Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 54 Trier, Hohe Domkirche 3. Drittel 12. Jh.

Beschreibung

Buchdeckel eines Evangeliars (Cod. 141) aus St. Godehard.1) Holz, Kupfer vergoldet, Grubenschmelz, Figuren vergoldet. Der Buchdeckel ist als Gegenstück zu dem der Handschrift Trier, Domschatz, Cod. 140 gearbeitet, die ebenfalls aus St. Godehard stammt. Die Handschrift Cod. 141 kam über die Sammlung des Grafen Kesselstatt nach Trier.2)

Der Vorderdeckel ist von einem breiten, mit Halbedelsteinen, Filigran und acht Reliefs aus Walroßzahn verzierten Schmuckrahmen umgeben. Die vier Reliefs in den Ecken zeigen die Symbole der vier Evangelisten, an der oberen Schmalseite eine weibliche Figur (Maria?), unten ein Bischof mit Krummstab und Mitra (Godehard?)3), rechts eine Figur mit Schwert (Synagoge), links eine Figur mit Lanze und Schild (Ecclesia). Die Evangelistensymbole sowie die obere weibliche Figur und die Halbfigur des Bischofs unten halten leere Schriftbänder.

Im Innenfeld des Buchdeckels ist eine durch Leisten in drei Register geteilte Emailtafel angebracht. Im oberen Register: Christus erscheint Maria Magdalena. In der Mitte: Kreuzigung. Über dem Kreuz in Medaillons Sonne und Mond. Unter dem Kreuz: links außen Maria mit Nimbus; rechts außen Johannes mit Buch und Nimbus; links innen Ecclesia mit Fahne und Kelch, in welchem sie das Blut aus der Seitenwunde Christi auffängt; rechts innen Synagoge mit verbundenen Augen, ihre Krone fällt zu Boden, mit der Rechten weist sie auf den gekreuzigten Christus, in der Linken hält sie einen Speer. Im Zentrum Christus am Kreuz. Die Figuren sind durch die auf einer Leiste über der Darstellung angebrachte Inschrift A identifiziert. Im unteren Register: Auf dem leeren Grab sitzt der Engel, der den drei rechts stehenden Frauen die Osterbotschaft verkündet. Auf der Leiste darüber Inschrift B. Die Inschriften sind graviert und nielliert.

Maße: Buchdeckel: H.: 37,2 cm; B.: 25,9 cm; Innenfeld: H.: 20,6 cm; B.: 12,4 cm; Bu.: 0,2–0,42 cm.

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

  1. A

    · ISTA · FLET · HEC SVRG(IT) · OB(IT) · HIC · CAD(IT) · HEC · DOLET · ISTE ·

  2. B

    ANGELVS · EXILARAT · D(OMI)NI · QVOSa) MORS · CRVCIARAT ·

Übersetzung:

Jene [Maria] weint, diese [Ecclesia] erhebt sich, dieser [Christus] stirbt, diese [Synagoge] fällt, jener [Johannes] trauert. (A)

Der Engel bringt Freude denen, die der Tod des Herrn gequält hatte. (B)

Versmaß: Hexameter (A, B), zweisilbig leoninisch gereimt (B).

Kommentar

Die Inschriften sind in unregelmäßigem Abstand zur Grundlinie ausgeführt. A, E, H und T kommen sowohl in der runden wie in der eckigen Form vor. Der Bogen des unzialen H ist ganz geschlossen. Die Schrift ist insgesamt charakterisiert durch einzelne auffallend lange Sporen. Schwellungen an der linken Schräghaste des unzialen A und am geschwungenen Deckbalken des runden T (DOLET) deuten eine Entwicklung hin zu einer flächigeren Gestaltung der noch überwiegend in linearer Strichstärke ausgeführten Buchstaben an.

In Inschrift A sind die einzelnen Bestandteile des Hexameters direkt den darunterstehenden Figuren zugeordnet (vgl. Übersetzung).4) Entsprechend der im Kreuzigungsbild beobachteten Figurenpaarung bilden die sich gegenüberstehenden Wörter der Inschrift ebenfalls Paare und sind als solche ineinandergesetzt: ISTA und ISTE stellen den äußeren Rahmen dar, darin stehen FLET und DOLET, darin HEC und HEC, das innere Paar bilden SVRGIT und CADIT.5) Christus steht mit OBIT HIC auch in der Inschrift im Zentrum.

Das Email wird der sogenannten Welandus-Gruppe (vgl. Nr. 53) zugerechnet und in der kunsthistorischen Forschung übereinstimmend in das letzte Drittel des 12. Jahrhunderts datiert.6) Die Handschrift könnte einem im späten Mittelalter eingetragenen Stiftungsvermerk (fol. 1r) zufolge zu den bei Legatius (um 1500)7) erwähnten Bücherschenkungen Friedrichs († 1153), des ersten Abts von St. Godehard, gehören. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß Handschrift und Einband erst von Arnold († 1180, vgl. Nr. 43), dem zweiten Abt des Godehardklosters, gestiftet worden sind, über den es ebenfalls bei Legatius heißt: Humana sunt ista Friderici divinis adjuncta praeter duos plenarios, quos auro, argento eboreque vestivit.8) Mit duos plenarios dürften die beiden Evangeliare Cod. 140 und Cod. 141 gemeint sein, die den Forschungen Brandts zufolge noch bis ins 16. Jahrhundert die beiden einzigen mit Prachteinbänden versehenen Codices im Kirchenschatz von St. Godehard waren.9)

Textkritischer Apparat

  1. QVOS] Statt QVAS, vgl. Robert Favreau: L’apport des inscriptions à l’histoire des anges à l’époque romane. In: Les anges et les archanges dans l’art et la société à l’époque préromane et romane. (Les cahiers de Saint-Michel de Cuixà XXVIII, 1997), S. 91–110, hier S. 98: quas würde sich auf die darunter dargestellten drei Frauen am Grab beziehen.

Anmerkungen

  1. Trier, Dom, Domschatz Nr. 70, Cod. 141 (olim 126).
  2. Kat. Schatz von St. Godehard, S. 90.
  3. Adolph Goldschmidt vermutet, daß hier Godehard dargestellt ist, vgl. Adolph Goldschmidt: Die Elfenbeinskulpturen. Aus der romanischen Zeit. XI.–XIII. Jahrhundert. Bd. 3, Berlin 21972, Nr. 55.
  4. Diese explizite Zuordnung von Text und Bild läßt sich auch an anderen Stücken aus dem letzten Drittel des 12. Jahrhunderts beobachten: vgl. Nr. 52 und ein auf 1160/70 datiertes Fragment eines Wandbehangs im Kunstgewerbemuseum Berlin, das aus dem Raum Halberstadt stammt (Kroos, Niedersächsische Bildstickereien, Nr. 1, S. 113f.).
  5. Meyer Schapiro führt dieses Bauprinzip des Hexameters auf einen Pentameter Ovids zurück: haec queritur, stupet haec, haec manet, illa fugit (Ars amatoria I, 124) und nennt weitere Beispiele. Ders.: From Mozarabic to Romanesque in Silos. In: Art Bulletin 21 (1939), S. 313–374, hier S. 364f.
  6. Brandt, Emailkunst, S. 29.
  7. Kat. Schatz von St. Godehard, S. 62f.
  8. Chronicon Coenobii S. Godehardi, in: Leibniz, Scriptores 2, S. 407. ‚Diese irdischen Güter wurden den göttlichen [d. h. den himmlischen Schätzen] Friedrichs hinzugefügt, nebst zwei Plenarien, welche er mit Gold, Silber und Elfenbein bekleidet hat.‘
  9. Brandt, Emailkunst, S. 29.

Nachweise

  1. Bertram, Bistum 1, S. 167, Abb. S. 166.
  2. Brandt, Emailkunst, S. 109, Anm. 22.
  3. Kat. Schatz von St. Godehard, S. 90, Abb. S. 89.
  4. Kat. Abglanz des Himmels, S. 184, Abb. S. 154.

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 54 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0005405.