Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 48† St. Michaelis 1194–1197

Beschreibung

Nördliche Schranke des Westchors. Stuck. Die zugehörige Südschranke wurde im Jahr 1662 abgebrochen.1) Die erhaltene Chorschranke zeigt sieben Relieffiguren:2) im Zentrum unter einem Kleeblattbogen, gerahmt von Petrus und Paulus die Gottesmutter mit Kind; Jakobus und der Evangelist Johannes, ganz außen östlich der heilige Benedikt und westlich der heilige Bernward. Die Apostel- und Heiligenfiguren stehen unter von Pfeilern getragenen Rundbögen, die wie der Kleeblattbogen über Maria von lamellierten Flachkuppeln bedeckt sind. In den Zwickeln der Bögen sind Gebäude mit Türmen und je einem Portal angebracht, die an Kirchenarchitektur erinnern. Die Figuren tragen mit Ausnahme der Gottesmutter Schriftbänder, auf denen Inschriften (A2–G2) angebracht waren, die Kratz im Jahr 1847, als die Chorwand für das Königliche Museum in Berlin abgeformt wurde, entdeckt und abgezeichnet hat.3) Die Figuren waren durch Namenbeischriften (A1–G1) identifiziert, die nach Kratz „über den baldachinähnlichen Verzierungen ... eingegraben waren“. Die Inschriften auf den Schriftbändern waren in dunkelgrauer Farbe aufgemalt, die Namenbeischriften hingegen „in den Stuck eingegraben und mit einer feineren Gypsmasse ausgefüllt“.4) Die Wiedergabe der Inschriften erfolgt von Osten nach Westen.

Inschriften nach DBHi, HS C 930, Reinschrift der Zeichnung (vgl. Anm. 3).

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

  1. A1

    S(ANCTVS)a) · BENEDIC/TVS · ABBAS ·

  2. A2

    NICHIL · AMORI · CHR(IST)Ib) · P(RE)PONATVR ·5)

  3. B1

    S(ANCTVS) · IACO/BVS · AP(OSTO)L(V)S ·

  4. B2

    APP(RO)PINQVATE · D(E)O · ET · APP(RO)PINQVA(BI)T · VOBIS ·6)

  5. C1

    S(ANCTVS) · PETRVS · / AP(OSTO)L(V)S ·

  6. C2

    TV · ES · CHR(ISTV)Sc) · FILIVS · DEI · VIUI ·7)

  7. D1

    S(ANCTA) · MARIA · MATER · MISERICORDIE ·

  8. E1

    S(ANCTVS) · PAVLVS · / AP(OSTO)L(V)S ·

  9. E2

    Q(VI) · P(RE)DESTINATVS · E(ST) · FILI(VS) · D(E)I · I(N) · VIRTVTE ·8)

  10. F1

    S(ANCTVS) · IOHAN/NES · EW(ANGELISTA) ·

  11. F2

    DILIGAMVS · D(EV)M · QVONIA(M) · DEVS · PRIOR · DILEXIT · NOS ·9)

  12. G1

    S(ANCTVS) · BERNVVAR/DVS · EP(ISCOPV)S ·

  13. G2

    VENITE · EXVLTEMUS · D(OMI)NO ·10)

Übersetzung:

Der heilige Abt Benedikt. Nichts soll der Liebe zu Christus vorgezogen werden. (A1, A2)

Der heilige Apostel Jakobus. Kommt Gott nahe, und er wird euch nahe sein. (B1, B2)

Der heilige Apostel Petrus. Du bist Christus, Sohn des lebendigen Gottes. (C1, C2)

Heilige Maria, Mutter der Barmherzigkeit. (D1)

Der heilige Apostel Paulus. Dieser ist als Sohn Gottes vorbestimmt, voll Kraft. (E1, E2)

Der heilige Evangelist Johannes. Laßt uns Gott lieben, weil Gott uns zuerst geliebt hat. (F1, F2)

Der heilige Bischof Bernward. Kommt, wir wollen dem Herrn jubeln. (G1, G2)

Kommentar

Kratz gibt die Inschriften in einer romanischen Majuskel wieder, die D, E, T und V in beiden sowohl in ihrer runden als auch in ihrer eckig-spitzen Formvariante aufwies. Q kam nur als Unziale, M nur in Kapitalis vor; A war als spitzes kapitales, als trapezförmiges, als unziales (BERNVVARDVS) und als pseudounziales A ausgeführt. Insgesamt war die Inschrift gekennzeichnet durch zahlreiche Ligaturen, Abkürzungen und – hier nicht eigens vermerkte – kleiner ausgeführte und untergestellte Buchstaben. Auffällig ist die Verwendung von aus zwei verschränkten V gebildetem W in EW(ANGELISTA) neben dem aus zwei unverschränkten V bestehenden W im Namen BERNVVARDVS. Möglicherweise hat sich hier die alte Schreibweise der bernwardinischen Inschriften erhalten.11) Die Buchstaben wiesen ausgeprägte Sporen auf; abgeschlossene C und E, wie sie für die gotische Majuskel (früheste Beispiele in Hildesheim Nr. 63f. u. 67) typisch sind, läßt die Zeichnung nicht erkennen. An Zierformen hat Kratz am offenen Ende des unzialen D drei kleine Blättchen wiedergegeben. Dieselben drei Blättchen finden sich auch in den Inschriften des Godehard- und des Epiphaniusschreins (Nr. 40f.) sowie auf der in der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts entstandenen Domtaufe (Nr. 67).

Die genannten Schriftcharakteristika legen eine Datierung der Chorschrankeninschriften um 1200 nahe. Aufgrund der Baugeschichte läßt sich die Entstehung etwas näher auf die Zeit zwischen 1194 und 1197 eingrenzen. Nach der Erhebung der Gebeine des heiligen Bernward im Jahr 1194 setzten im Westteil von St. Michaelis umfangreiche Baumaßnahmen ein, die mit der Neuweihe des Marienaltars, die wahrscheinlich im Jahr 1197 erfolgte, ihren Abschluß fanden.12)

Textkritischer Apparat

  1. S(ANCTVS) / S(ANCTA)] Jeweils als S mit durchgezogenem Querstrich ausgeführt.
  2. XPI.
  3. XPC.

Anmerkungen

  1. Vgl. Cord Alphei: Von der benediktinischen Klosterkirche zur lutherischen Gemeindekirche. Quellen zur Baugeschichte von St. Michael im 16. und 17. Jahrhundert. In: Kat. Der vergrabene Engel, S. 45–56, hier S. 47.
  2. Eine ausführliche Beschreibung gibt Niehr, Mitteldeutsche Skulptur, S. 271–275.
  3. Die nicht paginierte Akte DBHi, HS C 930 überliefert verschiedene Stadien der Inschriftenaufnahme durch Kratz: 1. vier Makulaturzettel mit Zeichnungen der Inschriften in Bleistift, 2. einen Zettel mit einer überarbeiteten Fassung der Bleistiftzeichnungen in roter (diplomatische Abschrift) und schwarzer Tinte (leicht normalisierte Transkription), 3. Reinschrift der Zeichnungen in Tinte, 4. Skizze der gesamten Chorschranke mit Maßangaben. Die der Edition zugrundeliegende Reinschrift ist abgebildet in: Kat. Der vergrabene Engel, S. 126.
  4. DBHi, HS C 26b, S. 85f.
  5. Regula Benedicti IV,21.
  6. Iac. 4,8.
  7. Mt. 16,16.
  8. Rm. 1,4.
  9. I Io. 4,19.
  10. Ps. (G) 94,1.
  11. In den bernwardinischen Inschriften wurde mit Ausnahme der Inschrift auf der Grabplatte (Nr. 12) immer doppeltes unverschränktes V für W verwendet. Ein W in dieser Form findet sich auch auf dem Reliquiar des Kaisers Heinrich (Nr. 53) aus dem 3. Drittel des 12. Jahrhunderts.
  12. Vgl. Michael Brandt: „Mit alten und schönen Antiquitäten gezieret“. Die Chorschranken von St. Michael: Rekonstruktion und Kunstgeschichte. In: Kat. Der vergrabene Engel, S. 77–105, hier S. 90.

Nachweise

  1. DBHi, HS C 930, o. S.: vier Makulaturzettel mit Zeichnungen, Zettel mit einer überarbeiteten Fassung, Reinschrift, Skizze der gesamten Chorschranke.
  2. DBHi, HS C 26, S. 85f.
  3. Mithoff, Kunstdenkmale, S. 131f.
  4. Kd. Hildesheim, Kirchen, S. 216f.
  5. Zeller, Romanische Baudenkmäler, S. 34f. (nach Kratz).
  6. Niehr, Mitteldeutsche Skulptur, S. 272.
  7. Slg. Rieckenberg, S. 290–295.

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 48† (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0004807.