Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 16 St. Michaelis 993–1022

Beschreibung

Gedenkstein. Roter Sandstein. Der hochrechteckige Stein ist heute im südlichen Teil des östlichen Querhauses an der Wand befestigt, der ursprüngliche Standort ist unbekannt. Im 18. Jahrhundert war er an der Außenseite des Westchors angebracht.1) Dort befand sich der Gedenkstein bis zur Zerstörung der Michaeliskirche im Zweiten Weltkrieg. Die Inschrift ist in einem gerahmten, vertieften Innenfeld in sieben Zeilen ohne Wortzwischenräume eingehauen,2) wobei die Buchstaben nicht in der üblichen Hauweise mit spitz zulaufender Kerbe, sondern mit rechteckiger Kerbe eingemeißelt worden sind. Möglicherweise waren die Buchstaben mit einer farbigen Masse ausgelegt. Durch Kriegseinwirkungen wurde der Stein 1945 in der unteren Hälfte beschädigt, so daß die letzten drei Zeilen beeinträchtigt sind.

Maße: H.: 107,5 cm; B.: 89 cm; Bu.: 9,8 cm.

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

Jutta Brüdern [1/1]

  1. + VENITEa) CONCI/VESb) NOSTRI / DEVM ADORA/TE3) VESTRIQ(VE)c) / PRAE[S]VLIS / BERNVV[ARD]Id) / [ME]MENTOTEe)

Übersetzung:

Kommt, unsere Mitbürger, betet zu Gott und gedenkt eures Bischofs Bernward.

Kommentar

Die verwendete Kapitalis steht der Capitalis quadrata der Buchschrift nahe. Unziale A, E und M alternieren mit den kapitalen Entsprechungen. Die genannten Unzialformen lassen sich zwar auch in der Monumentalschrift des frühen 11. Jahrhunderts nachweisen,4) in diesem Fall aber sind sie wohl eher mit den zeitgenössischen Auszeichnungsschriften des Hildesheimer Skriptoriums in Zusammenhang zu bringen. Tatsächlich erinnert die Inschrift auf dem Gedenkstein in ihrer Anordnung und in der breiten Ausführung der Buchstaben an die farbig hinterlegten, in Capitalis quadrata beschriebenen Zier-Textseiten des Guntbald-Evangeliars (DS 33) von 1011.5) Auch dort sind innerhalb einer Capitalis quadrata unziale Formen verwendet, die denen auf dem Gedenkstein ähnlich sehen. Gewisse Unterschiede in der Ausformung können durch die verschiedenen Herstellungstechniken bedingt sein, wie beispielsweise der feine Begleitstrich an der geschwungenen Haste des unzialen A in der Auszeichnungsschrift, der im Stein wohl nicht auszuführen war. Schriftgeschichtlich spricht daher nichts gegen die Entstehung in bernwardinischer Zeit.6) Bemerkenswert ist das spitze kapitale A mit nur nach links überstehendem Deckbalken, das auch in der Inschrift auf dem Kostbaren Evangeliar (vgl. Nr. 4) verwendet worden ist, und das symmetrische unziale M am Anfang von MEMENTOTE.

Die sprachliche Form der Inschrift legt die Vermutung nahe, daß der Text von Bernward († 1022) selbst verfaßt worden ist; die 2. Person Plural VESTRI sowie die Imperative ADORATE und MEMENTOTE schließen nur den „Sprecher“ vom Gebetsgedenken aus. Ein späterer Verfasser hätte sich selbst wohl kaum aus der Gebetsgemeinschaft ausgenommen. Diese Bitte um Gebetsgedenken erweist den Stein als einen wichtigen Teil der Bernwardmemorie in St. Michaelis. Als Adressaten werden die CONCIVES NOSTRI genannt. Berges hat darunter „die Bürger der jungen ‚Stadt‘ Hildesheim verstanden“ (B/R, S. 102) und als Belege zeitgenössische Urkunden und Nachrichten angeführt, in denen der Begriff civis oder civitas verwendet wird. CONCIVES meint hier, angelehnt an den biblischen Wortgebrauch von cives (im Sinne von ‚Bewohner‘), wohl eher ‚Landsleute, Gefolgsleute, Mitbewohner, Einheimische‘ in ganz allgemeiner Abgrenzung zu ‚Fremden‘ oder ‚Gästen‘. In religiöser Begrifflichkeit wird unter concivis auch ‚der Mitgläubige‘ oder ‚der Nächste‘ verstanden.7)

Textkritischer Apparat

  1. VENITE] Huc venite von den Steinen.
  2. CONCI/VES] I in C gestellt.
  3. VESTRIQ(VE)] VESTRI QUONDAM Beiträge.
  4. BERNVV[ARD]I] BERVVARDI (mit Kürzungsstrich über R) Berges; Bernwardi, BERNVVARDVS Rieckenberg.
  5. [ME]MENTOTE] MEMORATE Beiträge; MEMENTOQVE Niehr.

Anmerkungen

  1. Vgl. Kd. Hildesheim, Kirchen, S. 202f. und Abb. 144.
  2. Entgegen der bei Wirth (Begräbnis Bischof Bernwards, S. 323, Anm. 65) zitierten Äußerung Bernhard Bischoffs ist die Inschrift – auch wenn die Abbildungen einen anderen Eindruck vermitteln – vertieft ausgeführt.
  3. Anklänge an Ps. 94,6: venite adoremus. Kratz bezeichnet den Text der Inschrift als Bernwards Wahlspruch, „welchen er oftmals bei seinen Laien und Geistlichen im Munde führte“ (Kratz, Dom 3, S. 41 Anm.); s. a. Nr. 48 (Chorschranke): dort ist Bernward das Zitat Ps. 94,1 Venite exultemus zugeordnet worden.
  4. Vgl. den in Nr. 10, Anm. 10 genannten Trierer Ruothildis-Stein und DI 24 (Lüneburg: St. Michaeliskloster, Kloster Lüne), Nr. 2: Die Inschrift auf dem ins 11. Jahrhundert datierten Kreuzfuß weist ebenfalls ein unziales A auf (S. 16).
  5. Vgl. Handschriften im Domschatz, S. 75–98, mit zahlreichen Abbildungen, darunter auch die hier einschlägigen Blätter.
  6. Wirth (wie Anm. 2) äußert Zweifel an der Entstehung der Inschrift im 11. Jahrhundert. Er hält sie für „zweifellos nicht-bernwardinisch“. Dabei beruft er sich auf die schriftgeschichtlichen Beobachtungen Bernhard Bischoffs zu dieser Inschrift. Wirth weist auf die „plumpen Buchstabengrundformen“ und die „ungelenke Verteilung“ im Wort NOSTRI hin, die dieses Beispiel von den zeitgenössischen Hildesheimer Inschriften unterschieden. Da Bischoff und Wirth irrtümlich von einer erhabenen Ausführung der Inschrift ausgingen, konnten sie nicht die Besonderheiten in Rechnung stellen, die bei einem in den Hildesheimer Inschriften unüblichen Hauverfahren mit rechteckiger Kerbe konzediert werden müssen.
  7. Vgl. u. a. Eph. 2,19 non ... hospites ... sed cives sanctorum et domestici Dei; Lv. 24,16 steht cives komplementär zu peregrini ‚Einheimische und Fremde‘; Dt. 15,3 Doppelformel civem et propinquum. – S. a. Beda Venerabilis In Ezram et Neemiam, 3. Buch, 325 ... ut concives, hoc est proximi nostri (Bedae Venerabilis Opera 2, 2a, hg. von D. Hurst OSB. Corpus Christianorum 119A. Turnhout 1969, S. 347). – Komplementär zu hospes steht concivis in einer Bitte um Gebetsgedenken aus Benevent (Epitaph des Radelgarius, † 854) + Quisquis ad hunc tumulu (!) properas concivis et hospes / hic precor humato dic miserere deus ... (Gray, Paleography, S. 127, Nr. 121).

Nachweise

  1. Beiträge zur Hildesheimischen Geschichte 2, S. 20 Anm.
  2. Mithoff, Kunstdenkmale, S. 129.
  3. Bertram, Bistum 1, S. 88.
  4. Von den Steinen, Bernward von Hildesheim, S. 356.
  5. Berges in B/R, S. 102; Rieckenberg in B/R, S. 179, Abb. Tafel 18.
  6. Beseler/Roggenkamp, Michaeliskirche, Abb. 15.
  7. Niehr, Mitteldeutsche Skulptur, S. 270.
  8. Kat. Bernward 2, S. 13 mit Abb.

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 16 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0001605.