Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 13(†) St. Michaelis 1010–1022

Beschreibung

Zwölf jeweils zwischen dem Kapitell und der Kämpferplatte der Mittelschiffsäulen angebrachte Steinblöcke. An den beiden östlichen Säulen der Nordseite haben sich die Inschriften erhalten (A, B),1) die übrigen sind nur noch kopial überliefert (C–L).2) Die erhaltenen Inschriften sind auf der dem Mittelschiff zugewandten Fläche der Kämpferblöcke in drei Zeilen eingehauen. Inschrift A befindet sich an der östlichen Säule der Nordseite, B an der nächststehenden Säule nach Westen. Es folgten die Inschriften C–F, G befand sich an der westlichen Säule der Südseite, nach Osten3) folgten die Inschriften H–L.

Inschriften C–L nach DBHi, HS 123b.

Maße: H.: 34 cm; B.: 65 cm; Bu.: 6,45 cm (A, B)4).

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

Hildesheim, Dombibliothek [1/1]

  1. A

    S(ANCTI) MACHARII M(ARTYRIS) / S(ANCTE) AGATHE VIR(GINIS) / S(ANCTE) TECLE VIR(GINIS)a)

  2. B

    S(ANCTI) IOHANNIS EV(AN)G(ELISTE)b) / S(ANCTI) YPPOLITI M(A)R(TYRIS) / S(ANCTI) AVDENTII · C(ON)F(ESSORIS)c)

  3. C †

    Stepha(n)i p(ro)thom(arty)ris Cosme et damiani m(arty)r(u)m

  4. D †

    De sep(u)lchro d(omi)ni Valerij m(arty)ris Alexa(n)dri m(arty)ris

  5. E †

    Bartholomei ap(osto)li Martini ep(iscop)i Ma(r)ga(r)ete v(ir)g(inis) et m(arty)ris

  6. F †

    Andree apostoli Vale(n)tini m(arty)ris Meynulfi diaco(n)i

  7. G †

    De feretro s(an)c(t)e ma(r)ie v(ir)g(inis) De baculo s(an)c(t)i petri apostoli (Christ)ianed) virginis

  8. H †

    Sebastia(n)i m(arty)ris Cecilie v(ir)g(inis) et m(arty)ris Odilie v(ir)g(in)is

  9. I †

    Thome ap(osto)li Geruasij et p(ro)thasij m(arty)r(u)m

  10. J †

    De sudario d(omi)ni Crispini et Crispinia(n)i m(arty)r(um)

  11. K †

    Vrba(n)i p(a)pe et m(arty)ris Nerei et Achillei m(arty)r(u)m

  12. L †

    Celestini p(a)pe et m(arty)ris Tiburcij et saturnini m(arty)r(u)m

Übersetzung:

[Reliquien] des heiligen Märtyrers Macharius, der heiligen Jungfrau Agatha, der heiligen Jungfrau Thekla, (A)

des heiligen Evangelisten Johannes, des heiligen Märtyrers Hippolytus, des heiligen Bekenners Audentius, (B)

des Erzmärtyrers Stephanus, der Märtyrer Cosmas und Damian, (C)

vom Grab des Herrn, des Märtyrers Valerius, des Märtyrers Alexander, (D)

des Apostels Bartholomäus, des Bischofs Martin, der Jungfrau und Märtyrerin Margareta, (E)

des Apostels Andreas, des Märtyrers Valentinus, des Diakons Meinulf, (F)

von der Bahre der heiligen Jungfrau Maria, vom Stab des heiligen Apostels Petrus, der Jungfrau Christiana, (G)

des Märtyrers Sebastian, der Jungfrau und Märtyrerin Cäcilia, der Jungfrau Odilia, (H)

des Apostels Thomas, der Märtyrer Gervasius und Protasius, (I)

vom Schweißtuch des Herrn, der Märtyrer Crispinus und Crispinianus, (J)

des Papsts und Märtyrers Urban, der Märtyrer Nereus und Achilleus, (K)

des Papsts und Märtyrers Coelestin [und] der Märtyrer Tiburcius und Saturninus. (L)

Kommentar

Die Inschriften sind in einer Kapitalis mit einzelnen unzialen E und eingerolltem G ausgeführt. Die Grundformen entsprechen dem üblichen Formeninventar der bernwardinischen Schriften.

Aufgrund der Baugeschichte sind diese Inschriften etwa auf die Zeit zwischen 1010 und 1022 zu datieren. Die Eckdaten bilden der aus dem Jahr 1010 stammende Grundstein (vgl. Nr. 6) und das Jahr 1022,5) in dem die noch unvollendete St. Michaeliskirche geweiht wurde.

Die Inschriften bezeichnen Reliquien, die beim Bau der Kirche in die Säulenkapitelle eingesetzt worden sind.6) Durch das Einmauern von Reliquien wurden die mit den Säulen gleichgesetzten geistlichen Stützglieder der Kirche – die Apostel und Märtyrer – im Kirchenbau gleichsam vergegenwärtigt.7) Der Fund einer Reliquie in einem zur Zeit des Bischofs Adelog (vor 1190) errichteten Langhauskapitell läßt den Schluß zu, daß die Reliquien aus den älteren bernwardinischen Kapitellen in die neuen Säulen übernommen worden sind.8) In die Säulenkapitelle eingemauerte Reliquienbehälter sind ebenfalls aus St. Godehard (Grundsteinlegung 1133) bekannt.9) Außerhalb Hildesheims läßt sich ein weiteres romanisches Reliquienkapitell in Winterscheid nachweisen.10) Alle diese Beispiele stammen jedoch aus dem 12. Jahrhundert und tragen keine Inschriften. Daß bereits im 10. Jahrhundert Reliquien in Säulen eingelegt wurden, bezeugt die Chronik Thietmars von Merseburg. Dort heißt es über den neugegründeten Magdeburger Dom: Preciosum quoque marmor cum auro gemmisque cesar precepit ad Magadaburc adduci. In omnibusque columnarum capitibus sanctorum reliquias diligenter includi iussit.11)

Textkritischer Apparat

  1. S(ANCTE) AGATHE VIR(GINIS)/ S(ANCTE) TECLE VIR(GINIS)] Tecle v(ir)g(in)is Agathe v(ir)g(in)is et m(arty)ris HS 123b.
  2. S(ANCTI) IOHANNIS EV(AN)G(ELISTE)] Joh(ann)is ap(osto)li et ewa(ngelis)te HS 123b.
  3. C(ON)F(ESSORIS)] m(arty)r(is) HS 123b.
  4. (Christ)iane] Riane HS 123b. Zwei Heilige mit Namen ‚Christiana‘ lassen sich nachweisen: 2LThK 2, Sp. 1125.

Anmerkungen

  1. Die Richtungsangaben in B/R, S. 63 und Tafel 10 sind falsch.
  2. Die nur noch in DBHi, HS 123b überlieferten Inschriften befanden sich wie die erhaltenen auf den Kämpferblöcken der bernwardinischen Säulen. Jn colu(m)pnis rotu(n)dis sup(er)ius infra videlicet epistilia et capitella [...]. In diesem Zusammenhang bedeutet infra – wie vielfach belegt – ‚innerhalb‘ (Albert Blaise: Lexicon Latinitatis medii aevi [CCCM]. Turnhout 1975, Neudruck 1994, S. 443; Jan Frederik Niermeyer, C. van der Kieft: Mediae latinitatis lexicon minus. Leiden 1976, S. 534), also ‚an der von Kapitell und Epistyl begrenzten Stelle‘. HS 123b überliefert, wenn auch mit zahlreichen Fehlern und nicht nach Autopsie, den Wortlaut der bernwardinischen Reliquieninschriften und nicht einer im 12. Jahrhundert auf die Säulen „unterhalb der ‚Epistyle‘ und der Kapitelle“ „vielleicht gemalten“ Inschriftenreihe (Kat. Bernward 2, S. 538).
  3. DBHi, HS 123b, fol. 117r versus chorum Johannis. Der Ostchor von St. Michaelis wird in älteren Aufzeichnungen häufig als „Johannischor“ bezeichnet, vgl. Mithoff, Kunstdenkmale, S. 128.
  4. Maße nach Berges in B/R, S. 63.
  5. Daten nach Günther Binding: Bischof Bernward von Hildesheim – architectus et artifex. In: Bernwardinische Kunst, S. 27–47, hier S. 28.
  6. Zu Reliquien in Bauteilen s. Harald Keller: Reliquien, in Architekturteilen beigesetzt. In: Beiträge zur Kunst des Mittelalters. FS für Hans Wentzel zum 60. Geburtstag. Berlin 1975, S. 105–114.
  7. Günther Binding: Zur Ikonologie des Magdeburger Domes Ottos I. In: Der Magdeburger Dom – ottonische Gründung und staufischer Neubau, hg. von Ernst Ullmann. Leipzig 1989, S. 70–73, hier S. 70.
  8. Vgl. Beseler in Beseler/Roggenkamp, Michaeliskirche, S. 102, Anm. 226; Rieckenberg in B/R, S. 173.
  9. Vgl. Hermann Engfer: Die Reliquienfunde in St. Godehard zu Hildesheim. In: Alte und Neue Kunst im Erzbistum Paderborn 15 (1965), S. 13–16.
  10. Kat. Ornamenta ecclesiae 2, S. 84. Nachweis bei Binding (wie Anm. 5), Anm. 84.
  11. Thietmar von Merseburg, Chronik. Übersetzt und erläutert von Werner Trillmich. Darmstadt 1962, S. 52f. – Berges nennt (B/R, S. 64) als weiteren Beleg für Reliquienkapitelle die Benediktkapelle in Montecassino.

Nachweise

  1. DBHi, HS 123b, fol. 116v–117r.
  2. Beseler in Beseler/Roggenkamp, Michaeliskirche, S. 102, Anm. 226 (A, B).
  3. Berges in B/R, S. 63 (A, B), Abb. Tafel 10.
  4. Kat. Bernward 2, S. 539f. mit Abb. der Handschrift: DBHi, HS 123b, fol. 116v–117r.

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 13(†) (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0001304.