Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 38 London, Victoria & Albert-Museum um 1160–1170

Beschreibung

Tragaltar.1) Querrechteckige Holztafel mit vergoldetem Kupferblech beschlagen, darin eingelassen der Altarstein aus Porphyr. Der Altar gehörte zur Sammlung des Bischofs Eduard Jakob Wedekin (1796–1870). Er stammt vermutlich aus einem der im Zuge der Säkularisation aufgehobenen Hildesheimer Stifte oder Klöster. Da archivalische Belege zur Herkunft fehlen, ist nicht sicher zu entscheiden, ob der Tragaltar tatsächlich stadthildesheimischer Provenienz ist. Der Reliquieninhalt wie auch die Darstellung des heiligen Godehard deuten aber auf eine ursprüngliche Verwendung in oder bei Hildesheim hin.

Die Unterseite2) ist gerahmt von einer Leiste mit Ornamentbändern, es folgen nach innen ein umlaufendes Band mit Inschrift A und ein weiteres Ornamentband. Im Zentrum des Innenfeldes steht eine Darstellung der Trinität in der Form des Gnadenstuhls, über dem Kreuz in Halbbögen Sonne und Mond. Die Trinität ist von einer Gloriole umgeben. Links und rechts unten neben dem Kreuzstamm in Medaillons Halbfiguren der Heiligen Simplicius mit Schild und Schwert und Faustinus mit Schild und Fahne. Über den Darstellungen der beiden Heiligen ein Metallstreifen mit den Namen (B, C). Neben dem Kreuz stehen links außen Bonifatius mit Bischofsstab und Mitra, die Linke segnend erhoben, innen Paulus mit Buch, seine Linke weist auf Christus. Über beiden Figuren ein Inschriftenband (D); rechts neben dem Kreuz außen Pankratius mit Märtyrerpalme in der Linken, die Rechte segnend erhoben, innen Petrus mit Schlüssel, seine rechte Hand weist auf Christus. Über beiden Figuren ein Inschriftenband (E).

Auf der Oberseite ist der Altarstein von einer Bildleiste gerahmt. In ihren vier Ecken zeigen Bildfelder vor perlpunziertem Hintergrund Darstellungen aus dem Leben Christi, rechts unten die Geburt mit Beischrift F; links unten der gekreuzigte Christus mit Maria und Johannes unter dem Kreuz, darüber Inschrift G; links oben die drei Frauen am Grab (ohne Beischrift), rechts oben Christi Himmelfahrt mit einem Engel in der linken oberen Ecke, von dessen rechter Hand ein Spruchband mit Inschrift H ausgeht. An den beiden Längsseiten ebenfalls vor perlpunziertem Hintergrund Halbfiguren in Bogenfeldern, in den Zwickeln der Bögen Rankenwerk. Auf den Bögen sind Beischriften angebracht, die die darunter dargestellten Figuren identifizieren. Die obere Längsseite zeigt im Zentrum Christus mit Beischrift I, er hält ein Buch in der Linken, darauf Inschrift J in zwei Zeilen auf jeder Buchseite, die rechte Hand ist segnend erhoben. In den Bogenzwickeln links das Lamm mit dem Kreuzstab, rechts ein Adler. Christus wird flankiert von vier männlichen Heiligen: links außen Johannes der Evangelist mit Beischrift K, innen der Erzengel Michael, eine Hostie haltend, mit Beischrift L, rechts außen der heilige Godehard mit Bischofsstab und Mitra – als einziger ohne Nimbus dargestellt – mit Beischrift M, rechts innen Johannes der Täufer mit Beischrift N. Die untere Langseite zeigt im Zentrum Maria mit Beischrift O, flankiert von vier weiblichen Heiligen: links außen Maria Magdalena mit Salbgefäß (P), innen Cäcilia mit Fackel (Q), rechts außen Beatrix (R), innen Margareta (S), beide mit Salbgefäß und Fackel.

An den Schmalseiten sind in hochrechteckigen Feldern ebenfalls Halbfiguren glatt vor perlpunziertem Hintergrund dargestellt. Sie sind durch Reliquienbeischriften auf den Stegen, die die Bildfelder voneinander trennen, bezeichnet. Links oben Stephanus mit Beischrift T, er hält ein Buch, darauf Inschrift U; links unten Benedikt als Abt mit Stab und Buch (V); rechts oben Vincentius mit Buch (W); rechts unten Vitus mit Palmzweig (X). Die Inschriften sind graviert.

Maße: L.: 38,4 cm; B.: 23,3 cm; Bu.: 0,8 cm (A), 1 cm (B–E, V, X), 0,6 cm (F, G, I, K–S), 0,2 cm (H), 0,3 cm (J, U, W), 0,8 cm (T).

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

  1. A

    C(ON)TI(NE)NT(VR) · HIC · EOR(VM) · RELIQ(V)IEa) · QVOR(VM) · IMAGINES · SVP(R)ab) · (ET)c) · INFRA · SCVLPTE · S(VN)T · ET · S(AN)C(T)OR(VM) · / LAVRENTII · KYLIANId) · GEORGII · OSWALDIe) / SEBASTIANI · MAVRITII · THEBEOR(VM) · M(ARTY)R(V)M · DIONISII · GREGORII · NICOLAI · / · MARTINI · LVCIE TECLE · XI · MIL(IVM) · V(IRGINVM) ·

  2. B

    · SI(M)PLICI(VS) ·

  3. C

    · S(ANCTVS) · FAVSTIN(VS) ·

  4. D

    · S(ANCTVS) · BONIFACI(VS) · PAVLVS ·

  5. E

    S(ANCTVS) · PETR VS · PANCRATI(VS) ·

  6. F

    NATIVITAS ·

  7. G

    PASSIO · D(OMI)NI

  8. H

    SIC · VENIETf)3)

  9. I

    · PANIS · QVEM · EGO · DABO · CARO · M(EA)g) · E(ST)4)

  10. J

    PA/X // VO/BISh)5)

  11. K

    IOHANNES · EV(ANGELISTA) ·

  12. L

    MICHAHEL · ARCHANG(E)L(VS) ·

  13. M

    GODEHARDI · EP(ISCOP)I ·

  14. N

    IOH(ANN)IS · BAPTISTE ·

  15. O

    MATERi) · M(AR)IE ·

  16. P

    MARIE · MAGDAL(ENE) ·

  17. Q

    · CECILIE · V(IRGINIS)j)

  18. R

    BEATRICIS · V(IRGINIS)j) ·

  19. S

    · MARGARETE · V(IRGINIS)j) ·

  20. T

    STEPHANI ·

  21. U

    D(OMI)N(V)Sk) / VO/BIS/CV(M)6)

  22. V

    BENEDICTI

  23. W

    VINCENTII ·

  24. X

    S(ANCTI) · VITI ·

Übersetzung:

Hier sind enthalten die Reliquien derer, deren Bilder ober- und unterhalb graviert sind, und [die] der Heiligen Laurentius, Kilian, Georg, Oswald, Sebastian, Mauritius, der Thebäischen Märtyrer, des Dionysius, Gregor, Nikolaus, Martin, der Lucia, Thekla [und] der Elftausend Jungfrauen. (A)

Simplicius (B), der heilige Faustinus (C), der heilige Bonifatius, Paulus (D), der heilige Petrus, Pankratius (E).

Geburt. (F)

Das Leiden des Herrn. (G)

So wird er kommen. (H)

Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch. (I)

Friede sei mit euch. (J)

Der Evangelist Johannes (K), der Erzengel Michael (L), [Reliquien] des Bischofs Godehard (M), Johannes des Täufers (N), der Mutter Maria (O), der Maria Magdalena (P), der Jungfrau Cäcilia (Q), der Jungfrau Beatrix (R), der Jungfrau Margareta (S), des Stephanus (T).

Der Herr sei mit euch. (U)

[Reliquien] des Benedikt (V), des Vincentius (W) [und] des heiligen Vitus (X).

Kommentar

Die Inschriften des Tragaltars sind charakterisiert durch zahlreiche Ligaturen, Abkürzungen und eingestellte kleiner ausgeführte Buchstaben. Neben eckigen C stehen unziale E sowie links geschlossene unziale M mit geschwungener rechter Haste. D, O und einzelne P mit ausgeprägter Bogenverstärkung. Die Übergänge von Bögen und Hasten, insbesondere bei D, seltener auch bei P sind ausgerundet. Die Cauden der R und Q sind überwiegend langgestreckt und weisen Schwellungen auf. Einzelne Buchstaben, vor allem O und S, sind in unterschiedlichen Strichstärken ausgeführt. Insgesamt legen diese Charakteristika eine Entstehung der Inschrift in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts nahe. Sie lassen sich – wenn auch mit einzelnen Abweichungen – am ehesten an die um 1160 entstandenen Inschriften auf den Braunschweiger Tragaltären anschließen.7)

Die Darstellung Godehards ohne Nimbus spricht einerseits für eine Datierung vor 1131, dem Jahr seiner Heiligsprechung. Da Inschrift A aber darauf verweist, daß der Tragaltar Reliquien aller abgebildeten Figuren enthalte, also auch des heiligen Godehard, kann er andererseits erst nach der Erhebung der Gebeine im Jahr 1132 entstanden sein. Die allgemein auf sämtliche Dargestellten zielende Formulierung der Inschrift A wird noch gestützt durch die Tatsache, daß das Bildnis Godehards mit einer Reliquiennennung im Genitiv (M) und nicht mit einer Bildbeischrift im Nominativ versehen ist. Aufgrund ikonographischer Untersuchungen wird der Altar in der kunsthistorischen Forschung übereinstimmend auf um 1160 bis 1170 datiert.8) Diese Entstehungszeit läßt sich auch mit den Buchstabenformen vereinbaren.

Die Darstellungen des Tragaltars mit ihren Beischriften nehmen – wie Soltek gezeigt hat – Bezug auf die Meßliturgie. Im Bild des Gnadenstuhls ist der Akt der Opferung gezeigt: Gottvater präsentiert Christus am Kreuz; er nimmt dieses Opfer und gleichzeitig das daran erinnernde Opfer der Messe an.9) Als unmittelbare Textquelle für das Bildprogramm läßt sich das vorletzte Offertorialgebet ‚Suscipe, sancta Trinitas‘ ansehen, und zwar in der erweiterten Fassung des Rheinischen Meßordos, auf die Clemens Bayer in seiner Untersuchung des Siegburger Mauritiusaltars hingewiesen hat.10) Im Unterschied zu den drei Stationen der tridentinischen Fassung (... ob memoriam passionis, resurrectionis et ascensionis Jesu Christi) sind dort fünf Stationen aus der Vita Christi genannt, von denen vier auf dem Hildesheimer Tragaltar wiederkehren: Suscipe, sancta Trinitas, et vera unitas hanc oblationem, quam tibi offerimus in memoriam incarnationis, nativitatis, passionis, resurrectionis et ascensionis Domini nostri Iesu Christi. Das Gebet lautet weiter: et in honore sancte Dei Genitricis Marie, sancti Petri et Pauli et omnium sanctorum tuorum, qui tibi placuerint ab initio mundi et eorum, ... et quorum hic nomina vel reliquie habentur et pro innumerabilibus peccatis meis et pro fidelibus omnibus vivis ac defunctis christianis, ut tibi proficiat ad honorem, nobis autem ad salutem, ut illi omnes pro nobis intercedere dignentur in celis, quorum memoriam facimus in terris.11) Dieser Schlußteil ist in den Darstellungen Christi und der Gottesmutter sowie der Heiligen auf der Oberseite des Altars aufgegriffen, gestützt durch den in der Inschrift gegebenen Verweis auf die im Altar befindlichen Reliquien der Dargestellten. Der an der Messe teilnehmende Gläubige wird so in die lebendige Gemeinschaft der Heiligen eingebunden.

Textkritischer Apparat

  1. RELIQ(V)IE] Zweites I hochgestellt.
  2. SVP(R)a] Minuskel-a in Form von zwei unten verbundenen Bögen über P.
  3. (ET)] Lapidem Schatzkammer auf Zeit. Das ET-Kürzel ist als L mit einem gebogenen Strich durch die Haste ausgeführt.
  4. KYLIANI] Punkt über Y.
  5. OSWALDI] Danach ein Strich.
  6. VENIET] Zweites E ohne Deckbalken.
  7. M(EA)] Meus Kat. Stadt im Wandel.
  8. VO/BIS] S hochgestellt.
  9. MATER] Statt MATRIS.
  10. V(IRGINIS) r-Kürzel oben zwischen den Hasten des V.
  11. D(OMI)N(V)S] Die untere Hälfte der Schräghaste und die rechte Haste des N fehlen.

Anmerkungen

  1. Inv. Nr.: 10-1873.
  2. Eine ausführliche Beschreibung gibt Soltek, Tragaltar, S. 9–11.
  3. Act. 1,11.
  4. Io. 6,52.
  5. Lc. 24,36 u. Parallelstellen.
  6. Grußfromel im Ordo missae nach Ex. 10,10.
  7. DI 35 (Stadt Braunschweig I), Nr. 1113.
  8. Kat. Stadt im Wandel 2, Nr. 1046, S. 1204f.; Soltek, Tragaltar, S. 9–48; Kat. Schatzkammer auf Zeit, S. 130–132 (Brandt).
  9. Vgl. Soltek, Tragaltar, S. 16f.
  10. Text nach Clemens M. M. Bayer: Der Mauritius-Tragaltar in Siegburg: Bemerkungen zu Datierung, Ikonographie und Ikonologie unter besonderer Berücksichtigung der Inschriften. In: Heimatblätter des Rhein-Sieg-Kreises 60/61 (1992/1993), S. 7–46, S. 44, Anm. 131.
  11. Ebd., S. 27 (mit Übersetzung).

Nachweise

  1. Kat. Stadt im Wandel 2, Nr. 1046, S. 1204f. (I) mit Abb. beider Seiten.
  2. Kat. Schatzkammer auf Zeit, S. 130f. (A) mit Abb. beider Seiten.

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 38 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0003801.