Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 222† Kläperhagen 7 1499, 1501, 1539, 1549

Beschreibung

Haus. Ehemalige Dechanei des Heilig-Kreuz-Stifts.1) Das Haupthaus bestand aus einem massiven Untergeschoß und einem Fachwerkobergeschoß. An dem zum Zeitpunkt der Denkmäleraufnahme durch Zeller im Jahr 1912 bereits abgebrochenen Hinterhaus auf dem Schwellbalken des Giebels die teilweise verdeckte Inschrift A, durch vier Wappen unterbrochen. An dem im Zweiten Weltkrieg zerstörten Haupthaus waren auf dem Schwellbalken die Inschriften B–E angebracht. Am Beginn von B und am Ende von E jeweils zwei Wappen in Medaillons. Auf der Rückseite des Hauses Inschrift F. Über einer Tür in einer Mauer an der Straße ein Wappenstein mit der Jahreszahl G, daneben ein weiteres Wappen mit der Jahreszahl und den Initialen (H). Von dem Haus ist außerdem der Scheitelstein eines Bogens mit dem Wappen des Heilig-Kreuz-Stifts und der Jahreszahl 1783 überliefert.

Inschriften A–F nach DBHi, HS C 761; G und H nach Slg. Rieckenberg, Photo eines Aquarells (Quint).

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Fraktur-Versalien (B–F), gotische Minuskel mit Versalien der gotischen Majuskel und der Kapitalis (H).2)

Hildesheim, Dombibliothek [1/1]

  1. A

    Iohan(n)es · Therwin · quo(n)da(m) · decan(us) eccl(esi)e · Hilde(n)sem(ensis)a) Iohan(n)es · de alten quo(n)da(m) Senior ecclesye s(an)c(t)e Cruc(is) Siffrid(us) anthonij canonic(us) ibide(m) has edes erexit · An(n)o salutis M° cccc° xcix° k(a)l(endis) J[ulii]b)3)

  2. B

    Anno d(omi)ni 1549 Virtus. Ecclesia. Clerus. Demon Simonia. Cessat. turbatur. errat. regnat. dominatur.4)

  3. C

    Verbu(m) d(omi)ni manet in eternu(m).5)

  4. D

    Nil nisi diuinu(m) stabile humana laborantc) · lignea cum saxis sunt p(er)iturad) suis ·

  5. E

    Joh(ann)es Eccl(esi)e S(ancte) Crucis Scholasticus has edes deo erexit · An(n)o d(omi)ni 1539 k(a)l(endis) Maij6)

  6. F

    In manibus d(omi)ni sortes meee)7) // S(an)cte Crucis Eccl(es)ie. t(em)p(or)e persecutionis Decan(us) Jo(hannes) Oldecop has edes f(ieri) f(ecit) A(nno) 1549

  7. G

    1539

  8. H

    · M · ccccc · i · / S(iffridus) // A(nthony)

Übersetzung:

Johannes Therwin, früher Dechant der Hildesheimer [Dom]kirche. Johannes von Alten, früher Senior der Heilig-Kreuz-Kirche. Siegfried Anthony, Kanoniker ebendort, errichtete dieses Gebäude im Jahr des Heils 1499 an den Kalenden des Juli. (A)

Im Jahr des Herrn 1549. Die Tugend schwindet, die Kirche ist erschüttert, der Klerus irrt, der Teufel regiert, die Simonie herrscht. (B)

Das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit. (C)

Nur das Göttliche ist beständig, das Menschenwerk leidet Schaden. Das Holz [dieses Hauses] wird mitsamt seinen Steinen vergehen. (D)

Johannes, Scholaster an der Heilig-Kreuz-Kirche, hat dieses Haus für Gott errichtet. Im Jahr des Herrn 1539 an den Kalenden des Mai. (E)

In den Händen des Herrn [liegt] mein Los. Der Dechant an der Heilig-Kreuz-Kirche Johannes Oldecop hat in der Zeit der Verfolgung dieses Gebäude errichten lassen im Jahr 1549. (F)

Versmaß: Zwei zweisilbig gereimte leoninische Hexameter, singula singulis, d. h. im ersten Vers stehen die Subjekte und im zweiten in derselben Reihenfolge die zugehörigen Prädikate (B).   Elegisches Distichon, der Hexameter in der überlieferten Form metrisch fehlerhaft, der Pentameter einsilbig leoninisch gereimt (D).

Wappen:
Therwin8), Alten I*, Anthony9), ?10)
Heilig-Kreuz-Stift*, Oldecop11), Oldecop12), ?13)
Oldecop11)
Anthony9)

Kommentar

Der in Inschrift A erwähnte Domdechant Johannes Therwin ist mit dem Titel eines Magister für das Jahr 1471 als Kanoniker an Heilig Kreuz nachgewiesen. Er starb 1483.14) Johannes von Alten gründete gemeinsam mit seinem Bruder Dietrich das Von Altensche Hospital auf dem Brühl (vgl. Nr. 217). Im Jahr 1488 wird er als nicht mehr lebend genannt.15) Der Kanoniker an Heilig Kreuz und Domvikar Siegfried Anthony führte in den Jahren 1494 bis 1497 an der römischen Rota einen Prozeß um ein Kanonikat und eine Pfründe an Heilig Kreuz.16) Er starb vor 1536. Nach seinem Tod kaufte Johannes Oldecop im Jahr 1536 aus dem Nachlaß die damals baufällige Kurie für 150 Gulden.17) Inschrift E legt nahe, daß eine erste Phase der Renovierung der Kurie drei Jahre nach dem Erwerb abgeschlossen war, der endgültige Abschluß der Arbeiten erfolgte im Jahr 1549 (B, F).

Johannes Oldecop wurde 1493 als Sohn des Hildesheimer Stadtbaumeisters Hinrik Oldecop geboren.18) Im Jahr 1515 immatrikulierte er sich an der Universität Wittenberg19) und erwarb dort ein Jahr später sein Bakkalaureat. In dieser Zeit kam er mit Luther in näheren Kontakt, bekannte sich aber Zeit seines Lebens nicht zur evangelischen Lehre. Im September 1519 setzte er seine Studien in Italien fort. 1526 wurde er zum Priester geweiht,20) 1528 erhielt er ein Kanonikat am Heilig-Kreuz-Stift und wurde dort zwei Jahre später Scholaster, 1549 Dechant. Damit war Oldecop – wenn auch dem Propst nominell nachgeordnet – bis zu seinem Tod am 5. Januar 1579 der wichtigste Repräsentant des Stifts und hatte als solcher authentischen Einblick in sämtliche kirchen- und stadtpolitischen Vorgänge und Entscheidungen. Diese Erfahrungen hat er in einer Chronik der Jahre 1500 bis 1573 festgehalten.21) Er begreift seine eigene Lebenszeit als gekennzeichnet von einem „fundamentalen Wandlungsprozeß“, in dem er das Wertesystem der alten ständischen Gesellschaft durch die politischen Folgen der Reformation im Kern gefährdet sieht.22) Diese pessimistische Einschätzung der eigenen Zeit als tempus persecutionis (F) ‚Zeit der Verfolgung‘ spiegelt sich auch in den an seinem Haus angebrachten Inschriften. Am deutlichsten findet seine Stimmung Ausdruck in Inschrift B, in der er mit einer bereits seit dem 12. Jahrhundert tradierten Zeitklage die herrschenden innerweltlichen Zustände kritisiert. Seine Hoffnung setzt er allein in das Wirken Gottes (D, F). Auffällig ist in diesem Inschriftenprogramm der lutherische Kampfspruch Verbum Domini manet in eternum (C).23) Möglicherweise ist diese Devise hier bewußt gegen ihre reformatorische Verwendung eingesetzt und drückt das Vertrauen in Gott aus, daß er seine Zusagen einhalten und die alte katholische Ordnung bewahren werde.

Textkritischer Apparat

  1. Hilde(n)sem(ensis)] Danach eine Zeigehand.
  2. Klammern so in HS C 761.
  3. So in der Zeichnung in HS C 761 überliefert, möglicherweise war der Vers bereits im Original fehlerhaft ausgeführt. Sinnvoller und metrisch korrekt wäre: Nil nisi diuinum stabile [est] humana labuntur ‚Nur das Göttliche ist beständig, Menschenwerk schwindet dahin.‘
  4. p(er)itura] per-Kürzel fehlt Slg. Rieckenberg, Photo eines Aquarells; p(er)itura HS C 761 (Zeichnung).
  5. Nach mee ein Blatt an einem Stengel als Zeilenfüller.

Anmerkungen

  1. Beschreibung nach Kd. Hildesheim, Bürgerliche Bauten, S. 180–182.
  2. Schriftart nach Photo eines Aquarells von Heinrich Quint (1898) in der Slg. Rieckenberg.
  3. 1. Juli.
  4. Vgl. Walther, Proverbia 5, Nr. 33656. Diese Verse wurden ebenfalls im Jahr 1549 am Amtshaus in Forst bei Bevern (Ldkr. Holzminden) angebracht. Der Text entspricht mit leicht verändertem Wortlaut dem Versus 3 des Carmen buranum 5: Virtus ecclesia clerus mamon symonia / cessat calcatur ambit regnat dominatur, vgl. Carmina burana, hg. von Benedikt Konrad Vollmann. Frankfurt/M. 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker 16), S. 18. Nachweis Diehl (wie Anm. 18), S. 188.
  5. Lutherische Devise nach 1. Pt. 1,25. Vgl. DI 42 (Einbeck), S. XXI mit Anm. 38.
  6. 1. Mai.
  7. Nach Ps. (G) 30,16; vgl. Dielitz, Wahl- und Denksprüche, S. 150.
  8. Wappen Therwin (drei dreibeinige Kessel 2:1). Vgl. StaHi, Bestand 856, Nr. 50/268/9, Kasten 32.
  9. Wappen Anthony (Lilie). Vgl. StaHi, Bestand 856, Nr. 50/268/9, Kasten 29.
  10. Wappen ? (leerer Schild).
  11. Wappen Oldecop (gespalten, vorn rechtshalber Adler am Spalt, hinten drei Tannenzapfen). Vgl. StaHi, Bestand 856, Nr. 50/268/8, Kasten 23. Bei Siebmacher/Hefner (Wappenbuch, Bd. 3, Abt. 2, S. 285, Tafel 337) ist das Wappen Oldecop falsch blasoniert: vorn halber Adler, hinten drei Kugeln pfahlweise.
  12. Wappen Oldecop, linksgewendet (Beschreibung wie Anm. 11).
  13. Wappen ? (drei Mühleisen pfahlweise).
  14. Vgl. DBHi, HS C 1034, S. 73. Der zweite in dieser Handschrift gegebene Nachweis (ebd., S. 82) eines Kanonikers Johannes Therwin mit der Jahreszahl 1508 ist wahrscheinlich falsch oder bezieht sich auf eine andere Person. Näheres zur Biographie Therwins s. im Kommentar zu seiner Grabinschrift (Nr. 198).
  15. UB Stadt 8, Nr. 165.
  16. Vgl. Hilling, Rota, S. 45, S. 94.
  17. UB Stadt 8, Nr. 842; Zeppenfeldt (DBHi, HS C 1034, S. 82) gibt den 30. Dezember 1513 als Todestag des Siegfried Anthony an.
  18. Die folgenden Ausführungen zu Johannes Oldecop und zu den Inschriften an seinem Haus beruhen auf: Gerhard Diehl: Exempla für eine sich wandelnde Welt. Studien zur norddeutschen Geschichtsschreibung im 15. und 16. Jahrhundert. Bielefeld 2000 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen 38), S. 183–188.
  19. Matrikel Wittenberg, Bd. 1, S. 54b, Zeile 18.
  20. UB Stadt 8, Nr. 749.
  21. Ausgabe: Chronik des Johan Oldecop, hg. von Karl Euling. Tübingen 1891 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 190).
  22. Vgl. Diehl (wie Anm. 18), S. 242.
  23. Der Spruch kommt auch in Helmstedt in katholischem Zusammenhang vor: Ende des 17. Jahrhunderts wurde er an der Kanzel von St. Ludgeri angebracht. Für diesen Hinweis danke ich Frau Dr. Ingrid Henze, Helmstedt.

Nachweise

  1. DBHi, HS C 761, o. S.
  2. Slg. Rieckenberg, S. 650, S. 792, Photo eines am 1. 10. 1898 angefertigten Aquarells von Heinrich Quint, dessen Original im Roemer-Museum aufbewahrt wird (H 1866).
  3. Mithoff, Kunstdenkmale, S. 141f.
  4. Kd. Hildesheim, Bürgerliche Bauten, S. 181f.
  5. Wulf, Kratz, S. 179 mit Abb. aus DBHi, HS C 761.

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 222† (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0022203.