Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 5 Dom-Museum A. 11. Jh.

Beschreibung

Zwei als Gegenstücke gearbeitete Leuchter.1) Silber, Reste von Vergoldung in den Vertiefungen.2) Die Leuchter gehören zum Kirchenschatz der Pfarrgemeinde St. Magdalenen, wohin sie nach der Aufhebung des Klosters St. Michaelis 1803 gelangt sind. Sie befinden sich seit 1960 als Leihgabe im Dom-Museum.3)

Bei den Leuchtern handelt es sich um zwei individuelle Stücke (im folgenden: Leuchter I und Leuchter II), die zwar im Aufbau und in der Inschrift weitgehend identisch sind, sich aber in Einzelheiten ihres ikonographischen Programms unterscheiden. Der Leuchterfuß steht auf drei Löwentatzen. An seiner Unterkante verläuft ein Schriftband, darauf der zweite Teil der Inschrift von PVERVM bis IVBEBAT. Zwischen den einzelnen Abschnitten der Inschrift Tiermasken. Am Fuß über jeder der drei Löwentatzen zwei ineinander verschlungene geflügelte Tierwesen, auf deren Rücken jeweils eine nackte Figur reitet: auf dem Leuchter I (vgl. Abb. 11) ein bartloser Mann (Jüngling), ein Mann mit geringem Bartwuchs und ein Mann mit Vollbart; auf dem Leuchter II zwei bartlose Männer und ein Bärtiger. Die Figuren des Leuchters I blicken nach oben auf drei am unteren Schaftknauf zwischen Ornamenten angebrachte Kreuze, die Figuren des Leuchters II zur Seite. Anstelle der Kreuze finden sich am Leuchter II pflanzliche Ornamente. Die Figuren stützen ihre Hände auf die Hälse der Tierwesen, deren Köpfe sich im Schaft der Leuchter verbeißen.

Der lange, mit Weinranken verzierte Schaft ist oben und unten sowie in der Mitte durch drei Knäufe gegliedert. Oberhalb des unteren Knaufs zwei nach hinten gewandte Löwen, die auf dem Leuchter I im Unterschied zu Leuchter II Trauben fressen. Zwischen dem unteren und dem mittleren Knauf zwei Menschen, die an den Ranken hochklettern, auf Leuchter I blicken sie nach oben, auf Leuchter II sind die Köpfe zur Seite gewandt. Einer der Kletternden (Leuchter II) hat eine Axt in der Hand. Zwischen dem mittleren und dem oberen Knauf im Rankenwerk zwei Adler. Der dritte Knauf ist mit plastischen Köpfen verziert, auf Leuchter I ein Kahlköpfiger mit Haarkranz und zwei Köpfe mit vollem Haar; auf Leuchter II ein Kahlköpfiger, ein Kopf mit Tonsur, ein weiterer Kopf mit vollem Haar. Der Lichtteller wird von drei schlanken Eidechsen (?) gehalten. Er ist mit ornamentalem Schmuck und Rankenwerk verziert. An seinem äußeren Rand verläuft ein Schriftband mit dem ersten Teil der Inschrift von BERNVVARDVS bis HOC. Die Inschriften beider Leuchter sind graviert und nielliert sowie weitgehend ohne Worttrennung, aber mit weiter Spationierung zwischen den Buchstaben ausgeführt. Zwischen den beiden Inschriften lassen sich bis auf unterschiedliche Buchstabenhöhen nur epigraphisch unerhebliche Differenzen feststellen.4)

Maße: H. ohne Dorn: 36–37 cm; Bu.: 0,25–0,5 cm.

Schriftart(en): Romanische Majuskel.

Frank Tomio [1/1]

  1. Leuchter I +a) BERNVVARDVS PRESVL . CANDELABRVM HOC . // + PVERVMb) SVVMc) PRIMO HVIVS ARTIS FLORE NON AVROd) NON ARGENTO ET TAMENe) VT CERNIS5) CONFLARE IVBEBATf) Leuchter II +a) BERNVVARDVS PRESVL . CANDELABRVM HOC . // + PVERVMb) SVVMc) PRIMO HVIVS ARTIS FLORE NON AVROd) NON ARGENTO ET TAMENe) VT CERNIS5) CONFLARE IVBEBATf)

Übersetzung:

Bischof Bernward befahl seinem Knecht, diesen Leuchter in der ersten Blüte dieser Kunst nicht aus Gold oder Silber, und doch so, wie du ihn siehst, zu gießen.

Versmaß: ARGENTO bis IVBEBAT bildet einen Hexameter.

Kommentar

Die Inschrift der Leuchter ist in einer reinen Kapitalis ausgeführt und ähnelt mit ihren keilförmig verbreiterten Hasten- und Balkenenden den Buchstabenformen der HOC OPVS EXIMIVM-Inschrift auf dem Rückendeckel des Kostbaren Evangeliars (vgl. Nr. 4). Im Unterschied zu dieser weisen die Leuchterinschriften jedoch durchgängig runde C auf. Das Kostbare Evangeliar wird auf den Anfang des 11. Jahrhunderts datiert, und etwa zur selben Zeit sind wohl auch die Leuchter entstanden. Die stilistische Verwandtschaft mit der vor 1011 zu datierenden Erkanbaldkrümme (Nr. 7) bestätigt diesen zeitlichen Ansatz.

Der angesichts des Materials (97,23% Silber mit Beimengungen von Kupfer oder Eisen, vergoldet) rätselhafte Wortlaut der Inschrift hat unterschiedliche Deutungen veranlaßt. Gegenstand der Theorien war zum einen die Frage, welche Kunst zur Zeit dieses Gusses in ihrer ersten Blüte stand, und zum anderen, was mit NON AVRO NON ARGENTO ET TAMEN VT CERNIS CONFLARE gemeint sein könnte.6) Nach Zeller dokumentiert die Inschrift den ersten Versuch Bernwards, den Silberguß durch einen „Zusatz von Metallen zu härten“. Beissel und Flügge sehen als die in ihrer ersten Blüte stehende Kunst das Verfahren an, Silber und Vergoldung gleich beim Guß zu vereinen. Wesenberg versteht unter NON AVRO NON ARGENTO „nicht aus Gold und nicht aus Silber, nämlich aus Gold und aus Silber“. Rosenberg erwägt die Deutung, daß Bernward mit der Inschrift den Eindruck erwecken wollte, einen weniger edlen Silberleuchter durch einen dünnen Goldüberzug für den Betrachter in ein besseres Material verwandelt zu haben. Auch Gallistl wertet die Inschrift als Indiz für Bernwards alchimistische Studien.7) Berges bringt keine neuen Argumente in die Diskussion ein, sondern erklärt, die Inschrift sei „bewußt rätselhaft“, „der Betrachter sollte staunen, nicht wissen“ (B/R, S. 70f.).

Probleme für das Verständnis der Inschrift bereitet zum einen die Formulierung NON AVRO NON ARGENTO TAMEN VT CERNIS CONFLARE IVBEBAT, zum anderen die im Vergleich mit den übrigen bernwardinischen Künstlerinschriften hier singuläre Erwähnung eines PVER, der auf Anweisung des Bischofs die Leuchter gegossen hat. Bernward nennt sich hier eindeutig als Auftraggeber (IVBEBAT), dessen Anweisung nicht das zu verwendende Material (NON AVRO NON ARGENTO) betraf, sondern ausschließlich die Gestaltung, wie sie sich dem Betrachter darbietet (VT CERNIS), zum Inhalt hatte. Das heißt: Bernward verantwortet nur das ikonographische Programm der Leuchter,8) deren materielle Ausführung dem PVER überlassen war. Zur Ausführung kann in diesem Fall sogar die Anbringung der Inschrift gehören; denn möglicherweise ist PVER nur eine topisch bescheidene Selbstnennung eines Gießmeisters, der mit PRIMO HVIVS ARTIS FLORE allerdings darauf hinweist, daß der Leuchter zu einer Zeit gegossen worden ist, in der es zum ersten Mal eine derartig kunstvolle Ausführung gab.

Textkritischer Apparat

  1. +] Fehlt Rieckenberg.
  2. PVERVM] pulchru(m) HS 123b, Lauenstein, Blum.
  3. SVVM] Fehlt HS 123b.
  4. NON AVRO] Fehlt HS 123b.
  5. ET TAMEN] Sed HS 123b.
  6. IVBEBAT] iuberat Kd., Habicht.

Anmerkungen

  1. Inv. Nr.: DS L 9.
  2. In der älteren Literatur wird vielfach vermutet, daß die Leuchter ganz vergoldet waren, vgl. u. a. Stephan Beissel: Der heilige Bernward von Hildesheim als Künstler und Förderer der deutschen Kunst. Hildesheim 1895, S. 38.
  3. Zur Geschichte der Leuchter ausführlich Berges (B/R, S. 65–67). – Die Nachricht, daß die Leuchter bei der Erhebung der Gebeine im Grab Bernwards gefunden worden sein sollen (vgl. Kratz, Dom 2, S. 32), gilt mittlerweile als Legende.
  4. In IVBEBAT ist A am Leuchter I trapezförmig mit links überstehendem Deckbalken ausgeführt, während A am Leuchter II oben spitz zuläuft und mit einem beidseitig überstehenden Deckbalken versehen ist.
  5. Zu VT CERNIS und anderen Betrachteranreden in Künstlerinschriften vgl. Albert Dietl: in arte peritus. Zur Topik mittelalterlicher Künstlerinschriften in Italien bis zur Zeit Giovanni Pisanos. In: Römische Historische Mitteilungen 29 (1987), S. 75–125, hier S. 121.
  6. In spätantiken und mittelalterlichen geistlichen Texten findet sich die Formel non aurum non argentum häufig in Fügungen, die irdischen Besitz mit geistigen Gütern kontrastieren: z. B. heißt es in einer Predigt Augustins non aurum, non argentum, sed vita aeterna (Sermo 390, PL 37, Sp. 1706). In der Bibel ist die Verbindung von aurum und argentum metonymisch für ‚Reichtum, irdisches Gut‘ belegt.
  7. Zeller in Kd. Hildesheim, Kirchen, S. 259; Beissel (wie Anm. 2), S. 38; Karl Flügge: Die Bernwardleuchter. In: Diözese 10 (1936), S. 107–112; Wesenberg, Bernwardinische Plastik, S. 21; Marc Rosenberg: Geschichte der Goldschmiedekunst auf technischer Grundlage. Einführung. Frankfurt/M. 1910, S. 29; Bernhard Gallistl: Der alchimistische Codex des Bischofs Bernward. In: Diözese 57 (1989), S. 7–16, hier S. 14.
  8. Vgl. von den Steinen, Bernward von Hildesheim, S. 362: „So vielfältig diese Miniaturen, Erzgüsse und Goldschmiedewerke mit Vorbildern und Parallelen zusammengehören, so gewiß mancherlei Meister an ihnen mitgewirkt haben – ihr Inhalt und ihre Themenstellung, dazu die Auswahl der ausführenden Meister wurde auf alle Fälle durch den großen Bischof bestimmt.“ Zum ikonographischen Programm s. Konrad Algermissen: Die Bernwardleuchter in ihrer künstlerischen Formgestaltung und ihrem weltanschaulichen Gehalt. In: Diözese 28 (1959), S. 1–22, wiederabgedruckt in: Bernward und Godehard, S. 88–110.

Nachweise

  1. DBHi, HS 123b, fol. 9r.
  2. Letzner, Hildesheimische Chronik, 1. Buch, 2. Teil, Kapitel 13, S. 63.
  3. Lauenstein, Kirchen- und Reformationshistorie 3, S. 23.
  4. DBHi, HS 114b, fol. 64r.
  5. Blum, Fürstenthum Hildesheim 2, S. 84.
  6. Kratz, Dom 2, S. 32.
  7. Mithoff, Kunstdenkmale, S. 133.
  8. Kd. Hildesheim, Kirchen, S. 259.
  9. Bertram, Bistum 1, S. 75.
  10. Wesenberg, Bernwardinische Plastik, S. 21.
  11. Berges in B/R, S. 68; Rieckenberg in B/R, S. 173; Abb. Tafel 11, Nr. 1–3.
  12. Kat. Bernward 2, S. 582, S. 583 Abb.

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 5 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0000502.