Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 6 St. Michaelis 1010

Beschreibung

Zwei Steine, die im Jahr 1908 bei Arbeiten am südwestlichen Querbau von St. Michaelis gefunden wurden.1) Sandstein. Der querrechteckige Stein mit der eingehauenen Inschrift A befand sich an der südöstlichen Fundamentecke des Treppenturms und ist heute im südwestlichen Querhaus in die Wand eingemauert.2) Das Fragment mit Inschrift B stammt aus dem südwestlichen Fundament. Bis zum Zweiten Weltkrieg wurde es im Andreas-Museum aufbewahrt, seither ist es verschollen. Stein A ist links unten beschädigt, aber ohne Textverlust. Die Inschrift ist in vier Zeilen eingehauen.

Inschrift B nach Zeichnung B/R.

Maße: H.: 75 cm; B.: 99 cm; Bu.: 13–14 cm (A). 29 cm x 25 cm3)(B).

Schriftart(en): Romanische Majuskel (A, B).4)

Christine Wulf [1/1]

  1. A

    S(ANCTVS) · BENIAMIN / S(ANCTVS) · MATHEVS · A(POSTOLVS) / B(ERNVVARDVS) + EP(ISCOPVS) / Ma) · X

  2. B †

    [ - - - ]IASb) [ - - - ]

Übersetzung:

Der heilige Benjamin, der heilige Apostel Matthäus. Bischof Bernward 1010. (A)

Kommentar

Inschrift A ist als Kapitalis mit zwei unzialen E ausgeführt, (B) weist nur kapitale Formen auf. Mit Hilfe des in Inschrift A überlieferten Datums läßt sich der Baubeginn der Michaeliskirche auf das Jahr 1010 festsetzen.5)

Berges hat die beiden in Inschrift A genannten Namen Benjamin und Matthäus zum Anlaß genommen, auf die biblisch-exegetische Tradition der Grundsteine6) hinzuweisen (B/R, S. 51f., mit zahlreichen Nachweisen aus der exegetischen Literatur). Er nennt u. a. die zwölf Grundsteine des himmlischen Jerusalem (Apc. 21,14 et murus civitatis habens fundamenta duodecim et in ipsis duodecim nomina duodecim apostolorum agni) und die Vertreter der zwölf Stämme Israels, für die Josua nach dem Durchzug durch den Jordan zwölf Steine setzen läßt (Ios. 4,9). In der Auslegung des Hieronymus heißt es zu dieser Stelle Duodecim lapides, qui de Jordanis illuc translati alveo, duodecim apostolorum fundamenta firmaverant (PL 22, Sp. 888). Zwölf Steine stehen für die zwölf Stämme Israels, die zwölf Propheten oder die zwölf Apostel, die als „geistliche Grundsteine“ sowohl des geistigen Gebäudes der Ecclesia wie des einzelnen Kirchenbaus verstanden worden sind.7) Bindeglied zwischen diesen biblisch-exegetischen Ausführungen und dem Ritus der Grundsteinlegung ist nach Berges möglicherweise ein Motiv aus der Konstantinslegende (B/R, S. 52), auf das in den Annalen von Pegau Bezug genommen wird. Zum Jahr 1091 heißt es dort, daß der Stifter des Klosters Pegau, Wiprecht von Groitzsch, zwölf Körbe mit Steinen an verschiedene Stellen der Fundamente getragen hat, scilicet imitando factum religiosissimi principis Constantini.8) Die Namen Benjamin und Matthäus auf dem Grundstein von St. Michaelis sind wahrscheinlich in diesem exegetischen Zusammenhang zu verstehen. Es muß hier offenbleiben, ob es weitere Grundsteine, vielleicht sogar zwölf mit einer kompletten Reihe der Stämme Israels und der Apostel, in St. Michaelis gegeben hat.9) Das Fragment (B) mit den Buchstaben IAS setzt, wenn die von Berges vorgeschlagene Ergänzung [Hierem]ias zulässig ist, jedenfalls keine der mit Matthäus und Benjamin begonnenen Zwölferreihen fort.

Es ist allerdings auch nicht auszuschließen, daß Inschrift A, ähnlich wie die Inschriften auf den Kapitellen der Mittelschiffsäulen (vgl. Nr. 13), Reliquien des Märtyrers Benjamin und des Apostels Matthäus10) bezeichnet, die zur geistlichen Stabilisierung des Baus in die Fundamente gelegt worden sind. Der Grundstein selbst weist – soweit der Fundbericht Mohrmanns (wie Anm. 1) darüber Aufschluß gibt – keine Bearbeitungsspuren auf, die auf eine Vertiefung für die Aufnahme von Reliquien schließen lassen. Außerdem ist auffällig, daß die Namen auf den Kapitellen der Mittelschiffsäulen im Unterschied zu denen auf dem Grundstein im Genitiv stehen, folglich dort ein Bezugswort Reliquiae zu denken ist.

Textkritischer Apparat

  1. M] Mit Kürzungsstrich.
  2. IAS] Davor wohl Rest eines M. [Hierem?]ias B/R.

Anmerkungen

  1. Vgl. K. Mohrmann: Ein Grundstein aus der Zeit Bernwards. In: Die Denkmalpflege 10 (1908), S. 64 (Auffindung des Grundsteins A), S. 71 (Auffindung des Fragments B).
  2. Die Fundnachricht ist auf einem Stein über dem Grundstein inschriftlich ausgeführt: + Bernwards Grundstein + AVFGEFVNDEN AM 4. JVNI 1908 VNTER DER / SVEDOSTECKE DES 1662 ABGEBROCHENEN TVRMES / WIEDERVERLEGT ALS DIESES NEVEN TVRMES / + GRVNDSTEIN AM 24 JVLII 1908 +.
  3. Maße nach Mohrmann (wie Anm. 1), S. 71.
  4. Nach den Untersuchungen von Berges sind die Inschriften A und B paläographisch gleich gestaltet (B/R, S. 51).
  5. Günther Binding: Bischof Bernward von Hildesheim – architectus et artifex? In: Bernwardinische Kunst, S. 27–47, hier S. 28. Zum fälschlicherweise als Datum für den Baubeginn angenommenen Jahr 1001 vgl. ebd. Anm. 14.
  6. Allgemein zur Grundsteinlegung vgl. L. Anton Doll: Überlegungen zur Grundsteinlegung und zu den Weihen des Speyerer Domes. In: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 24 (1972), S. 9–25 und Karl Josef Benz: Ecclesiae pura simplicitas. Zu Geschichte und Deutung des Ritus der Grundsteinlegung im Hohen Mittelalter. In: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 32 (1980), S. 9–25. Beide ohne Erwähnung des Hildesheimer Grundsteins.
  7. Vgl. Eph. 2,20 superaedificati super fundamentum apostolorum et prophetarum. Zu Propheten und Aposteln als Fundament der Kirche s. Bruno Reudenbach: Säule und Apostel. Überlegungen zum Verhältnis von Architektur und architekturexegetischer Literatur im Mittelalter. In: Frühmittelalterliche Studien 14 (1980), S. 310–351, hier S. 317 und Anm. 39.
  8. Annales Pegavienses, hg. von Georg Heinrich Pertz. Hannover 1859 (MGH SS XVI), S. 232–270, hier S. 244, 29–36.
  9. Überlegungen zur Lage der Grundsteine bei Günther Binding: Bischof Bernward als Architekt der Michaeliskirche in Hildesheim. Köln 1987 (35. Veröffentlichung der Abteilung Architektur des Kunsthistorischen Instituts der Universität zu Köln), S. 27.
  10. Die AASS weisen sechs verschiedene Heilige mit dem Namen Benjamin nach. Zu den Reliquien des Apostels Matthäus vgl. AASS Sept. 6, S. 216–220.

Nachweise

  1. Berges in B/R, S. 51, Abb. Tafel 7, Nr. 1f.
  2. Beseler/Roggenkamp, Michaeliskirche, S. 169 und Abb. 14.
  3. Kat. Bernward 2, S. 533f. mit Abb. (A).

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 6 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0000609.