Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 58: Stadt Hildesheim (2003)
Nr. 52 Paris, Musée national du Moyen Âge – Thermes de Cluny; Brüssel, Musées Royaux d’Art et d’Histoire 3. Drittel 12. Jh.
Beschreibung
Zwei halbkreisförmige Emailplatten.1) Kupfer, vergoldet, Grubenschmelz. Die beiden Platten waren ursprünglich als Beschlagstücke auf den beiden Seiten eines halbkreisförmigen Reliquiars angebracht. Das heute nicht mehr vorhandene Reliquiar, das aus einem Holzkern, den beiden Emailplatten und einem edelsteinbesetzten Kamm bestand, ließ sich noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Sammlung des Hildesheimer Kunstsammlers Franz Engelke nachweisen.2) Es stammt wahrscheinlich aus St. Michaelis und ist über die Sammlung des Kanonikers an Heilig Kreuz Franz Arnold Leopold Delatour, der es aus dem Nachlaß des letzten Abts von St. Michaelis, Wilhelm Rören, erworben hatte, spätestens 1835 an Engelke gelangt. Beide Emails sind als Einzelplatten erstmals in der Sammlung Spitzer nachgewiesen.3)
Auf der in Paris aufbewahrten Emailplatte ist die Kreuzigung dargestellt. In der Mitte Christus am Kreuz mit Sol und Luna, die ihr Gesicht verhüllen. Links unter dem Kreuz außen Maria, innen Ecclesia. Rechts außen Johannes, innen Synagoge. Soweit entspricht diese Darstellung in der Herstellungstechnik wie in der Ikonographie dem mittleren Bild auf der Emailplatte des Buchdeckels (vgl. Nr. 54) aus dem Kloster St. Godehard in Hildesheim. Lediglich die am Fuß des Kreuzstammes liegende Stifterfigur, die in der Rechten einen Gegenstand hält, vermutlich das Reliquiar, hat keine Entsprechung in der Kreuzigung auf dem Bucheinband. Die Kreuzigungsdarstellung wird von einem Schriftband eingerahmt, auf dessen oberem halbkreisförmigen Abschnitt die Inschrift A angebracht ist. Die einzelnen Teile dieser Inschrift sind – wie auf dem Trierer Bucheinband – unmittelbar auf die darunterstehenden Personen der Kreuzigungsszene bezogen. Inschrift B beginnt gegenläufig zu A auf dem linken unteren Teil des halbkreisförmigen Schriftbandes, verläuft – unterbrochen durch die Stifterfigur – über den geraden Teil des Schriftbandes und endet auf dem unteren rechten Teil des halbkreisförmigen Schriftbandes. Inschrift B ist am Anfang und am Ende jeweils durch ein Kreuz von A abgesetzt. Die Stifterfigur trennt optisch die Aufzählung der Herrenreliquien von der der nachfolgenden Marienreliquien.
Auf der zweiten, heute in Brüssel aufbewahrten Platte sind weibliche Halbfiguren der Tugenden in Medaillons mit Ranken (Tugendbaum) dargestellt. In der Mitte senkrecht übereinander in zwei größeren Medaillons Humilitas und Caritas mit den Umschriften C und E, rechts und links von dieser Achse je fünf kleinere Medaillons (1:2:2) mit Umschriften D, die jeweils rechts und links durch dieselbe Farbe des Hintergrundes paarweise einander zugeordnet sind. Die Platte wird gerahmt von einem halbkreisförmigen Schriftband, in dessen oberem Teil Inschrift F angebracht ist, im unteren geraden Teil G. Der letzte Name von Inschrift G steht am linken unteren Ende des im Bogen verlaufenden Schriftbandes gegenläufig zu Inschrift F. Alle Inschriften sind in Niellotechnik ausgeführt.
Maße: H.: 8,6 cm; B.: 15 cm; Bu.: 0,4–0,5 cm (A, B, F, G), 0,3–0,4 cm (C, E), 0,2–0,3 cm (D).
Schriftart(en): Romanische Majuskel.
- A
· HEC · PARIT · HEC · CREDIT · OBIT · HIC FVGIT · HEC · HIC · OBEDIT
- B
+ DE LIGNOa) / D(OMI)NIb) · DE SEPVLCHRO · D(OMI)NIb) // · DE CAPILLIS · VESTIB(VS) · LE/CTOc) S(ANCTE) · MAR(IE)d) +
- C
+ HVMILITAS · CVSTOS VIRTVTV(M)e)4)
- D
+ PRVDENTIA // + TEMPERANTIA + CASTITAS // + PATIENTIA · + CONCORDIA // + OBEDIENTIA + FO·RTITVDO // + IVSTICIA + FIDES // + SPES ·
- E
+ MAIOR · HORVM · RARITAS ·f)5)
- F
+ HI · FRVCTVS · EX TEg) · SI · RADIX · MANSERIT · IN TE ·
- G
MATHEI · MATHIE MARCI · STEPHANI · LAVRENTII · BONIFATII · / VITI
Übersetzung:
Diese [Maria] gebiert. Diese [Ecclesia] glaubt. Dieser [Christus] stirbt. Diese [Synagoge] flieht. Dieser [Johannes] gehorcht. (A)
[Reliquien] vom Kreuzholz des Herrn, vom Grab des Herrn, von den Haaren, den Kleidern [und] dem Bett der heiligen Maria. (B)
Demut ist die Hüterin der Tugenden. (C)
Klugheit – Mäßigung. Keuschheit – Geduld. Eintracht – Gehorsam. Stärke – Gerechtigkeit. Glaube – Hoffnung. (D)
Die Liebe ist die größere unter diesen. (E)
Diese Früchte [kommen] aus dir, wenn die Wurzel in dir bleibt. (F)
[Reliquien des] Matthäus, Matthias, Markus, Stephanus, Laurentius, Bonifatius, Vitus. (G)
Versmaß: Hexameter (A, F), zweisilbig (A), einsilbig (F) leoninisch gereimt.
Textkritischer Apparat
- DE LIGNO] Aus Raumgründen ohne Worttrennung.
- D(OMI)NI] Kürzungsstrich kreuzt die rechte Haste des N.
- LE/CTO] Der untere Querbalken des E durch ein Nagelloch gestört.
- MAR(IE)] Links geschlossenes unziales M, um 90° gedreht.
- VIRTVTV(M)] Kürzungsstrich kreuzt die rechte Haste des dritten V.
- RARITAS] Statt KARITAS. Wahrscheinlich war in der Vorlage für die Inschrift der obere Schrägbalken des K zur Haste zurückgebogen.
- EX TE] Ohne Worttrennung ausgeführt.
Anmerkungen
- Paris, Musée national du Moyen Âge – Thermes de Cluny, Inv. Nr.: CL 13068; Brüssel, Musées Royaux d’Art et d’Histoire, Inv. Nr.: 3141.
- Dazu ausführlich Brandt, Emailkunst, S. 34, dort Wiedergabe des detaillierten Eintrags in Engelkes Besitzverzeichnis sowie einer Skizze von der Hand Engelkes (Abb. 42); s. a. Brandt, Engelke, S. 18–21.
- Nachweise bei Brandt, Emailkunst, S. 36, S. 110 Anm. 34 und Abb. 47.
- Vgl. Paschasius Radbertus, De fide spe et caritate, Buch 1, Zeile 1487; CCCM 97, S. 49.
- Nach I Cor. 13,13.
- Für die Lipsanotheca bezeugt das Reliquienverzeichnis des Doms (Wolfenbüttel, HAB, Cod. Guelf. 83.30. Aug. fol., fol. 199v): reliquie sancte Dei genitricis Marie: de crinibus, de unguibus, de lacte et de vestimentis, de sudario Domini, de sanguine Domini, de circumcisione Domini.
- Text des Reliquienverzeichnisses s. Handschriften im Domschatz, S. 53.
Nachweise
- DBHi, HS C 1533, S. 3, Nr. 5, zitiert und abgebildet bei Brandt, Engelke, S. 19f.
- Kat. Bernward 2, S. 610 (A, F), Abb. S. 612.
- Kat. Abglanz des Himmels, S. 188, Abb. S. 163.
Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 52 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0005201.
Kommentar
Die Inschriften sind in einer ligaturenreichen romanischen Majuskel mit ausgeprägten Sporen ausgeführt, G eingerollt, E und M sowohl in der unzialen als auch in der eckigen Form, die runden E nähern sich in einigen Fällen (FIDES) durch die großen Sporen der geschlossenen Form an, M in der links geschlossenen Form, ein eckiges C.
Aufgrund der ikonographischen und herstellungstechnischen Gemeinsamkeiten mit der Emailplatte auf dem Bucheinband aus St. Godehard (Nr. 54), deren Entstehungszeit sich einigermaßen sicher festlegen läßt, werden die Platten des halbkreisförmigen Reliquiars ebenfalls in das 3. Drittel des 12. Jahrhunderts datiert. Die Buchstabenformen der Inschriften auf dem halbkreisförmigen Reliquiar unterscheiden sich allerdings deutlich von der dort verwendeten romanischen Majuskel mit ihrem charakteristischen durchgängigen Wechsel von runden und eckigen Formen. Auch im Wortlaut weicht Inschrift A in allen Teilen von der Beischrift der Kreuzigung auf dem Bucheinband ab, obwohl beide Inschriften mit dem unmittelbaren Bezug der einzelnen Teile des Hexameters auf die einzelnen Elemente der darunter befindlichen Darstellung demselben charakteristischen Bauprinzip folgen.
Die Inschriften C–E greifen inhaltlich Details der Darstellungen auf: Caritas, im größten Medaillon und als einzige mit Nimbus abgebildet, ist entsprechend der Inschrift (vgl. I Cor. 13,13) die größere unter den Tugenden. Damit kann sowohl ihre Führungsrolle unter den Tugenden Ausdruck finden als auch ihre herausragende Position zwischen den beiden unmittelbar neben ihr dargestellten christlichen Tugenden Spes und Fides bezeichnet sein.
Das Reliquiar, von dem die beiden Emailplatten stammen, nimmt – wie das jüngere Katharinenreliquiar aus Heilig Kreuz (Nr. 66) – die charakteristische Form der Lipsanotheca Mariana (Nr. 1) auf. Anlaß für die Übernahme dieser für ein Reliquiar ungewöhnlichen Gestalt könnte vielleicht der teilweise übereinstimmende Reliquieninhalt gewesen sein.6) Neben den in den Inschriften B und G genannten Reliquien enthielt das halbkreisförmige Reliquiar noch weitere, über die das von einer Hand des 12. Jahrhunderts im Bernwardsakramentar aus St. Michaelis (DS 19) nachgetragene Verzeichnis Auskunft gibt. Es wurde auffälligerweise in einen halbkreisförmigen Rahmen geschrieben, dessen Größe etwa den Emailplatten des Reliquiars entspricht.7)