Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 58: Stadt Hildesheim (2003)
Nr. 182 St. Godehard 1466
Beschreibung
Chorgestühl. Eichenholz. Wangen und Baldachine des Chorgestühls wurden im 19. Jahrhundert aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gelöst und zu vier Kirchenbänken umgearbeitet.1) Die Bänke sind heute in den Chorseitenschiffen aufgestellt. Sie sind mit einem erneuerten schlichten Dorsale versehen und von gotischen Maßwerkbaldachinen überbaut.2) An der einen Seite der Bänke sind die Wangen bis zum Baldachin hinaufgezogen, ihre Innenseiten zeigen Darstellungen im Relief. An der anderen Seite reichen die Wangen nur bis in Kopfhöhe, sie tragen jeweils eine freistehende vollplastische Figur. Bei den heute dort aufgestellten Figuren handelt es sich um Nachbildungen, die Originale stehen in der Schatzkammer der St. Godehard-Kirche. Die Aufstellung der Figuren entspricht nicht mehr der originalen Anordnung (vgl. Kommentar). Die Außenfüllungen der niedrigen Wangen sind mit Relief-Schnitzereien verziert, an den Außenkanten jeweils kleine vollplastische Figuren.
Die westliche Bank im südlichen Chorseitenschiff (Bank I) zeigt auf der niedrigen Wange den heiligen Bernward mit Bischofsstab und Bernwardkreuz. Unterhalb der Figur in der äußeren Füllung die Darstellung eines Mönchs mit Spruchband (A) im Relief. Auf der östlichen Bank des südlichen Chorseitenschiffs (Bank II) steht eine vollplastische Statue der Gottesmutter mit Kind. Darunter ist in der äußeren Wangenfüllung im Relief eine Frau dargestellt, die in der Rechten eine Schale mit zwei Fischen und in der linken Hand einen Krug hält (die heilige Elisabeth von Thüringen?). Zu Füßen der Gottesmutter, an der vorderen Kante der Wange, eine weibliche Figur (oder ein Engel?) mit einem Rosenkranz und Spruchband (B). Die östliche Bank des nördlichen Chorseitenschiffs (Bank III) zeigt auf der niedrigen Wange Bischof Bernhard mit dem Kirchenmodell von St. Godehard. An der Vorderkante der Wange eine Teufelsfigur mit einer Schriftrolle (?) und einem Spruchband (C). Die Inschrift auf diesem Spruchband steht für den Betrachter auf dem Kopf, sie ist lesbar für den darüberstehenden Bischof. An der westlichen Bank des nördlichen Chorseitenschiffs (Bank IV) die vollplastische Figur des heiligen Benedikt mit Krummstab und Buch. An der Vorderkante der Wange ein sitzender lesender Mönch. Das an dieser Bank außen an der Wange vorhandene Schriftband ist leer.
Die Inschriften sind erhaben geschnitzt, einzelne Buchstaben sind durch die Windungen des Schriftbandes „verdeckt“, d. h. nicht ausgeführt. Als Worttrenner sind Rosetten und Quadrangeln verwendet worden.
Maße: H.: 318–369 cm; B.: 415 cm; Bu.: 3,2–3,5 cm.
Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien in gotischer Majuskel.
- A
· almea) · pater · tuere · nostros · exi usb) · p(...)c) M° cccc° lxvi°
- B
ave · maria · gracia plena3) · ted)
- C
Godeh(ar)dvm nec audire nece) possvmf)4)
Übersetzung:
Gnädiger Vater, schütze unser Ende [...]. 1466. (A)
Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade, [der Herr ist mit] dir. (B)
Ich kann Godehard weder hören noch [sehen]. (C)
Textkritischer Apparat
- alme] a(n)ime Kd.
- exi us] Statt exitus, t nicht ausgeführt, da das Schriftband abknickt; ex illis Mithoff, Kd., Habicht.
- p(...)] Auflösung unsicher, vielleicht p(ost).
- te] Davor ist dominus auf der Rückseite des Schriftbandes zu denken, danach cum, also dominus tecum.
- Godeh(ar)dvm nec audire nec] Godeharde Dominum exaudire nost... (?) Habicht. – Die untere Hälfte der Buchstaben des zweiten nec ist durch die Windung des Schriftbandes „verdeckt“, d. h. nicht ausgeführt.
- possvm] Von p ist nur der rechte obere Teil des gebrochenen Bogens erkennbar, die dritte Haste des m fehlt. Nach possvm ist entsprechend dem Wortlaut der Vita Godehardi posterior (vgl. Anm. 4) zu ergänzen uidere.
Anmerkungen
- Kat. Schatz von St. Godehard, S. 41 (Brandt).
- Detailliertere Beschreibung s. Hans Reuther: St. Godehard zu Hildesheim. Bau und Ausstattung der St.-Godehardi-Kirche. In: Diözese 37 (1969), S. 76–107, hier S. 93f.
- Liturgischer Text nach Lc. 1,28.
- Vgl. Vita Godehardi posterior, MGH SS XI, S. 207, Z. 6/7: Godehardum se nec audire posse nec videre. Nachweis Karl Henkel: Bischof Bernhard I. von Hildesheim. In: Diözese 7 (1933), S. 1–18, hier S. 10.
- Vgl. die Signaturbuchstaben (Nr. 316) und das Klosterwappen auf den Schlußsteinen (Nr. 214).
- Vgl. Henkel (wie Anm. 4), S. 11.
- Godehard ist lediglich im Relief an der Innenwand von Bank IV dargestellt. Er trägt das Modell der von ihm gestifteten Kirche St. Bartholomäus zur Sülte, vgl. Nr. 756.
- Wie Anm. 1.
- Wie Anm. 2; im Chronicon Coenobii Godehardi des Johannes Legatius (Leibniz, Scriptores 2, S. 420) heißt es über Abt Lippold, daß er ein anderes Werk im Chor, was sie Chorgestühl nennen, gestiftet habe, ein ebenso schönes wie kostspieliges Werk, das mit meisterlicher Kunstfertigkeit gearbeitet wurde.
- Bertram, Bistum 1, S. 415.
- LCI 5, Sp. 351–363, hier Sp. 353; 2LThK 2, Sp. 182f. mit dem Hinweis auf ein Gebet um eine gute Todesstunde, das nach der Komplet in manchen Benediktiner-Klöstern üblich ist.
- DBHi, HS 628a Liber monasterii sancti Godehardi prope Hildensem ordinis sancti patris Benedicti, zitiert nach Kat. Schatz von St. Godehard, S. 58.
- Für wertvolle Hilfe bei der Zuordnung des heiligen Benedikt zu der Inschrift Alme pater ... danke ich Herrn Pfarrer Winfried Henze, St. Godehard (Hildesheim) sowie Herrn Professor Dr. Benedikt Konrad Vollmann, Eichstätt.
- Kratz (DBHi, HS C 1598b, S. 93) ordnet das Spruchband mit Inschrift A dem heiligen Benedikt zu. Folglich war die Anordnung der Figuren im 19. Jahrhundert noch korrekt.
Nachweise
- Viktor Curt Habicht: Die niedersächsischen mittelalterlichen Chorgestühle. Straßburg 1915 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 181), S. 30.
- Adalbert Schippers OSB: Zwei Inschriften am Chorgestühl von St. Godehard in Hildesheim. In: Zeitschrift für christliche Kunst 1918, Nr. 3/4, S. 36f.
- Mithoff, Kunstdenkmale, S. 147 (A).
- Kd. Hildesheim, Kirchen, S. 240 (A).
- Karl Henkel: Bischof Bernhard I. von Hildesheim. In: Diözese 7 (1933), S. 11.
- Slg. Rieckenberg, S. 612, zwei Photos.
Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 182 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0018204.
Kommentar
Die Inschriften sind in einer sehr sorgfältig gestalteten gotischen Minuskel ausgeführt worden. Auffällig ist der Versal G in Inschrift C: ein stark abgeplattetes eingerolltes G mit zwei ausgeprägten Bogenschwellungen, von denen die linke außen gerade abgeschnitten ist. Diese G-Form übernimmt das G des Klosterwappens und ist für die Inschriften des Godehardklosters charakteristisch.5)
Die Inschriften A–C sind als Anreden der im unteren feststehenden Bereich der Wangen angebrachten Figuren an die darüber befindlichen vollplastisch dargestellten formuliert. Sie geben damit wichtige Hinweise für die Rekonstruktion der ursprünglichen Zuordnung der vollplastischen Figuren zu den Wangen. Bank II mit der Gottesmutter (Inschrift B) hat die originale Anordnung bewahrt. Die an Bank III angebrachte Inschrift C zitiert eine Stelle aus der Vita Godehardi posterior: Bei der Heilung einer vom Teufel besessenen Frau durch den heiligen Godehard soll der Teufel durch die Frau gesagt haben: Godehardum se nec audire posse nec videre.6) Folglich müßte über dem von einem Teufel gehaltenen Spruchband an Bank III der heilige Godehard angebracht gewesen sein. Bei der dort aufgestellten Figur handelt es sich aber – ausgewiesen durch das Kirchenmodell – um den Klostergründer, Bischof Bernhard. Godehard, neben Maria Patron des Klosters, fehlt unter den vollplastischen Darstellungen des ehemaligen Chorgestühls.7) Stattdessen ist der Stifter von St. Michaelis, der heilige Bernward, an Bank I dargestellt. Brandt hat wohl zu Recht vermutet, daß „eine Darstellung des Erbauers der Michaeliskirche [...] ursprünglich aber sicher nicht gemeint“ war.8) Er weist darauf hin, daß das Attribut an der originalen Bernwardfigur, das Krückenkreuz, nur lose eingesteckt war. Ohne dieses Krückenkreuz wäre die Figur als Darstellung des Bischofs Godehard zu interpretieren und folglich der Bank III mit dem Schriftband C zuzuordnen. Auf Bank I kann also entweder die Figur Bischof Bernhards mit dem Kirchenmodell von St. Godehard oder die des Ordensgründers Benedikt gestanden haben. Bei dem auf dem unteren, feststehenden Teil der Wange angebrachten Mönch mit dem Spruchband (A) handelt es sich wahrscheinlich um den Stifter des Chorgestühls, Abt Lippold von Stemmen (1465–1473),9) der zu Beginn seiner Amtszeit gemeinsam mit Johannes Busch das Klosterleben im Sinne der Bursfelder Reformen grundlegend erneuerte.10) Die Inschrift auf seinem Spruchband (A) bittet um Beistand in der Todesstunde. Adressat dieser Bitte ist sicherlich der heilige Benedikt; denn dieser gilt als Patron der guten Sterbestunde und der Sterbenden.11) Die in der Inschrift verwendete Anrede pater ist für den heiligen Benedikt, den pater monachorum, durchaus üblich. Speziell für Hildesheim ist sie in einem Besitzeintrag in einer Handschrift aus St. Godehard nachweisbar12) sowie auf einer möglicherweise ebenfalls aus St. Godehard stammenden Altartafel (Nr. 311 sanctissime pater Benedicte).13) Mit Hilfe der Inschrift A läßt sich also rekonstruieren, daß der heilige Benedikt als vollplastische Figur der Bank I zugehört.14) Für den Klostergründer Bernhard bleibt folglich die mit einem leeren Schriftband versehene Bank IV.