Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 177† Marktstr. 25/26 (no. 317/318) 1463, 1543, 1609, 1611

Beschreibung

Doppelhaus.1) Fachwerk. 12 Gefache breit, dreigeschossig mit zwei nachträglich vorgebauten Erkern. Das Gebäude war zur Zeit der Denkmäleraufnahme durch Zeller im Jahr 1912 bereits abgebrochen.2) Inschrift A befand sich im mittleren, ältesten Teil des Gebäudes auf dem Schwellbalken des Obergeschosses. Über der Tür waren die Jahreszahl B sowie in jedem Türzwickel zwei Allianzwappen angebracht. Zu Anfang des 17. Jahrhunderts wurden die Häuser Marktstr. 25 und 26 als Doppelhaus ausgebaut. Die rechte Haushälfte erhielt im Jahr 1609 einen zweigeschossigen Erker mit den Inschriften C–H, die linke wurde im Jahr 1611 mit einem dreigeschossigen Erker versehen, der die Inschriften I–O trug.

Am rechten Erker war auf dem Schwellbalken des Giebels die Inschrift C angebracht, D wahrscheinlich auf einem der Schwellbalken an der Seite des Giebels neben zwei nicht beschriebenen Wappen, E auf dem Schwellbalken des ersten Obergeschosses, F in der mittleren Brüstungstafel des Erdgeschosses, G als Beischriften zu zwei Wappen in der mittleren Brüstungstafel des Obergeschosses. Die Inschriften H standen als Beischriften zu allegorischen Darstellungen von Tugenden: Justitia und Prudentia in den äußeren Brüstungstafeln am Obergeschoß, Dilectio und Spes in den äußeren Brüstungstafeln im Erdgeschoß. Die Darstellungen der Fides und der Patientia haben sich wahrscheinlich auf den Seiten des Erkers befunden und sind deshalb auf der Zeichnung nicht sichtbar.

Im obersten Giebelfeld des linken dreigeschossigen Erkers war Gottvater mit der Weltkugel dargestellt, die Rechte segnend erhoben. Die Brüstungstafeln dieses Erkers zeigten im Giebel die Göttin der Gesundheit (Hygieia), im zweiten Obergeschoß Hippokrates und Galen sowie im ersten Obergeschoß Chiron, Apollo und Aeskulap. Die Tafeln mit den Darstellungen des Machaon, des Asklepiades und des Dioskorides haben sich wahrscheinlich an den Seiten des Erkers befunden und sind deshalb auf der Zeichnung nicht sichtbar. Die Darstellungen wurden durch die Beischriften I bezeichnet. Auf dem Schwellbalken des Erkergiebels befand sich die Inschrift J, auf dem Schwellbalken des zweiten Obergeschosses K. In einer Brüstungstafel im zweiten Obergeschoß des Erkers waren zwei Wappen mit den Initialen (L) und dem Datum (M) angebracht. Inschrift N befand sich auf dem Schwellbalken des ersten Obergeschosses, O im Erdgeschoß.

Inschriften nach DBHi, HS 789.

Schriftart(en): Gotische Minuskel (A).3)

  1. A

    M° · cccc° · lxiii°a) · to · pasche(n) · led · mi · make(n) · heni(n)g · ka(n)negtrb)4)

  2. B

    1543

  3. C

    Alle gute gabe vnd alle volkomene gabe komet von oben herab von dem Vater des Liechtes · Jacobi am 1. cap.5) 1609

  4. D

    Quod sis esse velis nihilque malis6)

  5. E

    Wir han nur Herberg hie auff Erdn Jm Him(m)el wir ewig wohnen werden

  6. F

    Anno Domini 1609 PSALM 32 Wer auf godt den hern hoffet den wird die guete vmbfahen7)

  7. G

    Joachimus Middeldorf Adelheid Brandis / 1609

  8. H

    JUSTITIA // PRUDENTIA // DILECTICAc) // SPES // FIDES // PATIENTIAd)

  9. I

    HYGEA // HIPOCRATES // GALENVS // DIOSCORIDES // MACHAON // CHIRON // APOLLO // AESCULAP(IVS) // ASCLAPIADE[S]e)

  10. J

    Multa dies varius(que) labor mutabilis aevi Retulit in melius multos alterna revisens Lusit et in solium rursus fortuna locavit8)

  11. K

    Auream quisqu(is) mediocritatem eligitf) tutus caret obsoleti sordibus tectig)9)

  12. L

    J(oachimus) M(iddeldorf) D(octor) A(delheid) B(randis)

  13. M

    Anno Domini 1611

  14. N

    Nemo confidat nimium secundis Nemo desperet meliora lapsis10)

  15. O

    Ad Beneplacitvm Dei

Übersetzung:

Was du bist, das wünsche zu sein, und wünsche nichts darüber hinaus. (D)

Gerechtigkeit. Klugheit. Liebe. Hoffnung. Glaube. Geduld. (H)

Vieles hat der Tag und die vielfältige Mühsal der wechselvollen Zeit zum Besseren gewendet und viele hat Fortuna im Wechsel heimgesucht und bald genarrt und dann wieder auf den Thron gesetzt. (J)

Wer die goldene Mitte wählt, der ist sicher und bleibt verschont vom Schmutz der morschen Hütte. (K)

Niemand soll allzusehr auf das Glück vertrauen, niemand soll im Unglück die Hoffnung auf Besseres aufgeben. (N)

Zum Wohlgefallen Gottes. (O)

Versmaß: Phaläkeus (D), drei Hexameter (J), unvollständige sapphische Strophe (zweieinhalb Elfsilbler, K), sapphische Elfsilbler (N).

Wappen:
Middendorf11), ?12)
Middendorf(?), ?13)
Middendorf, Brandis*

Kommentar

Henning Kannengeter ist im Jahr 1450 in den Stadtrechnungen genannt, im selben Jahr war er Ratsmitglied. Von 1466 bis 1482 ist er mehrfach urkundlich bezeugt.14)

Joachim Middendorf wurde 1568 als Sohn des Pastors Heinrich Middendorf und der Anna Block in Wismar geboren. Nach Besuch der Schule in Wismar und Lüneburg immatrikulierte er sich in Helmstedt und Rostock an der Medizinischen Fakultät. Im Jahr 1597 wurde er in Helmstedt promoviert.15) Nach Beendigung seines Studiums kam er nach Hildesheim und heiratete Margareta Kegel, die Witwe des Arztes Friedrich Megelius. Nach deren Tod heiratete er 1601 Adelheid Brandis, die Tochter von Bertram Brandis. Der Rat berief ihn zum Medicus ordinarius, in den Jahren 1612, 1614, 1616 und 1618 war er Mitglied des Rates.16) Er starb am 17. Mai 1619 im Alter von 51 Jahren und wurde in St. Georg begraben.17) In der Leichenpredigt ist erwähnt, daß er ein fürtrefflicher Poeta war, der in seinen carminibus sehr nervosus und realis gewesen sei.18) Ein Wappenstein mit den Namen Joachimvs Middendorff D(octor) und Adelheit Brandes von 1609 befindet sich im Historischen Museum in Hannover.19)

Das Bildprogramm des linken Erkers stellt einen Zusammenhang zwischen der antiken Medizin und der Tätigkeit des Hausherrn als Arzt her. Dargestellt waren die Göttin der Gesundheit Hygieia, die Götter der Heilkunst Aeskulap und Apollo, die Ärzte Asklepiades, Machaon und Chiron sowie die Lehrautoritäten der antiken Medizin Hippokrates, Dioskorides und Galen. Die übrigen Inschriften an diesem Erker sind überwiegend aus der antiken Literatur übernommen. Ihre Textgestalt läßt darauf schließen, daß die Zitate nicht direkt aus den Werken stammen, sondern durch Florilegien und Sprichwörtersammlungen vermittelt worden sind.

Textkritischer Apparat

  1. · cccc° · lxiii °] 1453 Sonntagsblatt.
  2. heni(n)g · ka(n)negtr] he. mart. Korad, über den Wörtern jeweils ein Kürzungsstrich, Auflösung: Heinrich, Martin, Konrad Sonntagsblatt.
  3. DILECTICA] Statt DILECTIO.
  4. Nach Kratz (zitiert in HS 789) soll sich auch noch CONCORDIA in dieser Reihe befunden haben.
  5. Klammern so in Kd.
  6. eligit] deligit HS 789.
  7. tecti] tecti Horatius Buhlers, Kd.

Anmerkungen

  1. Beschreibung nach StaHi, Bestand 300, Nr. 58, Blatt 30 (Zeichnung der Fassade, die Inschriften sind in der Zeichnung nur angedeutet); DBHi, HS 789, fol. 372v–373r und Kd. Hildesheim, Bürgerliche Bauten, S. 245f.
  2. Zeller in Kd. Hildesheim, Bürgerliche Bauten, S. 245f.
  3. Die Inschrift ist in DBHi, HS 789, fol. 372v teilweise gezeichnet.
  4. ‚1463 an Ostern (10. April) ließ Henning Kannengeter mich machen.‘
  5. Jak. 1,17.
  6. Walther, Proverbia 4, Nr. 26049 (Martial 10,47): quod sis esse velis; im Florilegium des Andreas Ritzius (Basel 1728) ist die erweiterte Fassung des Sprichworts: quod sis esse velis nihilque malis belegt (vgl. Walther, Proverbia 9, Nr. 39870).
  7. Ps. 32,10.
  8. Vergil, Aeneis XI, 425–427. Die Varianten varius(que) und solium belegen, daß der Wortlaut Macrobius, Saturnalia 6,2,16 folgt.
  9. Nach Horaz, Carmina II, 10, 5–7. Der Text des Horaz ist um den zweiten Bildbereich verkürzt worden. Im Original heißt es: Wer die goldene Mitte wählt, meidet die morsche Hütte und das neiderregende Schloß (invidenda aula). Die in der Inschrift überlieferte verkürzte Fassung legt nahe, daß sie nicht auf der Grundlage des Horaztexts, sondern nach einem Florilegium zitiert worden ist. Die Verzeichnung des Texts bei Walther (Proverbia 1, Nr. 1779a): auream quisquis mediocritatem diligit tutus deutet darauf hin, daß solche verkürzten Fassungen in Proverbien tradiert worden sind.
  10. Walther, Proverbia 3, Nr. 16323 (Seneca, Thyestes 615f.).
  11. Wappen Middendorf (Balken, belegt mit einem von zwei Mondsicheln beseiteten Stern und begleitet von drei Rosen [2:1]). Vgl. StaHi, Bestand 856, Nr. 50/268/9, Kasten 31.
  12. Wappen ? (Baum auf Hügel). Beschreibung nach DBHi, HS 789, fol. 373r.
  13. Wappen ? (Mann, eine Waage haltend). Beschreibung ebd. In der Zeichnung StaHi, Bestand 300, Nr. 58, Blatt 30 (Zeichnung der Fassade) ist als Wappeninhalt ein nicht zu identifizierendes Tier wiedergegeben.
  14. Vgl. UB Stadt 6 (Stadtrechnungen), S. 772; Schlotter, Bürgermeister und Ratsherren, S. 326; UB Stadt 7, Nr. 576, Nr. 681, Nr. 904; UB Stadt 8, Nr. 35, Nr. 59, Nr. 63.
  15. Matrikel Helmstedt, Bd. 1, S. 98, Nr. 10: Immatrikulation am 19. Mai 1592; ebd., S. 134, Nr. 1: Promotion am 8. Juni 1597; Matrikel Rostock, Bd. 2, S. 226a, Z. 87: Immatrikulation im April 1588.
  16. Vgl. Schlotter, Bürgermeister und Ratsherren, S. 348f.
  17. Biographische Daten nach Roth, Leichenpredigten, R 6193.
  18. Leichenpredigt für Joachim Middendorf, gehalten von David Ursinus, Hildesheim 1619. SUB Göttingen: Conc. fun. 6/168, Nr. 9, S. G1.
  19. DI 36 (Stadt Hannover), Nr. 247.

Nachweise

  1. DBHi, HS 789, fol. 372v, 373r, 374r, 375r.
  2. Hildesheimer Sonntagsblatt, 1868, S. 229 (A).
  3. Mithoff, Kunstdenkmale, S. 181.
  4. Kd. Hildesheim, Bürgerliche Bauten, S. 245f. (nach Mithoff).
  5. Buhlers, Hildesheimer Haussprüche, S. 20.
  6. Slg. Rieckenberg, S. 607, S. 964f.

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 177† (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0017703.