Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 3 Dom-Museum 2. H. 10. Jh., 1597, 17. Jh.

Beschreibung

Bursenreliquiar. „Keilförmiges Reliquiar“.1) Eichenholz, überzogen mit teilweise vergoldetem Silber- und Kupferblech. Über einer rechteckigen Grundfläche verjüngt sich das Reliquiar keilförmig nach oben. Der stumpfe Abschluß wird von einem Kristall bekrönt. Auf dem Kupferblech der Bodenplatte ist Inschrift A in zwei einander gegenüberstehenden, aus jeweils drei Zeilen gebildeten Blöcken ohne Worttrennung eingraviert und nielliert. Die Anordnung der Inschrift wirkt unausgewogen. Im ersten Block ist der Name Marias durch einen größeren Abstand vom nachfolgenden Text abgehoben. Auf der Rückseite des Reliquiars zwei getriebene Medaillons aus dem 17. Jahrhundert,2) darüber eine heraldische Lilie. Im rechten Medaillon Eustachius zu Pferd mit Jagdhorn, begleitet von Hunden, über der Figur Inschrift B. Im linken Medaillon ein Löwe, auf dessen Rücken ein Greif. Die Schauseite zeigt das Relief einer in Silber getriebenen, teilweise vergoldeten Darstellung der Madonna auf der Mondsichel im Strahlenkranz mit Krone und Zepter aus dem 16. Jahrhundert, links sind die Initialen eingraviert, rechts die Jahreszahl (C). Das Madonnenrelief stammt nach Kratz von einer roten Kasel.3) Es ist von 14 Kristallen und Edelsteinen umgeben, darunter zwei geschnittene Steine, der eine mit einer kufischen Inschrift.4) In den vier Ecken vier weitere Kristalle.

Maße: H.: 22,5 cm; B.: 13,5 cm; T.: 4,8 cm (Bodenplatte); Bu.: 0,4 cm (A), 2,5 cm (B), 0,42 cm (C).

Schriftart(en): Kapitalis mit einzelnen Merkmalen der in der Buchschrift üblichen Capitalis rustica5) (A), gotische Majuskel (B), Kapitalis (C).

Frank Tomio [1/1]

  1. A

    RELIQ(VIAE) S(ANCTAE) MARIAE / S(AN)C(TORVM)a) COSME / DAMIANI // S(ANCTI) · CANCII M(ARTYRIS) / S(AN)C(T)I ANSBETTIb) EP(ISCOP)I / S(ANCTI) PANCRATII M(ARTY)R(IS)

  2. B

    EVSTACHIV(S)c)

  3. C

    · M · I · K ·d) 1597

Übersetzung:

Reliquien der heiligen Maria, der heiligen Cosmas [und] Damian, des heiligen Märtyrers Cantius, des heiligen Bischofs Ansbertus [und] des heiligen Märtyrers Pankratius.

Kommentar

Einzelne Buchstabenformen sowie der Duktus der gesamten Inschrift A erinnern an zeitgleiche Auszeichnungsschriften in Handschriften. Die Schräghasten (N) sind in einzelnen Fällen (z. B. ANSBETTI) leicht gebogen. Beide A in MARIAE sind ohne Balken ausgeführt, die rechte Haste ist leicht nach innen durchgebogen. Daneben stehen spitze A mit geradem Balken (CANCII, DAMIANI). M ist zum Teil (MARIAE) mit leicht gebogenen, zum Teil mit geraden senkrechten oder geneigten Hasten ausgeführt. In zwei Fällen endet die letzte Haste knapp oberhalb der Grundlinie. Ausgesprochene Rundformen lassen sich außer dem kapitalen C nicht beobachten, Q ist sehr schmal und oval, fast ellipsenförmig ausgeführt, D mit leicht spitz zulaufendem Bogen, ebenso P und R. Das spitze A in CANCII ist mit einem linksseitigen Anstrich versehen, ebenso beide R in PANCRATII M(ARTY)R(IS). Insgesamt fallen an der Inschrift die ausgeprägten Sporen auf, besonders an den Hastenenden des M sowie bei S, C und E. Das erste A in DAMIANI ist geradezu mit „Füßchen“ versehen. Berges (B/R, S. 45) hat die Inschrift auf die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts datiert, nicht zuletzt deshalb, weil die Buchstabenformen weitgehend der Capitalis rustica entsprechen und die übertriebene „Anwendung gekrümmter Linien statt winkliger“, wie sie im 11. Jahrhundert vorkommen, nicht zu beobachten ist. Dieser zeitliche Ansatz entspricht etwa dem auf stilkritischen Erwägungen gründenden Datierungsvorschlag Elberns, der aufgrund der Form des Reliquiars eine Entstehung im 10./11. Jahrhundert annimmt.6) Die in der Inschrift genannten Reliquien erlauben keine nähere Eingrenzung des Entstehungszeitraums. Mit Ausnahme der Reliquien des heiligen Ansbertus,7) die in keinem der mittelalterlichen Reliquienverzeichnisse Hildesheims vorkommen, sind die übrigen Reliquien spätestens seit 1061 in den Notae bezeugt.8)

Inschrift B ist möglicherweise mit Blick auf das in C überlieferte Datum auf 1597 zu datieren, zu erwägen ist aber auch eine spätere Entstehung im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts, wenn man die Anbringung der beiden Medaillen (vgl. Anm. 2) als Anhaltspunkt für die Datierung nimmt.

Textkritischer Apparat

  1. S(AN)C(TORVM)] SC+ über dem Kreuz ein Querstrich, so auch Kratz und Rieckenberg (B/R, S. 170), SC= Berges (B/R, S. 43).
  2. ANSBETTI] Wohl statt ANSBERTI, so Elbern. Reliquien des heiligen Ansbertus sind im Mittelalter in Hildesheim allerdings nicht belegt.
  3. EVSTACHIV(S)] S. EVSTACHIVS Berges. Am Schluß des Wortes folgt auf das V ein us-Kürzel.
  4. Die Initialen ließen sich nicht auflösen.

Anmerkungen

  1. Inv. Nr.: DS 4.
  2. Für freundliche Auskünfte zu den beiden Medaillons danke ich Herrn Dr. Frank Berger, Kustos am Kestner Museum Hannover. Er weist darauf hin, daß die Darstellung historisierende Bemühungen zeige. Die Buchstabenformen „gibt es nur auf nordwestdeutschen Brakteaten der Zeit um 1160/80, im 15. Jahrhundert auf Münzen aber gar nicht, was die Vermutung der Historisierungsbemühung aus dem 17. Jahrhundert eher stützt.“ Das hier vorliegende Motiv des Reiters mit wehendem Mantel erinnert an den Mehrfachtaler von 1609 des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel. (Briefliche Auskunft vom 29. 10. 1992).
  3. Kratz, Dom 2, S. 17, Anm. 13.
  4. Text der Inschrift s. Alfs, Geschnittene Steine, S. 25f., Nr. 38, Abb. Tafel V.
  5. Zur Terminologie vgl. Bernhard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. Berlin 21986 (Grundlagen der Germanistik 24), S. 72, Anm. 3, dort „Kanonisierte Capitalis“ statt „Capitalis rustica“.
  6. Vgl. Elbern/Reuther, Domschatz, S. 17.
  7. Wahrscheinlich der heilige Ansbertus, Erzbischof von Rouen, Todestag 9. Februar 963, vgl. LCI 5, Sp. 194f. Zu Ansbertus vgl. auch AASS Febr. 2, S. 343–357.
  8. Notae Ecclesiae maioris Hildesheimensis, S. 764. Einzelne, insbesondere ältere Hinweise auf die Reliquien bei Berges B/R, S. 42f.

Nachweise

  1. Kratz, Dom 2, S. 17 (A).
  2. Kd. Hildesheim, Kirchen, S. 89 (A).
  3. Elbern/Reuther, Domschatz, S. 18 (nur A).
  4. Berges in B/R, S. 41f. (A–C) mit Abb. Tafel 3, Nr. 2 (A).

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 3 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0000308.