Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 4 Dom-Museum A. 11. Jh.

Beschreibung

Elfenbeinrelief und Silberbeschläge auf dem Buchdeckel des „Kostbaren Evangeliars“.1) Buchdeckel Eichenholz. Das Evangeliar befand sich bis zur Säkularisation im Kloster St. Michaelis.

Vorderdeckel: In der Mitte des Buchdeckels ein byzantinisches Elfenbeinrelief, das im vertieften Mittelfeld eine Deesis-Gruppe zeigt, alle Figuren auf Podesten, Christus erhöht. Christus mit Kreuznimbus hält in der Linken ein Buch, die Rechte ist segnend erhoben. Inschrift A verläuft auf dem oberen und dem unteren Rand des Reliefs, sie ist ohne Worttrennung graviert und rot ausgelegt. Die Inschrift wird von vier Nagellöchern unterbrochen. Im Innenfeld des Reliefs zwischen Maria und Christus eingeritzte Buchstaben, zwei S und ein spiegelverkehrtes S. Die Elfenbeintafel wird von einem breiten Schmuckrahmen eingefaßt, in dessen Ecken in Medaillons die Symbole der vier Evangelisten. Auf dem unteren Teil des Rahmens der Kruzifixus an einem Doppelkreuz. Das entsprechende Bild an der oberen Schmalseite fehlt.

Rückendeckel: Ein mit Silberstreifen beschlagener Rahmen umgibt ein vertieftes Mittelfeld, in dem ein aus Silberblech ausgeschnittenes Bild der stehenden Gottesmutter befestigt ist. Sie trägt das Kind auf dem rechten Arm, in der linken Hand einen Palmzweig.2) Rechts und links neben der Figur aus Silberblech ausgeschnitten sechs Rosettensterne und vier griechische Buchstaben (B), die auf das Hintergrundgewebe geheftet sind. Die Buchstaben, die kontraktionsgekürzt für Μ(ΗΤΗ)Ρ Θ(ΕΟ)Υ ‚Mutter Gottes‘ stehen, sind nicht mehr in der ursprünglichen Reihenfolge angebracht: Links der Gottesmutter Theta und Ypsilon, rechts My und Rho. Inschrift C befindet sich auf den Silberstreifen des Rahmens, auf jeder Seite ein Halbvers. Der Rahmen des Schriftbandes wie auch die Körper der von zwei jeweils gravierten und niellierten Linien konturierten Buchstaben sind vergoldet. Die an den Enden verkürzten Rahmenleisten sowie das für das Innenfeld zu große Bild der Gottesmutter deuten darauf hin, daß diese Silberbleche zunächst für einen größeren Einband oder Buchkasten bestimmt waren.3)

Maße: Evangeliar: H.: 28,2 cm; B.: 22,2 cm; Elfenbeinrelief: H.: 14,5 cm; B.: 10,1 cm; Bu.: 0,45–0,6 cm (A), 1,5 cm (B, C).

Schriftart(en): Romanische Majuskel (A, C), griechische Buchstaben (B).

Frank Tomio [1/2]

  1. A

    + SIS RIAa) QVESO TVO BERN//VVARDOb) TRINA POTESTAS4)

  2. B

    Μ(ΗΤΗ)Ρc) Θ(ΕΟ)Υd)

  3. C

    HOC OPV(S) · EXIMIV(M)5) / BERNVVARDI · P(RE)SVLIS · ARTE / FACTV(M) · CERNE · D(EV)S / MATER · ET ALMA · TVA6) +

Übersetzung:

Dreifaltige Macht, sei, ich bitte dich, deinem Bernward gnädig.7) (A)

Mutter Gottes. (B)

Dieses hervorragende Werk, das durch die Kunst des Bischofs Bernward geschaffen worden ist, sieh an, Gott und deine hehre Mutter. (C)

Versmaß: Hexameter (A), elegisches Distichon (C).

Kommentar

Die Inschriften A und C sind in einer Kapitalis mit eckigen C ausgeführt. Charakteristisch ist die Ausführung des spitzen A mit einem nur nach links überstehenden kurzen Deckbalken, der in Form eines stumpfwinkligen Dreiecks gestaltet ist. R in Inschrift C mit kurzer stachelförmiger Cauda. Hasten und Balken enden zumeist keilförmig und ähneln darin einzelnen Buchstaben auf den Rahmenleisten der Widmungsbilder im Evangeliar. Auch die Anordnung der Inschrift C auf einer ein Bildfeld einrahmenden Leiste entspricht den vierseitig auf den Rahmen der Widmungsbilder umlaufenden Tituli in der Handschrift. Die Umschrift des linken Bildes (Bischof Bernward am Altar, ein Buch in beiden Händen)8) beginnt ebenfalls mit HOC. Es ist daher denkbar, daß der Entwurf für die Einbandinschriften auf den Verfertiger der Auszeichnungsschrift in den Widmungsbildern zurückgeht. A ist dort allerdings deutlich breiter und ohne den nur nach links überstehenden Deckbalken ausgeführt.

Diese Übereinstimmungen setzen die Einbandinschriften in unmittelbare Nähe zur Entstehungszeit der Handschrift, die allgemein auf den Anfang des 11. Jahrhunderts datiert wird.9) Beseler hat aufgrund des in die Handschrift eingetragenen Stiftungsvermerks10) und des zweiteiligen Dedikationsbildes, das zeigt, wie Bernward der Gottesmutter einen Codex überreicht, die Datierung auf 1015 eingegrenzt; in diesem Jahr nämlich wurde der Marienaltar in der Krypta geweiht, für den die Prachthandschrift des Evangeliars bestimmt gewesen sein könnte.11) Bauer hält hingegen die „Beziehung zu der Weihe des Marienaltars“ für „zu vage, um als Anhaltspunkt (sc. für die Datierung der Handschrift) dienen zu können“.12) Eine Entscheidung läßt sich in dieser Frage nicht treffen, zumal umstritten ist, ob die Handschrift von vornherein für den Marienaltar in St. Michaelis gestiftet wurde13) oder zunächst – wie das zweiteilige Dedikationsbild nahelegen könnte – für den der Gottesmutter geweihten Dom bestimmt war, aber dann dem Schenkungseintrag zufolge tatsächlich für St. Michaelis gestiftet worden ist.14)

Textkritischer Apparat

  1. RIA] Statt PIA. Der Fehler R für P findet sich auch in frühchristlichen Kapitalisinschriften, vgl. Edmond Le Blant, Inscriptions chrétiennes de la Gaule antérieures au VIIIe siècle. 2 Bde., Paris 1856, hier Bd. 1, S. 285.
  2. BERN/VVARDO] Die Buchstaben RN sind vom Rand des rechts oben befindlichen Evangelistensymbols zum Teil verdeckt.
  3. Μ(ΗΤΗ)Ρ] Die beiden mittleren Hasten des Μ fehlen, sie sind mit Farbe auf das Hintergrundgewebe gemalt.
  4. Μ(ΗΤΗ)Ρ Θ(ΕΟ)Υ] So Elbern/Reuther, Rieckenberg in B/R; O(ra) V(irgo) P(ro) M(e) Kratz, Beissel, Berges in B/R.

Anmerkungen

  1. Inv. Nr.: DS 18. – Zur Handschrift vgl. Handschriften im Domschatz, S. 18–50 mit Abb. – Faksimile der Bildseiten und Kommentar: Kat. Das Kostbare Evangeliar, passim.
  2. Zu Maria mit Palmzweig vgl. die Verkündigungsdarstellung auf der Bronzetür (Nr. 9), auch dort trägt Maria einen Palmzweig. – Wesenberg, Bernwardinische Plastik, S. 77, Anm. 77 interpretiert diesen Palmzweig als Zeichen der Jungfräulichkeit.
  3. Kat. Das Kostbare Evangeliar, S. 60f. Die Umarbeitung des von Bernward gestifteten Prunkeinbandes erfolgte wohl im ausgehenden 12. Jahrhundert; s. a. Kat. Abglanz des Himmels, S. 184.
  4. Zu TRINA POTESTAS vgl. Lateinisches Hexameter-Lexikon. Dichterisches Formelgut von Ennius bis zum Archipoeta, zusammengestellt von Otto Schumann. Bd. 5, München 1982, S. 470f.
  5. HOC OPVS ... läßt sich häufig als Initium von Künstler- oder Stifterinschriften nachweisen, vgl. MGH Poetae 1, S. 95: Hoc opus eximium Franchorum scribere Carlus / Rex pius egregia Hildgarda cum coniuge iussit. Vgl. auch Walther, Initia, Nr. 8306, Nr. 8311a–8313, Nr. 8314; Dieter Schaller, Ewald Könsgen: Initia Carminum latinorum saeculo undecimo antiquiorum. Göttingen 1977, Nr. 7046.
  6. Vgl. zu alma mater den ersten Vers des marianischen Vesperhymnus Ave maris stella, dei mater alma.
  7. Im Hinblick auf die hier dargestellten drei Personen der Deesis hat Goldschmidt trina potestas mit „dreifache Macht“ übersetzt, vgl. Adolph Goldschmidt, Kurt Weitzmann: Die byzantinischen Elfenbeinskulpturen des X.–XIII. Jahrhunderts. Bd. 2, Berlin 21979, S. 66, Nr. 151, Tafel LIII. Ihm folgt Brandt in: Kat. Das Kostbare Evangeliar, S. 56 und Anm. 1. Es ist hier aber zu bedenken, daß in der Inschrift nicht um Intercessio, sondern um die Gnade Gottes gebeten wird, die ja keiner der Intercessoren gewähren kann. Die „dreifache Macht“ meint daher – unabhängig von den im Bild dargestellten Personen – den Dreieinigen Gott. Der naheliegende Begriff trinitas ist im daktylischen Vers nicht zu verwenden.
  8. Abbildung s. Kat. Das Kostbare Evangeliar, S. 5.
  9. Gerd Bauer: Corvey oder Hildesheim. Zur ottonischen Buchmalerei in Norddeutschland. Bd. 1, Hamburg 1977, S. 341. Er hält eine Entstehung der Handschrift vor den Guntbald-Handschriften, also vor 1011, für wahrscheinlich; s. a. Handschriften im Domschatz, S. 17.
  10. Text nach Kat. Das Kostbare Evangeliar, Frontispiz: Hunc ego Bernuuardus codice(m) conscribere feci / Atq(ue) meas ut cernis opes super addere iubens. / Dilecto d(omi)ni dederam s(an)c(t)o Michaheli / Sit anathema d(e)i quisq(ui)s sibi dempserit illum. ‚Dieses Buch habe ich, Bernward, schreiben lassen und befohlen, meine eigenen Mittel – wie du siehst – zusätzlich dafür aufzuwenden. Ich schenkte es dem heiligen Michael, den der Herr geliebt hat. Gottes Bannstrahl treffe den, der es ihm entwendet.‘
  11. Vgl. Beseler/Roggenkamp, Michaeliskirche, S. 33, Anm. 34.
  12. Bauer (wie Anm. 9).
  13. Beseler/Roggenkamp, Michaeliskirche, S. 33, Anm. 34.
  14. Stähli/Härtel in: Handschriften im Domschatz, S. XXI–XXIII. Ausführlich dazu Marlis Stähli: Die Handschriften des Hildesheimer Domschatzes. In: Diözese 50 (1982), S. 83–94, hier S. 92.

Nachweise

  1. Kratz, Dom 2, S. 123.
  2. Stephan Beissel: Des heiligen Bernward Evangelienbuch im Dome zu Hildesheim. Hildesheim 1891, S. 1, Abb. Tafel 1 (A), Tafel 2 (B, C).
  3. Wesenberg, Bernwardinische Plastik, Abb. 109f.
  4. MGH Poetae 5, S. 455, 29,1.
  5. Berges in B/R, S. 48f., Abb. Tafel 5, Nr. 2; Tafel 6, Nr. 3 und Nr. 4.
  6. Rieckenberg in B/R, S. 172.
  7. Kat. Das Kostbare Evangeliar, S. 56f., Abb. Tafel 1f.
  8. Kat. Bernward 2, S. 570, S. 572f. mit Abb.
  9. Kat. Abglanz des Himmels, S. 184, Abb. S. 157 (A).

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 4 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0000405.