Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 39 Dom 3. V. 12. Jh.

Beschreibung

Hochgrabdeckplatte vom Grab des Dechanten Hermannus. Sandstein. Die rechteckige Platte ist heute im nördlichen Kreuzgangflügel an der Wand angebracht. Die Grabstelle befand sich früher in der Laurentiuskapelle neben der Grablege des Bischofs Udo (Nr. 29).1) In den nach außen abgeschrägten Stein ist der Längsseite nach in sechs Zeilen die Inschrift eingehauen. Die Zeilenanfänge und das Ende der ersten Zeile sind durch teilweise von Punkten begleitete Kreuze markiert. Der Stein weist rechts unten oberflächliche Beschädigungen mit Buchstabenverlust auf. Am früheren Standort war im Gewölbe über der in nördlicher Richtung neben dem Stein befindlichen Säule in gotischer Minuskel der Name (Nr. 237) hermannus decanus angebracht.

Maße: H.: 75 cm; B.: 196 cm; Bu.: 7–8 cm.

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

Julia Zech [1/1]

  1. + EST PROCVL · A · SVP(ER)IS · LIS · ET · DISCORDIA · MORVM + + VIM. TAM(EN) · A · IVSTIS PACIVNTVR · REGNA POLOR(VM)2) + QUANDO · IEIVNANT · ORA(N)T · IVSTI · VIGILANT · DANT + CREDITE · DICENTI · REGNVM · RAPIVNT · UIOLENTIa) + IN QVIBVS · INVENTVS3) · HIC · STRENNVVS · ET · VIOLENT[VS] + MILITIS · EX MORE · MAGNO · TENET · ASTRA · LABOR[E]b)

Übersetzung:

Den Himmelsbewohnern ist Streit und zwieträchtiges Wesen fern. Doch erleidet das Himmelreich Gewalt von den Gerechten, wenn die Gerechten fasten, beten, Nachtwache halten [und] Schenkungen machen. Glaubt dem, der sagt: „Die Tatkräftigen reißen das Himmelreich an sich“. Zu ihnen gehörte dieser tüchtige und tatkräftige [Mann], der nach Art eines Kämpfers mit großer Anstrengung den Himmel erobert hat.

Versmaß: Sechs Hexameter, die beiden ersten mit Zäsur- und Endreim, der dritte einsilbig, die restlichen drei zweisilbig leoninisch gereimt.

Kommentar

A, E, M, N, T und U kommen in kapitaler und runder bzw. unzialer Form vor, H nur als Unziale mit einem an die Haste herangeführten Bogen, G ist eingerollt. Die Buchstaben sind im wesentlichen in linearer Strichstärke ausgeführt und weisen nur wenige ausgeprägte Verstärkungen an den Bögen auf (z. B. U), lediglich der Mittelteil des S ist durch eine Schwellung betont. Das unziale E ist weit geschlossen und zusätzlich mit feinen Strichsporen versehen, so daß sich der Eindruck eines geschlossenen Buchstabens andeutet. Ein regelrechter Abschlußstrich ist aber nicht vorhanden. Auffällig ist ein ausgeprägter, nur nach rechts ausgezogener Strichsporn am rechten offenen Bogen des links geschlossenen unzialen M.

Dieses Grabgedicht wurde aufgrund der an der Säule über der Platte angebrachten Nameninschrift schon von Letzner mit dem zwischen 1311 und 1342 bezeugten Dechanten Hermann von Warberg in Verbindung gebracht.4) Die Buchstabenformen sprechen allerdings gegen eine Entstehung der Inschrift im 14. Jahrhundert. Aufgrund der Schriftform ist sie etwa in die Mitte oder in das dritte Viertel des 12. Jahrhunderts zu setzen.5) Von 1149 bis 1155 ist ein Dechant Hermann als Zeuge in Urkunden genannt.6) Unter der Voraussetzung, daß das Grabgedicht für diesen Dechanten Hermann bestimmt war, wäre die Nameninschrift hermannus decanus später zur Identifizierung der Grabstelle angebracht worden. Auch das ebenfalls nicht namentlich gekennzeichnete Grab des 1114 in der Laurentiuskapelle bestatteten Bischofs Udo wurde nachträglich durch eine Namenbeischrift in gotischer Minuskel identifiziert. Ob dabei ältere Inschriften als Vorlage gedient haben, läßt sich nicht mehr ermitteln.

Das vorliegende Grabgedicht gibt eine auf einen Verstorbenen als Individuum bezogene Auslegung der Bibelstelle Mt. 11,12 ‚das Himmelreich leidet Gewalt und die Gewalttätigen reißen es an sich‘. Der Himmel, an sich eine vom Kampf freie Region (Vers 1), wird bedrängt und schließlich erobert von denen, die sich auf Erden mit guten Werken, Fasten und Beten abmühen (Verse 2 u. 3). Vermittelt durch die nahezu wörtliche Anführung des Bibelzitats (Vers 4) wird die allgemeine Aussage auf die Person des Verstorbenen bezogen (Verse 5 u. 6), der in christlicher Pflichterfüllung als tatkräftig zupackender Kämpfer sich die Aufnahme in den Himmel erzwungen hat.

Textkritischer Apparat

  1. UIOLENTI] Die ersten beiden Buchstaben sind unten verbunden.
  2. LABOR[E]] Die linke Schräghaste des A setzt im Schnittpunkt von Balken und Haste des L an.

Anmerkungen

  1. Vgl. Mithoff, Kunstdenkmale, S. 120. – Zur Lage des Grabdeckels vgl. Alt-Hildesheim 43 (1972), Titelbild.
  2. Nach Mt. 11,12: regnum caelorum vim patitur et violenti rapiunt illud.
  3. Die Verwendung einer kurzen Silbe in der dritten Hebung wie hier im 5. und 6. Hexameter ist im Mittelalter allgemein akzeptiert.
  4. Vgl. u. a. Letzner, Hildesheimische Chronik, 1. Buch, 1. Teil, Kapitel 5; Bertram, Bischöfe, S. 78.
  5. Zu den hier vorliegenden Buchstaben vgl. Einzelformen der Mainzer Domtür-Inschrift von 1135, DI 2 (Mainz), Nr. 10.
  6. UB Hochstift 1, Nr. 253, Nr. 293, Nr. 294.

Nachweise

  1. Letzner, Hildesheimische Chronik, 1. Buch, 1. Teil, Kapitel 5, S. 48.
  2. DBHi, HS 114b, fol. 58v.
  3. DBHi, HS 116, S. 124f.
  4. Göttingen, SUB, Cod. Ms. Hist. 436, fol. 58v.
  5. Mithoff, Kunstdenkmale, S. 120.
  6. Kd. Hildesheim, Kirchen, S. 123f.
  7. Slg. Rieckenberg, S. 267–270 (teils Berges).

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 39 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0003905.