Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 58: Stadt Hildesheim (2003)
Nr. 167 Roemer-Museum 1451
Beschreibung
Katechismus-Tafel.1) Öl auf zwei Lindenholzbrettern. Die hochrechteckige Tafel stammt aus St. Lamberti. Die Inschriften A–E, die aus einer chronikalischen Einleitung (A), dem Vaterunser (B), dem Ave Maria (C), dem Glaubensbekenntnis (D) und einer gereimten Fassung der Zehn Gebote (E) bestehen, sind in 44 Zeilen ausgeführt, die Buchstabenhöhe nimmt von oben nach unten ab. Den Beginn jedes Einzeltexts markiert eine Initiale, die vor dem Vaterunser und vor dem Glaubensbekenntnis über zwei Zeilen reicht. Die Einzeltexte sind durch in roter Farbe ausgeführte Überschriften (Rubriken) bezeichnet. Die Inschrift ist schwarz und rot auf hellen Grund gemalt, als textgliedernde Zeichen stehen Punkte auf der Zeilenmitte und Doppelpunkte. Über u und v stehen als diakritische Zeichen kleine v. Auf der Rückseite der Tafel eine Schreibprobe (F).
Eine Photographie Bödekers vom Jahr 1880 zeigt die untere Hälfte der Tafel in weitgehend unleserlichem Zustand.2) Die erste nachzuweisende Restaurierung der Tafel fand 1960 statt,3) eine weitere im Jahr 1982.4) Frühere Restaurierungen sind nicht auszuschließen, lassen sich aber durch den Vergleich mit den älteren Abschriften des Texts nicht sicher festlegen, weil die älteren Wiedergaben teils nicht auf Autopsie beruhen (Calvör), teils voneinander abweichen (Kratz in: HS 1527, HS 1101, HS 1598c). Rieckenberg wies durch einen Vergleich des 1960 restaurierten Originals mit der einzigen ihm bekannten Abschrift von Kratz5) und mit der Photographie Bödekers von 1880 nach, daß die heute sichtbare Inschrift nicht mehr in allen Fällen dem ursprünglichen Wortlaut entspricht. Er stellte für seine Edition eine emendierte Fassung her, die allerdings auch die Fehler des Originals verbessert. Die Überlieferungssituation legt nahe, für die folgende Edition von der heute sichtbaren Fassung auszugehen und nur die offensichtlichen Restaurierungsfehler zu verbessern. Fehler, bei denen nicht auszuschließen ist, daß sie bereits im Original vorhanden waren, werden nicht emendiert, sondern im Apparat diskutiert.
Maße: H.: 155 cm; B.: 60 cm; Bu.: 2–4,5 cm (A–E), 6 cm (F).
Schriftart(en): Textura mit Zierinitialen und Textura-Versalien.
- A
Do de dudesce Cardinal Ni/colaus van kusa : by pawes / Nicolaus tyden dem vittena) : des neges/ten iares na dem gvldenb) iare · na dude/scen landen gesant wart : de denne sunderlicken / straffede dat gemeyne wertlike volk · dat se dat / Pater noster vnde loue(n)c) nicht recht spreken : dar vm/me gaf he dat in scriften vn(de) heyt idt in de kerken he(n)/gen : na sodaner wyse alse hir na volget6)
- B
Dat p(ate)r n(oste)r / UAder vnse de du bist in den hy(m)melen : gehilli/get werde dyn name : to komed) dyn ryke : / dyn wille de werde · also in dem hymmele vnde / in der erde : vnse degelike brot gyff vns hute / vnde vorgyff vns vnse sculde · alse wy ock vor/geuen vnsen schuldeners : vnde enleyde vns / nicht in bekoringe7) · sunder lose vnse) van ovele Ame(n)8) /
- C
Dat Aue mariaf) Gegrotet systu maria : / vul gnaden · de here is myt dy : du bist gebe/nediet bouen allen fruwen · vnde gebenedi/et is de frucht · dines liues iesus chr(ist)usg) Ame(n)9) /
- D
De geloue :f) Eck loue in god vader · / alweldechh) schipper des hy(m)mels vnde der / erden : vnde in iesum chr(istu)mi) synen enygen sone vn/sen heren : de entfangen is van dem hilgen geys/te : geboren vth marien der iuncfruwen : de ge/leden heft vnder poncio pilato · gecruciget is · ge/storuenj) · vnde begrauen wart : nedersteych tho / den hellen : des derden dages wedder vpstuntk) va(n) / den do den : he is to den hy(m)melen geuaren · vn(de) syth / to der vorderen hant goddes · des almechtigen / vaders : van dar is he wedder komende · to rich/ten[de]l) de leuendigen vnde de do den : Eck loue in / den hilgen geyst : de hilgen cristene kercke : meyn/scup10) der hilgen : vorgeuinge der sunde : vpstan/dinge des vleysces : vnde eynm) ewich levent · Ame(n) /
- E
Dut synt de hilgen : x : bode goddesf) / Bovenn) alle / dingk hebbe leff eynen god : Nicht ydeloneo) / noch inp) spot · Uire de hylgen dage alle gader Ere / moder vnde vader : Mit willen eder myt werken sla / nemende dot Stel nicht · wan hestu not Buten dem / echte do neneq) vnkuscheit : Segge van nemedes val/scheit Begere nemedes beddegenot Noch myt unrech/te nemedes goet : We nicht enthaelt disse teyn gebot De / mag nymmerr) komen tho godt :11)
- F
vader
Textkritischer Apparat
- vitten] Korrekt ist viften; fiften Calvör; vitten Photo Bödeker, HS C 1598c, HS C 1527; viften HS C 1101, Koch; viftten Rieckenberg. Die Oberlängen der beiden t sind unterschiedlich gestaltet. Möglicherweise liegt hier bereits ein Schreibfehler des Originals vor. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß dieser Befund aus einer vor dem 19. Jahrhundert erfolgten Restaurierung resultiert.
- gvlden] golden. Die Form des o läßt deutlich erkennen, daß hier im Original ein v gestanden hat; guelden (e über u) Calvör; gulden HS C 1101, HS C 1527, HS C 1598c, Koch.
- vndeloue(n)] und den gloven Calvör; vnde loue(n) HS 1527, [e über o] HS C 1101, HS C 1598c.
- kome] Zu ergänzen zu kome vns, so Rieckenberg; vns fehlt allen übrigen Überlieferungen. Rieckenbergs Konjektur stützt sich auf den Wortlaut einer Predigt des Nikolaus von Kues über das Pater noster vom März 1451, in der es ebenfalls heißt zu kom vns dein reich.
- vns] Unter der Zeile nachgetragen, im Text und vor dem Nachtrag jeweils markiert durch ein rotes lateinisches Kreuz als Verweisungszeichen.
- Die Überschrift steht am Ende der ersten Textzeile.
- xpus.
- alweldech] almechdechen Calvör; alweldech HS C 1101, HS C 1527, HS C 1598c; almechdech Koch.
- xpm.
- ge/storuen] Befund unklar: Die erste Haste des u nach oben verlängert, möglicherweise sollte im Rahmen einer Restaurierung gestorben hergestellt werden.
- vpstunt] vpstigit HS C 1598c, HS C 1101 (korrigiert in vpstunt).
- rich/ten[de]] richten; richtende HS C 1101, HS C 1527, HS C 1598c, Koch, Rieckenberg. Wahrscheinlich stand richtende oder richtene im Original. Die Buchstaben ten sind eingerückt und weiter auseinandergezogen als der übrige Text, so daß Platz für de vorhanden gewesen ist.
- eyn] ryn; eyn alle Überlieferungen.
- Boven] Bowen. Der Befund läßt erkennen, daß hier ursprünglich ein v oder u gestanden hat; Boven bzw. Bouen alle Überlieferungen.
- ydelone] Nicht ydel - - - Calvör; ydel bit one HS C 1527; ydel nenne one HS C 1598c, HS C 1101 (korrigiert in ydel bit one); ydel [swer by oem] Koch; ydeliche 〈swere〉Rieckenberg. Rieckenberg bekräftigt die Ergänzung Kochs mit dem Hinweis auf den Wortlaut des gereimten Dekalogs Dietrich Koldes in einer Trierer Handschrift: ydelike en swert nicht noch in spot. Eine mögliche Ergänzung wäre aber auch das in HS C 1598c überlieferte [nenne] one. Der heutige Befund legt nahe, daß die Wörter swere bzw. nenne im Original fehlten.
- in] vt HS C 1598c, HS C 1101 (korrigiert in in).
- nene] neve; nene alle Überlieferungen.
- nymmer] nimmer. Das weite Spatium zwischen n und m deutet darauf hin, daß im Original ein y gestanden hat.
Anmerkungen
- Inv. Nr.: H 32.
- Abgebildet bei Rieckenberg, Katechismus-Tafel, S. 576, Abb. 1.
- Ebd., S. 557 mit dem Bericht des Restaurators.
- Kat. Stadt im Wandel 1, Nr. 514, S. 603.
- DBHi, HS C 1598c (bei Rieckenberg noch ohne Signatur). Zwei weitere von Rieckenberg nicht berücksichtigte Überlieferungen von Kratz in: DBHi, HS C 1101; DBHi, HS C 1527.
- ‚Als der deutsche Kardinal Nikolaus von Kues zu Zeiten des Papsts Nikolaus V. in dem auf das goldene Jahr [1450] folgenden Jahr nach Deutschland gesandt wurde, tadelte dieser besonders das gemeine weltliche Volk, daß sie das Vaterunser und das Glaubensbekenntnis nicht richtig sprächen. Deshalb gab er dies ihnen schriftlich und ordnete an, es in die Kirche zu hängen in der Art, wie es hiernach folgt.‘
- ‚Versuchung‘.
- Liturgischer Text nach Mt. 6,9.
- Liturgischer Text nach Lc. 1,28.
- ‚Gemeinschaft‘.
- Nach 2. Mo. 20,2–17; 5. Mo. 5, 6–18. ‚Das sind die heiligen Zehn Gebote Gottes. Über allen Dingen liebe den einen Gott. Schwöre nicht unnütz, spotte nicht über ihn. Feiere die Festtage allesamt. Ehre Mutter und Vater. Schlag niemanden tot, weder in der Intention noch tatsächlich. Stiehl nicht, wenn du Not hast. Tu nichts Unkeusches außerhalb der Ehe. Sag über niemanden Falsches. Begehre niemandes Bettgenossen und niemandes Besitz unrechtmäßig. Wer diese Zehn Gebote nicht hält, der kann niemals zu Gott kommen.‘
- Krogmann hingegen hat die Tafel aus zwei Gründen ins 16. Jahrhundert datiert: Zum einen setze die Zeitangabe by pawes Nicolaus tyden voraus, daß Papst Nikolaus († 1455) bei Anbringung der Tafel bereits verstorben gewesen sei, zum anderen werde das im Text der Cusanus-Tafel zu beobachtende Dehnungsh (Ehre im Vierten Gebot) erst im 16. Jahrhundert häufiger. Die Angabe by pawes Nicolaus tyden schließt nicht aus, daß die Tafel erst nach 1455 angefertigt worden ist, der Verweis auf das erst im 16. Jahrhundert häufiger auftretende Dehnungsh stellt jedoch kein stichhaltiges Argument für die Spätdatierung dar, da zumindest in der heute sichtbaren Fassung im Vierten Gebot Ere ohne Dehnungsh steht. Vgl. Willy Krogmann: Nikolaus von Kues und die Katechismustafel in Hildesheim. In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 88 (1965), S. 59–67, hier S. 65.
- Vgl. Rieckenberg, Katechismus-Tafel, S. 569; Volker Honemann: Vorformen des Einblattdruckes. Urkunden – Schrifttafeln – Textierte Tafelbilder – Anschläge – Einblatthandschriften. In: Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien, hg. von Volker Honemann, Sabine Griese, Falk Eisermann und Marcus Ostermann. Tübingen 2000, S. 1–43, hier S. 14.
- Zitat nach Rieckenberg, Katechismus-Tafel, S. 574.
- Ebd.
- In St. Michaelis war eine Tafel mit einer gereimten Fassung der Zehn Gebote aufgehängt, vgl. Nr. 258.
- Zu den Tafeln als Medien der Laienunterweisung vgl. u. a. Hartmut Boockmann: Über Schrifttafeln in spätmittelalterlichen deutschen Kirchen. In: Deutsches Archiv 40 (1984), S. 210–221; Ruth Slenczka: Lehrhafte Bildtafeln in spätmittelalterlichen Kirchen. Köln et al. 1998 (Pictura et Poiesis 10). – Honemann (wie Anm. 13), S. 1–43.
- Rieckenberg, Katechismus-Tafel, S. 559–565.
Nachweise
- Calvör, Saxonia, S. 105 (nach Mitteilung des Pastors Beneke).
- DBHi, HS C 1101, o. S. (Kratz).
- DBHi, HS C 1527, o. S. (Kratz aus dem Jahr 1866).
- DBHi, HS C 1598c, fol. 17v–18r (Kratz, teilweise Zeichnung).
- Josef Koch und Hans Teske: Cusanus-Texte I. Predigten 6. Die Auslegung des Vaterunsers in vier Predigten. Heidelberg 1940 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse 1938/1939), Anhang II, S. 284f.
- Rieckenberg, Katechismus-Tafel, S. 577–579, Abb. S. 576.
Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 167 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0016707.
Kommentar
Den einleitenden Worten zufolge wurde die Tafel auf Veranlassung des Kardinals Nikolaus von Kues (1401–1464) angefertigt, der sich während einer Legationsreise im Juli 1451 in Hildesheim aufhielt. Die Tafel dürfte bald danach in St. Lamberti angebracht worden sein.12) Das sichtbare Aufhängen zentraler religiöser Texte in Kirchen, Schulen und Spitälern hatte bereits der Pariser Reformtheologe Johannes Gerson (1363–1429) empfohlen, damit den Gläubigen auf diese Weise die Inhalte der christlichen Lehre nahegebracht würden.13) In einem anonymen Traktat aus dem Anfang des 15. Jahrhunderts, der Lehre von den Fünf Worten, heißt es, daß der Lay und ein ygleich mensch ist schuldig zu wissen dy ding, an dy er nicht mag behalten und salig werden, als den gelauben, den pater noster und ave maria, dy gepot unßers herrn, das er dy halt und vor pösen dingen sich müg gehüeten.14) Die Kenntnis dieser vier zentralen Texte war notwendig für die Lossprechung in der Beichte.15) Die Hildesheimer Katechismustafel ist eines der wenigen erhaltenen Zeugnisse16) für diese Form der religiösen Laienunterweisung um die Mitte des 15. Jahrhunderts.17)
Der Vergleich mit zeitgenössischen Schriftzeugnissen aus Hildesheim legt nahe, daß die Texte ihre sprachliche Ausformung in Hildesheim erhalten haben. Sie sind allerdings nicht unmittelbar für diesen Zweck aus den entsprechenden lateinischen Vorlagen übersetzt worden. Der Text des Vaterunsers steht einer Vaterunser-Fassung nahe, die in einer Trierer Handschrift in moselfränkischer Mundart im Zusammenhang einer 1439/40 von Nikolaus von Kues in Augsburg gehaltenen Predigt überliefert ist. Für die gereimte Fassung der Zehn Gebote hat Rieckenberg eine Parallelüberlieferung im Christenspiegel des Franziskaners Dietrich Kolde (um 1435–1515) nachweisen können.18)