Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 56 Dom-Museum 2. H. 12. Jh.

Beschreibung

Marienfigur. „Kleine Madonna“.1) Lindenholz, Beschläge aus Gold und Silber. Die thronende Madonna hält in der erhobenen rechten Hand einen Apfel, mit der Linken das Kind. Die Gewandsäume, die Schuhe der Madonna und die Krone sind mit Filigran überzogen und mit Perlen und Edelsteinen besetzt. Im Jahr 1664 ließ der Domherr Franz Anton von Wissocque die Köpfe durch bemaltes Holz ersetzen, außerdem stiftete er für die Figur eine Krone mit einer Inschrift, auf der in Minuskeln der Name wissoc angebracht ist. Der Thronsessel ist mit Silberblech beschlagen, auf den Thronwangen und auf der Rückseite sind Lilienbeschläge angebracht. Die zweiteilige Rückenlehne läuft in eine runde Bekrönung aus, in der eine fünfblättrige Rosette aus vergoldetem Silber aufgenietet ist. Die untere Fläche der Rückenlehne und die seitlichen Wangen sind oben und an den Seiten von aufgenieteten Ornamentbändern gerahmt. Die seitlichen Bänder umgreifen die Kanten. Die in Niellotechnik ausgeführte Inschrift befindet sich auf punzierten Silberbändern. Die ersten drei Verse sind auf der Rückseite der Rückenlehne im oberen Teil angebracht, der vierte an der Basis der Rückenlehne, der fünfte auf den Oberkanten der Thronwangen. Der Text beginnt in der linken unteren Ecke, läuft nach oben über die Bekrönung zur rechten Seite und setzt dann mit dem dritten Vers wiederum links auf dem waagerechten unteren Rand des oberen Teils der Rückenlehne neu ein. Die Inschriften sind ohne Worttrennung ausgeführt.

Maße: H.: 33 cm (Thron ohne Sockel), 52 cm (Figur); B.: 17,2 cm (Thron); Bu.: 0,6 cm.

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

Hildesheim, Dom-Museum [1/1]

  1. QVE(M) DEDIT AN(TE) PAT(ER) PARIT H(VN)Ca) I(N) T(EM)P(O)R(E) MATERb) / + NVT(R)IT(VR)c) REGIT(VR) S(ED) EA(M) FOVET VNDE FOVETVR + INCIPIT / ET(ER)N(VS) CIB(VS) ESVRITd) IMA SVP(ER)NVS / + DVC AD I(N)OCCIDVAM PASTORE(M) C(VM) GREGE · V/ITAM / + ACCEPTES TRVTINA PLVS / FACTIS VOTA GVB(ER)NAe)

Übersetzung:

Den der Vater vor der Zeit geschaffen hat, den gebiert in der Zeitlichkeit die Mutter. Er wird aufgezogen und gelenkt, aber [eigentlich] hegt er die, von der er gehegt wird. Er beginnt, [obwohl] er ewig ist. Die hohe [himmlische] Speise [Christus] hungert nach dem Niedrigsten [d. h. der Menschwerdung]. Führe den Hirten mit seiner Herde zu einem unvergänglichen Leben. Lege auf der Waage den Taten etwas hinzu, lenke die Gebete.

Versmaß: Hexameter, teils ein-, teils zweisilbig leoninisch gereimt.

Kommentar

Die Inschrift ist durch zahlreiche Abkürzungen und einzelne Ligaturen charakterisiert. A, E, M und T kommen in runder wie in kapitaler Form vor, F nur in der runden Form. Das unziale M ist links geschlossen, der rechte Bogen endet deutlich über der Grundlinie. Auffällig gestaltet sind die eingerollten G mit einem nach unten durchgebogenen Anschwung am oberen Bogenende und das runde F, dessen Mittelbalken die Haste durchschneidet. E und C sind offen, einzelne E haben jedoch an den Enden der Querbalken ausladende Sporen, die fast aneinanderstoßen und in wenigen Fällen den Eindruck eines geschlossenen Buchstabens vermitteln. Diese Buchstabenformen legen eine Datierung der Schrift in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts nahe. Die Gestaltung der Figur und die Ausführung des Filigrans auf den Gewandsäumen sprechen ebenfalls für diesen zeitlichen Ansatz.2) Die Madonna ist von Bertram und Herzig ins 13. Jahrhundert datiert worden; Elbern/Reuther haben sie als „im Kern spätromanisch“ bezeichnet, Zeller ordnet sie dem Übergang vom 13. zum 14. Jahrhundert zu.3)

Die ersten drei Verse der Inschrift formulieren in Paradoxa das Wunder der Menschwerdung Christi. Der zweite Teil (Verse 4 und 5) dürfte als Gebet des Stifters an Maria aufzufassen sein. Sie soll den Hirten – also wohl den geistlichen Stifter – mit seiner Herde führen sowie bei der Wägung seiner Seele im Jüngsten Gericht die guten Taten des Beters schwerer machen und als Vermittlerin der Gebete vor Christus auftreten.4)

Textkritischer Apparat

  1. H(VN)C] Als Kürzungszeichen dient wahrscheinlich der zweite Querbalken des H.
  2. H(VN)C I(N) T(EM)P(O)R(E) MATER] hunc ibi propria mater Kratz, Kd.
  3. NVT(R)IT(VR)] I über dem ersten T.
  4. ESVRIT] V kleiner als die übrigen Buchstaben, die erste Haste endet unterhalb der zweiten.
  5. GVB(ER)NA] B ist in der halbunzialen Form ausgeführt mit einem Querstrich im Schaft; SVPINA Kratz, Kd.; Berges notiert dazu (Slg. Rieckenberg, S. 330): „SVTNA mit gotischem Majuskel-T wohl ein Versehen des Goldschmieds für das durch den Reim gebotene ‚supina‘, das auch Kratz las.“

Anmerkungen

  1. Inv. Nr.: DS 36.
  2. Für freundlichen Rat bei der stilistischen Einordnung danke ich Frau Dr. Elisabeth Scholz † und Herrn Dr. Michael Brandt, Dom-Museum Hildesheim.
  3. Vgl. Bertram, Bistum 1, S. 262; Herzig, Dom, S. 50. Herzigs Angabe, daß die Madonna bei einem Einbruch in die Schatzkammer zerstört wurde, ist zu korrigieren. Sie wurde lediglich geraubt und nach ihrer Wiederauffindung restauriert, wobei die Köpfe der Madonna und des Kindes erneuert werden mußten (vgl. Elbern/Reuther, Domschatz, S. 49); s. a. Zeller in Kd. Hildesheim, Kirchen, S. 110.
  4. Zur Rolle Marias im Jüngsten Gericht s. Marienlexikon, hg. von Remigius Bäumer und Leo Scheffczyk. Bd. 2, St. Ottilien 1989, S. 626f., s. v. ‚Gericht‘.

Nachweise

  1. Kratz, Dom 2, S. 173.
  2. Kd. Hildesheim, Kirchen, S. 110.
  3. Slg. Rieckenberg, S. 201f., S. 328–331 (Berges, mit Zeichnung und Durchreibung).

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 56 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0005609.