Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 697 Rathaus 1632

Beschreibung

Drei Steinplatten. Die Platten befinden sich in einem Raum im dritten Stock des zur Marktstraße hin gelegenen Turms, der bis 1802 in drei Etagen, die die Namen „Lilie“, „Gewölbe“ und „Rose“ trugen, als Gefängnis genutzt wurde.1) Die Platten liegen im Boden vor der Tür, die heute zum Großen Sitzungssaal führt. Auf dem ersten Stein in der Mitte ein Kreuz, links und rechts neben dem oberen Längsbalken der Titulus A, an beiden Seiten des unteren Längsbalkens in zwei Spalten Inschrift B. Auf dem zweiten Stein in neun Zeilen Inschrift C, auf dem dritten D. Die Inschriften sind eingeritzt.

Maße: Erster Stein: H.: 37,5 cm; B.: 61,5 cm. Zweiter Stein: H.: 60 cm; B.: 76,5 cm. Dritter Stein: H.: 23,5 cm; B.: 63,5 cm; Bu.: 8,5 cm (A), 5 cm (B–D).

Schriftart(en): Kapitalis mit einzelnen Minuskeln.

Christine Wulf [1/1]

  1. A

    I(ESVS) N(AZARENVS) // R(EX) I(VDAEORVM)2)

  2. B

    CHrIsTI / PAssIO // EsT NOsTrA // PVrGATIO

  3. C

    ANNO 1632 · 31a) · IANVARI · / EGO · VALENTINVS · WITTEb) / DIACONVSc). SV(M)MId) TEM/PLIe) · INNOCENS · INCArCE/rATVS · SVM · A(VCTORE) · S(ENATV)f) · CONS/VLE · WISENHAVErN · REG/ENTE · PrOPTErg) · MENDA/CIA · STVLTAEh) · MErETrICIS · / ET · fVI · HIC · DETENTVSi) ·

  4. D

    fAC · bEnE · DVm · VIVIS / POST · mOrTEm SI VIVErEj) / · VIS3) ·

Übersetzung:

Das Leiden Christi ist unsere Reinigung. (B)

Im Jahr 1632 am 31. Januar wurde ich, Valentin Witte, Diakon an der Hohen Domkirche, unschuldig auf Veranlassung des Rats unter dem Bürgermeister Wiesenhauer wegen der Lügen einer dummen Dirne eingesperrt und bin hier festgesetzt gewesen. (C)

Tu Gutes, solange du lebst, wenn du auch nach dem Tod leben willst. (D)

Versmaß: Hexameter, in der umgestellten Fassung (vgl. Anm. j) zweisilbig leoninisch gereimt (D).

Kommentar

Valentin Witte war wegen Nothzuchtgunge an einem armen Medchen so ein Gottes Mensch und das almosen gebeten in Haft genommen worden. Das in Inschrift C angegebene Datum bezeichnet wohl den Beginn der Haft. Ein Urteil vom 7. September 1632, das Schnarmacher in seinen Annalen erwähnt, setzte Witte auf freien Fuß.4) Folglich ist die in der kopialen Überlieferung (vgl. Anm. i) gegebene Haftdauer von 30 Wochen, auch wenn sie sicher nicht inschriftlich ausgeführt war, annähernd korrekt. Wenige Tage nach diesem Urteil hat Valentin Witte zwei vom 13. September 1632 stammende Schreiben aufsetzen lassen, in denen er seine Unschuld beteuern und unter anderem auf formale Fehler bei der Prozeßführung hinweisen läßt. Ein Geistlicher (in ordinibus maioribus constituirte Persona) müsse sowohl in Kriminal- als auch in Zivilsachen einem kirchlichen Gericht vorgeführt werden (quod clericus coram judice seculari laico conuenire non possit, sed tam in criminalibus quam causis ciuilibus coram judice ecclesiastico conuenire debeat) und dürfe nicht von einem weltlichen Gericht verurteilt werden.5) Außerdem wird die Aussage eines Zeugen entkräftet, der auf Befragen zugeben muß, daß er den Akt der Vergewaltigung nicht gesehen, sondern nur von Dritten den Vorfall erfahren habe.

Vergleichbare Inschriften von Gefangenen finden sich u. a. auch in den Inschriftenbeständen Bretten und Göttingen.6)

Textkritischer Apparat

  1. 31] mense HS C 27, Beiträge, Sonntagsblatt.
  2. WITTE] Wiessel HS C 27, Beiträge, Sonntagsblatt. Die Lesung WITTE ist nicht eindeutig, möglich auch WITsE, s als Schaft-s ausgeführt.
  3. DIACONVS] Vicarius HS C 27, Beiträge, Sonntagsblatt.
  4. SV(M)MI] maioris HS C 27, Beiträge, Sonntagsblatt.
  5. TEM/PLI] Templi huc HS C 27, Beiträge, Sonntagsblatt.
  6. INCArCE/rATVS · SVM · A(VCTORE) · S(ENATV)] Fehlt HS C 27, Beiträge, Sonntagsblatt.
  7. PrOPTEr] ob HS C 27, Beiträge, Sonntagsblatt.
  8. STVLTAE] T in L gestellt. Stupratae HS C 27, Beiträge, Sonntagsblatt.
  9. ET · fVI · HIC · DETENTVS] sum detentus per septimanas triginta HS C 27, Beiträge, Sonntagsblatt. Der originale Befund schließt aus, daß an dieser Stelle auch noch die Haftdauer angegeben war.
  10. SI VIVErE] Aus metrischen Gründen sind die beiden Wörter umzustellen.

Anmerkungen

  1. DBHi, HS C 27, Kap. 6: Rathaus S. 17 (Kratz) mit weiteren Ausführungen zu den Gefängnisräumen im Hildesheimer Rathaus.
  2. Io. 19,19.
  3. Walther, Proverbia 1, Nr. 8635.
  4. Wie Anm. 1 und DBHi, HS 115, S. 156.
  5. StaHi, Bestand 100-127, Nr. 14. In diesen Schreiben ist Valentin Witte abweichend von dem in DBHi, HS 115 überlieferten Datum der Freilassung noch als Inhaftierter bezeichnet. Zu den Rechtsverhältnissen zwischen Stadtgemeinde und Domimmunität vgl. Thomas Klingebiel: Stadtgemeinde und Domimmunität in Hildesheim vom 15.–17. Jahrhundert. In: Küche Keller Kemenate. Alltagsleben auf dem Domhof um 1600. Katalog zur Ausstellung im Diözesan-Museum Hildesheim 1990, hg. von Karl Bernhard Kruse. Hildesheim 1990, S. 20–35, speziell zu den Kriminalsachen S. 33.
  6. DI 20 (Karlsruhe), Nr. 163; Sabine Wehking, Christine Wulf: Von Bürgern und Missetätern: Die Graffiti im Gefängnis des Göttinger Rathauses. In: Göttinger Jahrbuch 1999, S. 39–61.

Nachweise

  1. DBHi, HS C 27, Kap. 6: Rathaus, S. 17 (C).
  2. Beiträge zur Hildesheimischen Geschichte 1, S. 330 (C).
  3. Hildesheimer Sonntagsblatt 1868, S. 222 (C).
  4. Mithoff, Kunstdenkmale, S. 169 (nach: Beiträge zur Hildesheimischen Geschichte).
  5. Slg. Rieckenberg, S. 1050 (C).

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 697 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0069700.