Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 41 Dom 2.–3. V. 12. Jh.

Beschreibung

Schrein der Dompatrone. Epiphaniusschrein. Vergoldete Silber- und Kupferplatten über einem Eichenholzkern. Der Steinbesatz ist nahezu verloren. Der Schrein steht heute im verglasten Stipes des Altars auf dem Hochchor. Zunächst war er im Altaraufbau des Choraltars auf der Evangelienseite als Gegenstück des Godehardschreins (Nr. 40) aufgestellt. Als im Jahr 1665 hinter dem Choraltar eine kleine Sakristei eingerichtet wurde, fanden beide Schreine ihren Platz oberhalb der Sakristeitüren links und rechts vom Altar.1) Der Schrein ist mehrfach geöffnet worden. Eine Restaurierung fand in den Jahren 1959/60 durch H. J. Jüttner statt.2)

Der Schrein besteht aus einem Kasten mit Satteldach. Die vier Seiten des Kastens sind mit figürlichen Treibarbeiten verziert, die Körper im Halbrelief, die Köpfe vollplastisch. Die als Schauseite anzusehende Langseite des Schreins zeigt das Gleichnis von den klugen und den törichten Jungfrauen (Mt. 25,1–13): Zur Rechten des segnenden Christus die fünf klugen Jungfrauen mit Nimben. Zu seiner Linken die fünf törichten Jungfrauen ohne Nimben. Ein Band über den klugen Jungfrauen trägt den ersten Vers von Inschrift A, der zweite Vers ist auf der rechten Seite über den törichten Jungfrauen angebracht.

Die zweite Langseite zeigt das Gleichnis von dem Herrn, der seine Güter (Talente) an seine Knechte austeilt und nachher Rechenschaft von ihnen fordert (Mt. 25,14–30). Auf der linken Seite die Austeilung der Talente in Form von Kugeln; auf der rechten die Einforderung der Talente. Über der Austeilung der Talente der erste Vers von Inschrift B, über der Einforderung der zweite Vers.

Auf der einen Giebelseite sind in drei Bogenfeldern drei nimbierte Figuren dargestellt. In der Mitte, ausgewiesen durch Inschrift C, Epiphanius als Bischof mit Krümme und Buch. Rechts und links wahrscheinlich die beiden Heiligen Cosmas und Damian. Auf der anderen Giebelseite die drei Heiligen Cantius mit Rutenbündel, Cantianilla mit Stab und Cantianus ebenfalls mit Rutenbündel. Alle drei mit Nimben. Hinter dem Kopf der Cantianilla ein an dieser Stelle – da es den Nimbus etwas überdeckt – vielleicht nachträglich eingefügtes Silberband mit Inschrift D in zwei Zeilen. Auf dem vorspringenden Sockel des Schreins ein an vier Seiten umlaufendes Band mit Inschrift E, teilweise wohl ergänzt (vgl. Anm. j). Die Inschriften sind graviert und nielliert.

Maße: H.: 67 cm; B.: 49 cm; L.: 130 cm; Bu.: 1,5 cm (A, B, E), 0,4 cm (C), 0,7 cm (D).

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

Lothar Schnepf [1/2]

  1. A

    + QVARU(M) LVCET · OPVS PRVDENTES QVINQ(VE) · VENITE // QVE · LAVDES HOMINVM · VANAS · QVESISTIS · ABITE

  2. B

    HIS · TRADITa) · D(OMI)N(V)S · VNV(M) DUO · QVINQ(VE)b) · TALENTA // HI · GEMINATA · FERVNT · PIGER AMITTITc) QVOD · HABEBATd)

  3. C

    S(ANCTVS) EPYPHANIVS EPISC(OPVS)

  4. D

    S(ANCTVS) CANCIVSe) · CANCIAN/ILLA · S(ANCTVS)f) · CANCIANVS ·

  5. E

    + CORPORA · S(AN)C(T)OR(VM) CVM · PACE SEPVLTA QVIESCVNT3) / IN CAELISg) · ANIMAS GAVDIA MAGNA FOVENT ILLIC EXPECTANT DONEC CVM CORPORE SVRGANT / DETQVEh) · STOLAS · BINAS4) · HIS · SINE · FINE · D(EV)Si) / QVOS NVNC · SVPPLICITER · ET · TOTAj) MENTE ROGEMVSk) UT NOS DIGNENTVR · CONCILIARE DEO

Übersetzung:

Ihr, deren Werk leuchtet, ihr fünf Klugen, kommt! Ihr, die ihr nach eitlem Lob der Menschen gesucht habt, weicht! (A)

Diesen vertraut der Herr ein, zwei, fünf Talente an. Diese bringen das Doppelte, der Faule verliert, was er hatte. (B)

Der heilige Bischof Epiphanius. (C)

Die Leiber der Heiligen ruhen bestattet im Frieden. Im Himmel erwärmen ihre Seelen große Freuden; sie warten dort so lange, bis sie mit dem Leib auferstehen und Gott ihnen für die Ewigkeit (?) zwei Gewänder gibt. Diese [Heiligen] wollen wir nun demütig und von ganzem Herzen bitten, daß sie geruhen, uns mit Gott zu versöhnen. (E)

Versmaß: Zwei Hexameter mit Endreim (A), zwei Hexameter (B), elegische Distichen (E).

Kommentar

Die Gestaltung der Buchstaben am Epiphaniusschrein entspricht in ihren Grund- und Zierformen denen des Godehardschreins (Nr. 40). Lediglich das unziale D kommt dort nicht vor. Aufgrund der im Kommentar zu den Inschriften des Godehardschreins ausführlich dargelegten Datierungsargumente dürfte der Epiphaniusschrein etwa zur selben Zeit – im zweiten oder dritten Viertel des 12. Jahrhunderts – entstanden sein. Insgesamt sind die paläographischen Charakteristika der Inschriften des Godehardschreins wie die Blättchenverzierungen, die verdoppelten linken Schrägbalken der kapitalen N und M sowie allgemein die Durchdringung der Kapitalis mit runden Formen am Epiphaniusschrein häufiger, so daß dieser Schrein wahrscheinlich als der jüngere von beiden anzusehen ist.

Die Gebeine des heiligen Epiphanius hatte der Hildesheimer Bischof Othwin im Jahr 962 in Pavia gestohlen und ein Jahr später nach seiner Rückkehr im Hildesheimer Dom niedergelegt.5) Nach Bertram deutet eine 1896 wiederentdeckte Confessio unter dem Kreuzaltar auf ein Altargrab hin, das die Reliquien des als Dompatron verehrten Epiphanius enthielt.6) Zusammen mit den Gebeinen der als Dompatrone verehrten drei Cantianer und den ebenfalls in Pavia gestohlenen Überresten der heiligen Speziosa, der Schwester des Epiphanius, wurden sie in diesen Schrein gelegt.7)

Die Darstellungen der beiden Gleichnisse auf den Langseiten des Schreins stehen in enger Beziehung zu den Festen des heiligen Epiphanius und der übrigen als Dompatrone verehrten Märtyrer sowie der heiligen Jungfrau Speziosa; denn die Gleichnisse sind im Commune sanctorum als Lesungen für die Festtage von Märtyrern und heiligen Jungfrauen vorgesehen.8) Die Inschriften fassen die dargestellten Gleichnisse auf der Ebene des Litteralsinns zusammen,9) lediglich der zweite Vers von Inschrift A gibt eine entschieden moralische Deutung: Die törichten Jungfrauen sind diejenigen, die nach dem Lob der Menschen trachten und nicht allein auf die Ankunft des himmlischen Bräutigams sehen. Die übrigen Darstellungen und Namenbeischriften weisen auf die wichtigsten im Schrein enthaltenen Reliquien hin und machen so die Heiligen, die für den mittelalterlichen Betrachter in den Reliquien im Inneren leiblich anwesend sind, äußerlich am Schrein sichtbar. Auch die Sockelinschrift (E), die nicht im einzelnen auf die Darstellungen eingeht, bringt die Mittlerfunktion der Heiligen zum Ausdruck, die einerseits Angehörige der civitas celestis, andererseits aber auch in ihren Reliquien für den betenden Gläubigen präsent sind.10) Der Anfang von Inschrift E stimmt weitgehend mit der Kamminschrift der Lipsanotheca Mariana (Nr. 1) überein.

Textkritischer Apparat

  1. TRADIT] TRADIDIT Außer Elbern/Engfer/Reuther alle Überlieferungen.
  2. QVINQ(VE)] QVINAVE Kd.
  3. AMITTIT] Zweites I klein unter die beiden T gestellt.
  4. HABEBAT] HABEAT Kd.
  5. CANCIVS] CANCVS Kd.
  6. S(ANCTVS)] Fehlt Kd.
  7. CAELIS] Proklitisches A.
  8. DETQVE] det quis HS 123b.
  9. D(EV)S] Kürzungsstrich mit einer Ausbuchtung nach oben zwischen D und S.
  10. QVOS ... TOTA] Die Buchstaben weisen in diesem Bereich nicht die typischen Blättchenverzierungen und die charakteristischen verdoppelten Diagonalstriche bei M und N auf. M und N sind außerdem schmaler ausgeführt als in der übrigen Inschrift. Dies deutet darauf hin, daß das Textstück später erneuert worden ist.
  11. ROGEMVS] Danach ein großes Spatium; rogamus HS 123b.

Anmerkungen

  1. Vgl. Elbern/Engfer/Reuther, Hildesheimer Dom, S. 44; Bertram, Fundatio, S. 34. – Die Aufstellung dokumentieren auch zwei Inschriften am Hochaltar, vgl. Nr. 544.
  2. Vgl. Elbern/Engfer/Reuther, Hildesheimer Dom, S. 41. Zu den Öffnungen des Schreins vgl. Nr. 40.
  3. Nach Sir. 44,14: corpora ipsorum in pace sepulta sunt.
  4. STOLAS BINAS] Joseph gibt jedem seiner Brüder (Gn. 45,22) binas stolas. Hier dürften mit der zwar aus Gn. übernommenen Formulierung aber eher die zwei Arten der Bekleidung gemeint sein, die in Is. 60,10 erwähnt werden: induit me vestimentis salutis et indumento iustitiae circumdedit me.
  5. Vgl. Goetting, Bistum Hildesheim, S. 151f.; zur Vita des Epiphanius s. Konrad Algermissen: St. Epiphanius und der Epiphanius-Schrein im Hildesheimer Dom. In: Diözese 24 (1955), S. 1–34, hier S. 1–13.
  6. Bertram, Fundatio, S. 33.
  7. Vgl. Konrad Algermissen: Was enthält der Epiphanius-Schrein? In: Diözese 29 (1960), S. 38–44, hier S. 43.
  8. Ebd.
  9. Allerdings „leuchtet“ schon im ersten Vers nicht die Lampe, sondern das verdienstvolle Lebenswerk (opus) der Seligen.
  10. Über die Gegenwärtigkeit der Heiligen in ihren Reliquien und Reliquiaren vgl. Anton Legner: Zur Präsenz der großen Reliquienschreine in der Ausstellung Rhein und Maas. In: Rhein und Maas. Kunst und Kultur 800–1400, hg. von Anton Legner, 2 Bde. Köln 1972f., Bd. 2, S. 65–94, hier S. 84.

Nachweise

  1. DBHi, HS 123b, fol. 114r (A, B, E).
  2. Kratz, Dom 2, S. 21–23 (A, B, E).
  3. Mithoff, Kunstdenkmale, S. 109 (ohne C).
  4. Kd. Hildesheim, Kirchen, S. 52 (fehlerhaft).
  5. Konrad Algermissen: St. Epiphanius und der Epiphanius-Schrein im Hildesheimer Dom. In: Diözese 24 (1955), S. 1–34, hier S. 27 (E) u. 32 (A, B).
  6. Elbern/Engfer/Reuther, Hildesheimer Dom, S. 43 (ohne D).
  7. Slg. Rieckenberg, S. 214f., Photos S. 216–221.
  8. Kat. Abglanz des Himmels, S. 186, Abb. S. 160.

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 41 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0004108.