Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 364† Neustädter Markt 27 (no. 907) 1550, 1601

Beschreibung

Haus.1) „Neustädter Schenke“. Fachwerk. Das dreigeschossige, an der Giebelseite sieben und an der Traufe neun Gefache breite Haus war am Giebel mit zwei Erkern versehen. Es wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Über der Tür war an den Ständern zweimal das Wappen der Neustadt angebracht. Auf dem dazwischenliegenden Sturz befand sich wahrscheinlich eine zweizeilige Inschrift, die auf den Photographien nicht mehr lesbar ist. Die Inschriften A waren auf dem Schwellbalken des ersten Obergeschosses als Beischriften zu den in den darüberliegenden Brüstungstafeln befindlichen allegorischen Darstellungen der Planetengötter,2) der Völlerei (Gula) und des Bacchus angebracht; Inschriften B als Beischriften zu Darstellungen der Musen in den Brüstungstafeln des zweiten Obergeschosses. Die Beischriften C auf dem Schwellbalken des ersten Obergeschosses der Traufenseite unterhalb von Darstellungen der neun guten Helden in den Brüstungstafeln. Von links nach rechts waren in Flachschnitzerei in von Beschlagwerkornamenten umgebenen Medaillons teils im Profil, teils im Brustbild dargestellt: Alexander der Große, David mit Leier, Karl der Große mit Schwert, Gottfried von Bouillon, eine Fratze oberhalb der Jahreszahl, Julius Cäsar, König Artus, Judas Makkabäus und Hektor. Inschrift D an der Südseite des Hauses war neben einem Brustbild des Josua angebracht und setzte C in der gleichen Höhe fort. Diese Inschrift war schon vor der Zerstörung des Hauses durch das angrenzende Nachbarhaus verdeckt. Inschrift E befand sich im Bogen der Kellertür eines Vorgängerbaus. Die Inschriften waren erhaben vor vertieftem Hintergrund ausgeführt.

Inschriften A, C nach Photos Roemer-Museum H 4512/80f., StaHi, Bestand 953, Nr. 121 u. Nr. 124; Inschrift B nach Kd. Hildesheim, Bürgerliche Bauten, D nach Schütte, E nach Photo Roemer-Museum H 6915.

Schriftart(en): Kapitalis.

Stadtarchiv Hildesheim [1/2]

  1. A

    LVNA // VENVS // GVLA // MERCVRIVS // SOL // MARS // BACHVS // IVPITER // SATVRNVS

  2. B

    VRANIA // CALIOPE // EVTERPE // THALIA // MVSICA // MELPOMENE // TERPSICHORE // POLIMNIA // CLIO3)

  3. C

    ALEXANDER · // DAVID REX · // CAROL(VS) MAGN(VS) // GODFRID(VS) BVLO(NIVS) // A(NN)O · D(OMI)NI · 1601 · // IVLI(VS) CAESAR · // ARTVS REX · // IVDAS MACHAB(EVS) · // HECTOR TROIAN(VS) ·

  4. D

    IOSVA

  5. E

    1550

Wappen:
Neustadt Hildesheim*

Kommentar

Die neun guten Helden (C, D) gliedern sich in drei Dreiergruppen: als Vertreter des Judentums Josua, David und Judas Makkabäus, als Vertreter der heidnischen Antike Hektor von Troja, Alexander der Große und Julius Cäsar sowie als Helden des Christentums: König Artus, Karl der Große und der Eroberer Jerusalems, Gottfried von Bouillon. Sie repräsentieren in der französischen Literatur des frühen 14. Jahrhunderts zunächst die Idealgestalten des Rittertums. In den spätmittelalterlichen Darstellungen in Deutschland (Rathausfassade in Hamburg, Hansasaal des Kölner Rathauses, Amtsstube der Weberzunft in Augsburg u. a.) treten sie vor allem als Helden der Gerechtigkeit im Zusammenhang mit der städtischen Gerichtsbarkeit auf und dienen dem Bürger als Vorbild für gerechtes Handeln. Gleichermaßen stehen sie als Allegorien der dreigeteilten Heilsgeschichte, d. h. für die Ära des Naturgesetzes (Heiden), des mosaischen Gesetzes (Juden) und der Gnade (Christen).4)

In der Reihe der Musen (B), die seit der Antike als Beschützerinnen des geistigen Lebens gelten, ist an die Stelle der für Tanz und Liebesdichtung zuständigen Erato (vgl. Anm. 3) die Musica getreten. Die in der römischen Antike benannten fünf Planeten (A) sind Saturn, Jupiter, Mars, Venus und Merkur. Mond und Sonne zählen, da sie auch bzw. ausschließlich am Tag beobachtet werden können, nicht dazu, sie bilden aber zusammen mit den fünf Planeten die Personifikationen der Wochentage. Bacchus und Gula dürften im Hinblick auf die Funktion des Hauses als Schenke in diese Reihe hineingenommen worden sein.

Die Neustädter Schenke wird 1562 zum ersten Mal erwähnt,5) die Jahreszahl 1550 bezeichnet wahrscheinlich das Baudatum der ersten Ratsschenke der Neustadt.

Anmerkungen

  1. Beschreibung nach Photos Roemer-Museum, Inv. Nr.: H 4512/80f. und Kd. Hildesheim, Bürgerliche Bauten, S. 129.
  2. Behrendsen führt die Darstellungen auf die Planetengötter des Virgil Solis zurück, vgl. O. Behrendsen: Darstellungen von Planetengottheiten an und in deutschen Bauten. Straßburg 1926 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 236), S. 47.
  3. Die Musen stehen im einzelnen für folgende Disziplinen: Urania – Astronomie, Kalliope – Saitenspiel und heroische Dichtung, Euterpe – Flötenspiel, Thalia – Komödie, Melpomene – Tragödie, Terpsichore – Musik, Erato – Tanz und Liebesdichtung, Polyhymnia – Pantomime und Tanz, Clio – Geschichtsschreibung.
  4. Robert L. Wyss: Die neun Helden. Eine ikonographische Studie. In: Zeitschrift für schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 17 (1957), S. 37–106, hier S. 73, S. 87, S. 91; Jörg Rogge: Die Bilderzyklen in der Amtsstube des Weberzunfthauses in Augsburg von 1456/57. In: Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter. Festgabe für Klaus Schreiner, hg. von Andrea Löther u. a., München 1996, S. 319–343, hier: S. 327–329.
  5. Gebauer, Geschichte Neustadt, S. 77.

Nachweise

  1. Photo Roemer-Museum H 4512/80f., H 6915.
  2. Photos StaHi, Bestand 953, Nr. 121 u. Nr. 124.
  3. Kd. Hildesheim, Bürgerliche Bauten, S. 129f.
  4. Schütte, Hildesheimer Hausinschriften, S. 71.
  5. Sonnen, Holzbauten, Abb. 157–165.
  6. Photo NLD, R 88-474/1 und 3 (A, C).
  7. Slg. Rieckenberg, S. 795, zwei Photos.

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 364† (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0036406.