Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 22(†) Dom 1038–1044, 2. H. 14.–15. Jh.

Beschreibung

Radleuchter. Schmiedeeisen, Kupfer, teilweise vergoldet.1) Der sogenannte kleine Radleuchter ist seit der im Jahr 1988 abgeschlossenen Restaurierung in der Antoniuskirche aufgehängt; ursprünglich befand er sich vor dem Hauptaltar des Domchors.2) Der schmiedeeiserne Reif wird durch zwölf Tore und zwölf höhere, mit einem Dach versehene Türme unterbrochen. Am Reif ist ein oberer und ein unterer Ring angebracht, zwischen beiden Ringen ein Taubandwulst. Auf dem oberen Ring befand sich Inschrift A, auf dem unteren B. Der Leuchter ist mehrfach restauriert worden, so daß vom ursprünglichen romanischen Bestand kaum noch etwas erhalten ist. Die Inschriften sind sämtlich verloren. Die erste Renovierung fand nach Herzig um 1500 statt. Bei dieser Gelegenheit wurden die Kuppellaternen der Türme mit Maßwerkfüllungen, die Turmgebäude mit Säulen sowie die Tore und Silberblechverkleidungen im spätgotischen Stil angebracht. Aus dieser Zeit stammen wahrscheinlich auch die Apostelnamen (C) auf den Baldachinen der neugestalteten Tore, die bei einer Reinigung um 1918 „schwach leserlich zum Vorschein“ kamen. Sie waren auf die silbernen Bekleidungen der Baldachine mit Goldschrift aufgemalt.3) Inschrift C läßt darauf schließen, daß zumindest in spätgotischer Zeit in den Tornischen Apostelfiguren gestanden haben.4) Weitere Restaurierungen des Leuchters nennt Kratz für die Jahre 1613 (Goldschmied Hans Eynem) und 1718.5) Im Jahre 1818 wurde der Leuchter nach dem Zeugnis einer im Inneren des einen Turms erhaltenen Inschrift erneut repariert.6) Dieser Renovierung sind möglicherweise die Inschriften A und B zum Opfer gefallen; denn noch 1807 erwähnt Blum eine Inschrift am kleinen Radleuchter, die das Andenken an Bischof Thietmar bewahre, 1840 aber bemerkt Kratz ausdrücklich, daß am Ring des Leuchters keine Inschrift vorhanden sei.7) Diese Beobachtung veranlaßte Kratz, an der Authentizität der bis dahin nur von dem als Geschichtsfälscher bekannten Johann Christoph Harenberg († 1774) aufgezeichneten Inschrift zu zweifeln.8) Berges versuchte seinerseits, diese Zweifel von Kratz zu untermauern, und kam zu dem Schluß, daß beide Reifinschriften von Johann Christoph Harenberg „mit sehr viel Geschick“ erfunden worden seien (B/R, S. 123). Diese Ansicht ist jedoch unhaltbar, da die Reifinschriften des kleinen Radleuchters bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts in der Handschrift DBHi, HS 123b aufgezeichnet worden sind. Sie stehen dort zwischen den Inschriften des großen Radleuchters und denen der Dom-Taufe (Rieckenberg in B/R, S. 183f.).

Inschriften A und B nach DBHi, HS 123b.

Maße: Dm.: 330 cm;1) Bu.: ca. 2,5 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel mit Versalien (C).

  1. A †

    Formator reru(m)a) qui regnas vn(us)b) i(n) euu(m) Multa (com)ple(n)do sine t(em)p(or)ec) cu(n)cta regendo Suscipe cleme(n)ter q(ue) fert tibi dona libe(n)ter P(re)sul qui(n)den(us) eiusde(m) sedis amen(us) 5 Qui diu(er)soru(m) p(re)celle(n)s vir me(r)itoru(m) Hoc dec(us) ip(s)e pied) suspe(n)dit spo(n)te mariee) Te(m)plo p(rese)nti q(uo)d splendet hono(r)e dece(n)ti P(re)bet et a(n)nosu(m) veri seruimi(ni)s vsu(m) Pro quo sple(n)do(r)e tu rex op(er)isq(ue) labo(r)e 10Mercede(m) regni cleme(n)s p(er)solue sup(er)ni Vt q(ui) te totis coluit p(er) t(em)p(or)a votis Huic infinita(m) dones p(er) secula vita(m)

  2. B †

    Cernite l(ec)tores pulchri splendoris honores Quos d(omi)no Chr(ist)of) te(m)plo (com)me(n)dat i(n) isto P(re)sul dethmar(us) v(i)rtutu(m) stemateg) clar(us)h) P(re)sul quide(m)i) dign(us) p(re) cu(n)ctisj) ip(s)e benign(us) 5P(er)q(ue) p(ro)bos mores equans v(ir)tute priores O(mn)ib(us) affinis et ciuibus et peregrinis Vnde simul cu(n)cti diui(n)o federe iu(n)cti A d(omi)no vite venia(m) sibi poscite rite Vt sospes longos hic ducat t(em)p(or)is a(n)nos 10Et felix plures simili det laude labores P(ost) corruptiua(m) qua(m)k) corp(us) ponit vsiam No(n) corruptiuus valeat sine corp(or)e viuus

  3. C

    [ - - - ] S(anc)t(us) a(n)d[rea]sl) // S(anctus) matheusl) // [ - - - ]

Übersetzung:

Schöpfer der Welt, der du allein in Ewigkeit regierst, indem du vieles vollendest und zeitlos alles lenkst, nimm gnädig die Gaben an, die dir der wohlgefällige Bischof, der 15. dieses Ortes, gerne darbringt. (5) Dieser hervorragende Mann von vielfältigen Verdiensten hat aus eigenem Antrieb diesen Schmuck für die hiesige Kirche der heiligen Maria aufhängen lassen, die in gebührender Pracht erstrahlt. Er bringt auch dar die langjährige Ausübung des wahren Dienstes. Für die Pracht und die Bemühung um dieses Werk zahle ihm du, König, (10) gnädig den Lohn des Himmelreiches aus, indem du ihm, der dich durch die ganze irdische Zeit in all seinen Gebeten verehrt hat, dauerndes Leben in alle Ewigkeit schenkst. (A)

Nehmt wahr, ihr Leser, die Pracht des herrlichen Glanzes, welche [Bischof Thietmar] in dieser Kirche seinem Herrn Christus weiht. Bischof Thietmar, hervorragend durch den Kranz von Tugenden, ein Bischof gewiß würdig vor allen und gütig, (5) der durch seine vortrefflichen Sitten den früheren an Tugend gleichkommt und allen, Bürgern wie Fremden, nah ist. Daher sollt ihr, die ihr alle zugleich durch göttlichen Bund vereint seid, in gebührender Weise für ihn Gnade vom Herrn des Lebens erbitten, daß er wohlbehalten hier lange Jahre des zeitlichen Lebens habe (10) und glücklich noch mehr Werke von vergleichbarer Lobwürdigkeit stifte. Nachdem er das vergängliche Wesen, seinen Körper, abgelegt hat, möge er unvergänglich ohne Körper selig leben. (B)

Versmaß: Hexameter, teils einsilbig, teils zweisilbig leoninisch gereimt (A, B).

Kommentar

Aus den Inschriften A und B geht hervor, daß der kleine Radleuchter nicht von Bischof Azelin – wie vielfach überliefert –, sondern von seinem Vorgänger Bischof Thietmar (1038–1044) gestiftet wurde.9) Thietmar war im Jahr 1038 als Nachfolger Godehards zum Bischof geweiht worden.10) Inschrift C ist in gotischer Minuskel ausgeführt und kann anhand der geringen Buchstabenreste nur ungefähr auf die Zeit von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis ins 15. Jahrhundert datiert werden.

Inschrift A, die auf dem oberen Reif angebracht, also gleichsam Gott zugewandt war, beginnt mit einer Invocatio Dei und ist insgesamt als Gebet für das ewige Leben des Stifters formuliert. Inschrift B auf dem unteren Ring wendet sich dagegen ausdrücklich an die unten stehenden Leser mit einer Laudatio auf Bischof Thietmar.

Formal auffällig ist die große Zahl von zweisilbig gereimten leoninischen Hexametern. Diese Reimtechnik läßt sich in den Hildesheimer Inschriften der frühen Zeit sonst nur in den beiden Epitaphien für Bischof Bernward (Nr. 19) und für Bischof Benno von Oldenburg (Nr. 20) finden, deren Entstehungszeitraum nicht sicher auf die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts festgelegt werden kann. Ein zeitgenössischer literarischer Text aber, die Vers-Vorrede zur Vita Godehardi prior des Wolfhere, weist ebenfalls besonders viele zweisilbig gereimte Hexameter auf (Berges in B/R, S. 119). Berges hat außerdem noch auf sprachliche Parallelen zwischen der Vers-Vorrede und den Leuchterinschriften hingewiesen, von denen die charakteristischen Übereinstimmungen zwischen den Versen 7f. der Inschrift B divino federe iuncti / [...] sibi poscite [...] und Wolfhere 28/30 Quapropter cuncti Deitatis foedere iuncti / [...] / Et sanctis digni sibi poscite gaudia regni die aussagekräftigsten sind. Auch inhaltlich lassen sich Verbindungen zwischen der Charakterisierung Bischof Thietmars in den Leuchterinschriften und in der Vita Godehardi posterior des Wolfhere aufzeigen. So schildert Wolfhere in der Vita posterior (Kapitel 33) den Nachfolger Godehards als einen Bischof, der sich dulcissima benignitate, quam erga clerum et populum exercuit auszeichne. Besondere charitas habe er dem Domkapitel erwiesen und sich in lobenswerter Weise bemüht, den Dom auszuschmücken.11) Aufgrund dieser vielfältigen Übereinstimmungen wird Wolfhere als Autor der Inschriften am kleinen Radleuchter ernsthaft in Betracht zu ziehen sein (Rieckenberg in B/R, S. 184).

Textkritischer Apparat

  1. reru(m)] regum Berges nach Harenberg.
  2. vn(us)] cuncta Berges nach Harenberg.
  3. t(em)p(or)e] Berges nach Harenberg, t(em)p(or)a HS 123b.
  4. pie] pia Berges nach Harenberg, HS 123b.
  5. marie] maria Berges nach Harenberg, HS 123b.
  6. xpo HS 123b.
  7. stemate] Berges nach Harenberg, scemate HS 123b.
  8. clar(us)] charus Berges nach Harenberg.
  9. quide(m)] qui idem Berges nach Harenberg.
  10. p(re) cu(n)ctis] percunctis Berges nach Harenberg.
  11. qua(m)] quum Berges nach Harenberg.
  12. Lesung unsicher. Herzig konnte noch die Namen „Paulus“ und „Mathias“ lesen, gibt diese aber nicht als Inschriften wieder.

Anmerkungen

  1. Durchmesser sowie Angaben zum Material und zur Geschichte der Restaurierungen nach Richard Herzig: Der kleine Radleuchter im Dom in Hildesheim. In: Die Denkmalpflege 20 (1918), S. 81–85, hier S. 81f.
  2. Chronicon Hildesheimense, S. 853: coram principali altari pendentem.
  3. Herzig (wie Anm. 1), S. 84.
  4. Ebd.; Adolf Bertram: Die beiden Radleuchter im Dome zu Hildesheim. Hildesheim 1900, S. 23.
  5. Kratz, Dom 2, S. 85 und Anm. 63.
  6. Zitiert nach Berges (B/R, S. 117): 1818 reparavit Franz Wilhelm Todt Vicarius hanc coronam.
  7. Blum, Fürstenthum Hildesheim 2, S. 139. Ob Blums Angaben auf Autopsie beruhen, wird sich nicht entscheiden lassen; Kratz, Dom 2, S. 84, Anm. 63.
  8. Kratz hat die Aufzeichnungen Johann Christoph Harenbergs in einer Handschrift der Dombibliothek benutzt, die heute nicht mehr ermittelt werden kann. Die Inschrift ist dort fol. 29f. überliefert. Auch Berges scheint diese Handschrift schon nicht mehr vorgefunden zu haben, denn er nennt sie ohne Angabe der Signatur. Ich zitiere Harenberg nach einer Publikation, die allerdings mit „E. A. Harenberg“ unterzeichnet ist: Historische Beschreibung der bischöflichen Kirche in Hildesheim. In: Hannöverische Gelehrte Anzeigen vom Jahre 1754. Sp. 577–650, hier Sp. 645.
  9. Das älteste chronikalische Zeugnis über die Stiftung des Radleuchters, das Chronicon Hildesheimense, nennt Bischof Azelin als Stifter (Berges in B/R, S. 121). Jüngere Aufzeichnungen, wie die aus der Mitte des 12. Jahrhunderts stammenden des Annalista Saxo (vgl. Kat. Bernward 1, S. 445) und der Catalogus episcoporum Hildesiensium, bezeugen den Leuchter als Schenkung Bischof Thietmars (Berges in B/R, S. 121f.).
  10. Zu Bischof Thietmar vgl. Goetting, Bistum Hildesheim, S. 256–263.
  11. Versvorrede zur Vita Godehardi prior des Wolfhere in MGH SS XI, S. 170; Kapitel 33 der Vita Godehardi posterior, ebd., S. 215.

Nachweise

  1. DBHi, HS 123b, fol. 115r/v.
  2. DBHi, HS 141a, S. 11f.
  3. Richard Herzig: Der kleine Radleuchter im Dom in Hildesheim. In: Die Denkmalpflege 20 (1918), S. 81–85, hier S. 83 (C, Zeichnung).
  4. E. A. (!) Harenberg: Historische Beschreibung der Bischöflichen Kirche in Hildesheim. In: Hannöverische Gelehrte Anzeigen vom Jahre 1754, Sp. 577–650, hier Sp. 644f.
  5. Kat. Ego sum, S. 464 (C).
  6. Berges in B/R, S. 118.

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 22(†) (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0002203.