein könnte.
  26. NOF] Statt NOE.

Anmerkungen

  1. Angaben zum Material nach Sommer, Deckenbild, S. 55.
  2. Vgl. Cord Alphei: Von der Benediktinischen Klosterkirche zur Lutherischen Gemeindekirche. Quellen zur Baugeschichte von St. Michael im 16. und 17. Jahrhundert. In: Kat. Der vergrabene Engel, S. 45–56, hier S. 46; s. a. Adolf Kottmeier: Die Michaeliskirche in der Zeit vom Westfälischen Frieden bis zu ihrer Aufhebung im Jahre 1809. In: Alt-Hildesheim 12 (1933), S. 26–32, hier S. 27.
  3. 1676 V. Vgl. Sommer, Deckenbild, S. 67 mit weiteren Angaben zu den Restaurierungen der Decke (S. 63–65); Christina Achhammer, Oskar Emmenegger, Detlev Gadesmann: Zusammenfassende Darstellung der Maßnahmen und Eingriffe der Vergangenheit. In: Grote, Bilderdecke, S. 104–111.
  4. NLD Schriftarchiv, Akten St. Michaelis, Zustandsbericht des Malers Bohlmann von 1909/10.
  5. Einen detaillierten Überblick über die erneuerten Teile gibt Sommer, Deckenbild, Abb. 54, S. 59.
  6. Die Schemazeichnung beruht auf Sommer, Deckenbild, lose Beilage.
  7. Von 1667 bis 1856 befand sich an der Spitze des Jessebaums ein Moses-Christus-Bild, vgl. DBHi, HS C 26, S. 67. Zur Geschichte des Schlußbildes vgl. Sommer, Deckenbild, S. 58.
  8. Maße nach Sommer, Deckenbild, S. 51.
  9. Ps. 131,11: de fructu ventris tui ponam super sedem tuam.
  10. Ps. 88,21: inveni David servum meum.
  11. Sir. 24,22: et rami mei honoris et gratiae.
  12. Is. 11,1: et egredietur virga de radice Jesse ‚es wird ein Reis von der Wurzel Jesse ausgehen‘; Mi. 5,2: ex te mihi egredietur qui sit dominator in Israhel ‚aus dir wird mir hervorgehen, der in Israel herrschen wird‘.
  13. Ergänzung und Auflösung der Abkürzung nach dem Text der Antiphon ‚Ecce veniet Deus et homo de domo David‘, vgl. Corpus antiphonalium officii, Bd. 3, S. 190, Nr. 2549. Die Antiphon wird am Freitag der 1. Adventswoche und am 2. Advent gesungen.
  14. Hab. 2,3: veniet et non tardabit; Antiphon am 3. Advent, vgl. Corpus antiphonalium officii, Bd. 3, S. 529, Nr. 5337.
  15. Die Inschrift bezieht sich auf Ez. 44,2: porta haec clausa erit. Sie folgt im Wortlaut der zweiten Lesung am Donnerstag in der 1. Adventswoche (Nachweis Kratz in DBHi, HS C 931, S. 24). Vgl. Corpus antiphonalium officii, Bd. 3, S. 406; Bd. 4, S. 348.
  16. Is. 31,4: sic descendet Dominus exercituum.
  17. Na. 1,7: et sciens sperantes in se.
  18. Antiphon zum Magnificat am Freitag und Sonnabend der 2. Adventswoche: ‚Veni domine visitare nos in pace‘, vgl. Corpus antiphonalium officii, Bd. 3, S. 527, Nr. 5321.
  19. Möglicherweise geht die Inschrift (vgl. Anm. i) auf die Antiphon: ‚De Sion veniet Dominus omnipotens ut salvum faciat populum suum‘ zurück, die am Mittwoch und Donnerstag vor Weihnachten gesungen wird, vgl. Corpus antiphonalium officii, Bd. 3, S. 138, Nr. 2120; Sommer bringt die erkennbaren Buchstaben mit Za. 9,9 Veniet et salvator ‚er wird kommen und ein Retter sein‘ in Verbindung.
  20. Die Quelle ist nicht zu ermitteln.
  21. Entweder Ps. 117,26: benedictus qui venturus est in nomine Domini ‚Gesegnet sei, der kommen wird im Namen des Herrn‘ oder Antiphon am 3. Sonntag im Advent: qui venturus est, veniet et non tardabit ‚er wird kommen und nicht zögern‘ (nach Hab. 2,3). Das Zitat aus Habakuk wäre dann allerdings zweimal an der Decke vertreten, vgl. Anm. 14.
  22. Is. 40,3; Mt. 3,3 u. Parallelstellen.
  23. Nm. 24,17: orietur stella ex Iacob.
  24. Mal. 3,1: ecce venit dicit dominus exercituum.
  25. Bar. 3,38: post haec in terris visus est.
  26. Os. 6,3: et veniet quasi imber nobis temporaneus et serotinus terrae.
  27. Ioel 2,32: in monte Sion et in Ierusalem erit salvatio vgl. auch Abd. 1,17: in monte Sion erit salvatio.
  28. Agg. 2,8: et veniet desideratus.
  29. Ion. 2,7: et sublevabis de corruptione vitam meam.
  30. Ex. 4,13: mitte quem missurus es; 7. Lesung am 1. Advent.
  31. Unter der Voraussetzung, daß Kratz’ Lesung den originalen Befund wiedergibt (vgl. Anm. o), liegt wie in Inschrift E 13 Hab. 2,3: veniens veniet et non tardabit (4. Lesung am 3. Advent) zugrunde.
  32. Nach Abd. 1,21: erit domino regnum.
  33. Liturgischer Text nach Lc. 1,28.
  34. Is. 7,14: ecce virgo concipiet et pariet; 3. Lesung am Sonnabend vor dem 2. Advent. Vgl. Corpus antiphonalium officii, Bd. 4, S. 159, Nr. 6620.
  35. Quelle der folgenden Inschriften H–L: Lc. 3,23–38.
  36. Eine Übersicht über die älteren Datierungsvorschläge gibt Sommer, Deckenbild, S. 178, Anm. 353. Reiner Haussherr ergänzt in seiner Rezension zu Sommer, Deckenbild (Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 38 [1966], S. 257–261) die bei Sommer nicht erwähnte Datierung Arthur Haseloffs, der sich 1905 für eine Entstehung der Decke nach 1240 ausgesprochen hatte (S. 259).
  37. Sommer, Deckenbild, S. 139.
  38. Ebd., S. 143–154.
  39. Ebd., S. 138 mit einer Zeichnung der Buchstabenformen des Deckenbildes. Vgl. auch Johannes Sommer: Das Deckenbild der Michaeliskirche zu Hildesheim, Ergänzter Reprint der Auflage Hildesheim 1966 mit einem neuen Schlußkapitel 1999. Königstein 2000, S. 1–34: Ergebnisse neuer Forschungen zu Instandsetzungen und Veränderungen im Bernwardsbau bis zum Ende des 12. Jahrhunderts und zur Datierung des Deckenbildes, S. 31 (mit einer epigraphischen Einschätzung von Renate Neumüllers-Klauser).
  40. Wie Anm. 36 u. Harald Wolter-von dem Knesebeck: Kunsthistorische Beobachtungen zur Holzdecke von St. Michael: Ihr Verhältnis zur sächsischen Buchmalerei in der älteren Forschung und nach heutigem Wissensstand. In: Grote, Bilderdecke, S. 36–58, hier S. 39, S. 45f. u. S. 48.
  41. Renate Kroos: Drei niedersächsische Bildhandschriften des 13. Jahrhunderts in Wien. Göttingen 1964 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Phil.-Hist. Klasse III, 56), S. 108–128, hier S. 126f.
  42. Vgl. Beseler/Roggenkamp, Michaeliskirche, S. 57.
  43. Peter Klein: Dendrochronologische Untersuchungen an Bohlen der Holzdecke von St. Michael. In: Grote, Bilderdecke, S. 80f.
  44. Vgl. Andreas Lemmel: Der biblische Hintergrund und Sinngehalt des Deckenbildes. In: Grote, Bilderdecke, S. 17–26. – Zum Problem der Bibel als Textgrundlage mittelalterlicher Inschriften s. Einleitung S. 53f.

Nachweise

  1. DBHi, HS C 931, S. 24–27.
  2. DBHi, HS C 26, S. 52–58, S. 67.
  3. Sommer, Deckenbild, passim, Abb. passim.
  4. Andreas Lemmel: Der biblische Hintergrund und Sinngehalt des Deckenbildes. In: Grote, Bilderdecke, S. 17–26, Abb. passim.
  5. Slg. Rieckenberg, S. 32–107, vier Photos.

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 65 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0006508.