Inschriftenkatalog: Stadt Hildesheim

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DI 58: Stadt Hildesheim (2003)

Nr. 1 Dom-Museum vor 780, um 1680

Beschreibung

Reliquiar.1) Gründungsreliquiar, Lipsanotheca Mariana, Heiligtum Unserer Lieben Frau. Silber. Die eigentliche Reliquienkapsel ist in Form einer stark abgeplatteten Halbkugel mit ellipsenförmiger Grundfläche ausgeführt. Auf der halbkreisförmigen Vorder- und Rückseite jeweils vertiefte, mit Gold ausgelegte Rankenornamente. Inschrift A befindet sich auf dem Kamm der Reliquienkapsel. Sie ist zwischen zwei Rahmenstreifen ohne Worttrennung eingraviert und nielliert. Die Buchstaben sind stark abgerieben. Im Wort CORPORA und am Ende von SEPVLTA ist der Befund durch zwei Vernietungen gestört, an denen sich vielleicht die Aufhängevorrichtung für einen Tragriemen (vgl. Nr. 151) befunden hat. Gestört ist auch der Anfang der Inschrift: Durch eine Verkürzung der Reliquienkapsel um ca. 0,5 cm ist der erste Buchstabe nur noch zu einem Drittel sichtbar. Diese Beeinträchtigung könnte von einer Reparatur im Jahr 1680 stammen, die notwendig wurde, nachdem das Reliquiar gestohlen und aufgebrochen worden war.2) Möglicherweise ist auch um diese Zeit Inschrift B in zwei Zeilen auf der Bodenplatte der Reliquienkapsel angebracht worden.3)

Für die Reliquienkapsel wurde um 1400 ein Fuß angefertigt,4) der im 17. Jahrhundert ersetzt worden ist. Der heutige Fuß besteht aus einer Vierpaß-Grundplatte, die mit zwölf Steinen in vier Dreiergruppen besetzt ist. Die Grundplatte des Fußes steigt in einen kantigen Ständer an, an dessen Knauf zwischen kugelig vorgewölbten Partien sechs Rotuli angebracht sind, darauf Inschrift C glatt vor waagerecht schraffiertem Hintergrund. Den oberen Teil des Ständers bilden vier eckige, nach außen gebogene Stützen, auf denen ein ovales, durchbrochenes Band die Basis der Reliquienkapsel umschließt. Das Band, das nach stilkritischen Erwägungen aus dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts stammt,5) ist mit Edelsteinen besetzt und mit Engeln sowie Löwen, Greifen (?) und anderen Tiergestalten verziert. Es schließt oben mit einer Kante aus abgeflachten Bögen ab. An dem Band setzt ein zweiteiliger, mit Edelsteinen besetzter Bügel an, der oben mit einem Splint verschlossen werden kann und die Reliquienkapsel festhält.

Auf der im 14. Jahrhundert hergestellten Kopie der Lipsanotheca fehlen die Inschriften.6)

Maße: H.: 28,6 cm (Gesamthöhe), 9,1 cm (Reliquienkapsel); Dm.: 15,8 cm (Fuß), 15,2 cm und 5,2 cm (ellipsenförmige Bodenplatte der Reliquienkapsel); Bu.: 0,8–1,1 cm (A), 1 cm (B), 0,6 cm (C).

Schriftart(en): Kapitalis mit einzelnen eckigen Buchstaben (A), manierierte Majuskelschrift, einer gotischen Majuskel nachempfunden (B), Kapitalis (C).

Hildesheim, Dom-Museum [1/4]

  1. A

    COR[..]RAa) S(AN)C(T)ORV[.......]b) SEPVLTA SV[..]c)

  2. B

    ET VIVENT NOMINA / EORVM IN ETERNVM7)

  3. C

    IE(SV)Sd) M(A)R(I)A

Übersetzung:

Die Leiber der Heiligen sind [im Frieden] begraben, (A) und ihre Namen werden in Ewigkeit leben. (B)

Kommentar

Die Kamminschrift A8) zeigt eine Mischung aus Kapitalisbuchstaben und einigen Sonderformen. C ist eckig, S ist als retrogrades Z ausgeführt, dessen oberer Balken – wie beim eckigen C – länger ist als der untere. Im Unterschied zu diesen eckigen Buchstaben ist O nahezu kreisrund und nur geringfügig kleiner als die übrigen Buchstaben, aber nicht „kleinstufig“, wie Berges es beschrieben hat (B/R, S. 37). Der ausladende Bogen des R schließt deutlich unterhalb der Mittellinie an die Haste an, die kurze, schwach nach innen durchgebogene Cauda endet im einen Fall oberhalb der Grundlinie, im anderen Fall erreicht sie diese knapp. Der Bogen des R beginnt mit einem kurzen, schrägen Anstrich, der Bogen des P erreicht – soweit der Erhaltungszustand eine sichere Entscheidung zuläßt – den Schaft nicht (offenes P). Die Hasten des A treffen im Scheitel zusammen und beschreiben ein annähernd gleichschenkliges Dreieck. Die rechte Haste ist mit stärkerem Strich ausgeführt als die linke und weist oben eine deutliche Verstärkung auf, so daß eine leichte Rundung erreicht wird. Der nur wenig über den Scheitel des Buchstabens herausragende Deckbalken fällt der Rundung folgend leicht nach rechts unten ab. Einige der Buchstaben lassen schmale Sporen erkennen, z. B. die Haste des ersten R und der obere Balken des spitzen S. Andere enden keilförmig, wie z. B. der durch das C verlaufende Kürzungsstrich, der untere Balken des eckigen C, die Haste des zweiten R und die zweite Haste des A.

Die Sonderformen von C und S legen zunächst eine schriftgeschichtliche Datierung auf die Zeit um 1000 nahe, denn um diese Zeit sind in den epigraphischen Schriften eckige und spitze Buchstabenformen wieder häufiger zu beobachten.9) Dieser zeitliche Ansatz läßt sich jedoch nicht mit der Hildesheimer Tradition vereinbaren, welche die Lipsanotheca mit der Bistumsgründung durch Ludwig den Frommen im Jahr 815 in Verbindung bringt.10) Aus kunsthistorischer Sicht hat Elbern das Reliquiar aufgrund der mit Corveyer Buchmalerei übereinstimmenden Zwillingsranken auf das Ende des 10. Jahrhunderts datiert und einer Hildesheimer Werkstatt zugeschrieben.11) Brandt hingegen verweist auf die Nähe der Rankenornamentik zu Verzierungen auf karolingischen Silberschmiedearbeiten des 8. Jahrhunderts und setzt die Entstehung des Reliquiars im frühen 9. Jahrhundert wahrscheinlich in der karolingischen Hofwerkstatt an.12) Berges hat die Kamminschrift der Lipsanotheca zunächst in die Zeit zwischen 780 und 820/30 datiert und ihre Entstehung im Westen des Frankenreiches vermutet (B/R, S. 38f.). Anlaß dafür waren Übereinstimmungen in einzelnen Formen mit zwei Inschriften aus Saint-Germain-des-Prés, die ins 8. Jahrhundert datiert werden: Palaiseau-Schenkung (zweite Hälfte 8. Jahrhundert); Chrotrudis-Stein (Ende 8. Jahrhundert, B/R, S. 168).13) Rieckenberg weist in seinen Nachträgen (B/R, S. 169) mit dem am Ende des 7. oder im 8. Jahrhundert entstandenen Trierer Ludubertus-Stein eine weitere Parallele für die Verwendung spitzer S und eckiger C nach,14) allerdings stimmen auch bei diesem Beispiel nur einzelne Buchstaben mit der Hildesheimer Kamminschrift überein. Berges hat, ohne neueres Vergleichsmaterial anzuführen, in jüngeren Äußerungen seinen ursprünglichen Datierungsvorschlag zurückgenommen: „es bleibt nur, ohne das Wagnis einer festen Datierung auf das 9. oder 10. Jh., die ‚fränkischen‘ Altertümlichkeiten der Inschrift hervorzuheben“ (B/R, S. 168).15) Rieckenberg griff trotzdem 1983 den ältesten Datierungsansatz von Berges wieder auf (B/R, S. 169) und setzte die Kamminschrift in die Zeit um 800. Berges’ vielfältige Datierungsansätze zeigen sehr deutlich, daß es allein mit paläographischen Mitteln unmöglich ist, die Entstehungszeit der Inschrift auch nur auf ein Jahrhundert sicher festzulegen, weil einerseits die meisten der einschlägigen Vergleichsbeispiele nicht exakt datiert sind16) und andererseits der schmale Bestand von neun verschiedenen Buchstaben, der zudem noch durch sehr individuelle Formen geprägt ist, eine allzu unsichere Basis für eine vergleichende Datierung abgibt. Somit bleibt nur die Möglichkeit, mit Hilfe außerpaläographischer Merkmale Thesen für eine zeitliche Einordnung zu entwickeln und diese anhand paläographischer Beobachtungen zu diskutieren.

Die Bistumsgründung im Jahr 815 legt zunächst eine Entstehung der Inschrift im zweiten Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts in Aachen nahe. Die Inschriften dieser Zeit lassen seit dem Ende des 8. Jahrhunderts eine zunächst auf Einzelformen beschränkte, von etwa 830 an ausgeprägtere und zu Ende des 9. Jahrhunderts wieder zurückgehende Orientierung an den Buchstabenformen der antiken Kapitalis erkennen,17) die – mit Ausnahme des wenig aussagekräftigen O und der Linksschrägenverstärkung bei A sowie bei dem spitzen S – in den Buchstabenproportionen der Kamminschrift nicht wiederzufinden ist (s. besonders die singulären R und A). Im Vergleich mit dem zwischen 795 und 800 im Auftrag Karls des Großen in der Aachener Hofwerkstatt angefertigten Epitaph für Papst Hadrian I., das als Prototyp der karolingischen Monumentalkapitalis gelten kann,18) wird deutlich, daß die Kamminschrift wohl kaum in zeitlicher und räumlicher Nähe zu diesem Stück entstanden sein kann. Neben diesen Bedenken gegen eine Einordnung der Inschrift in die Zeit unmittelbar vor 815 sprechen vor allem die beiden folgenden Beobachtungen für eine frühere Entstehung des Reliquiars: Zum einen lassen sich für die eigenwillige Form der Lipsanotheca in der Karolingerzeit keine Parallelen finden.19) Sie ist jedoch recht eindeutig an zwei kleine frühchristliche Reliquiare anzuschließen (B/R, S. 29), die zwar einen Deckel haben und mit figürlichem Schmuck versehen sind,20) in ihrer Grundform und Größe aber ziemlich genau dem Hildesheimer Stück entsprechen. Zum anderen nimmt der Wortlaut der Kamminschrift A keinen Bezug auf die Funktion eines Marienreliquiars.21) Auf diese Diskrepanz hatte bereits Berges brieflich aufmerksam gemacht. Er meinte, „man habe (...) einen relativ alten Behälter für einen neuen Zweck, die Bewahrung von Marienreliquien, verwendet.“22) Es ist zwar nicht ausgeschlossen, daß der Reliquieninhalt – wie bei dem Keilförmigen Reliquiar (Nr. 3) – ursprünglich auf der Bodenplatte bezeichnet war. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß die in jüngerer Zeit erneuerte Inschrift den originalen Text der Bodenplatte bewahrt. Die außerpaläographischen Beobachtungen deuten also auf eine Entstehung in frühkarolingischer Zeit hin. Diese Datierung läßt sich immerhin auch paläographisch stützen, wenngleich lediglich für Einzelformen Parallelen zu finden sind. Eckige C sind in Inschriften wie auch in Auszeichnungsschriften des 5.–7. Jahrhunderts in Gallien, Spanien und Britannien häufig verwendet worden.23) Für die seltener benutzten spitzen S lassen sich keine Beispiele aus sicher datierten Inschriften finden, lediglich der bereits erwähnte Trierer Ludubertus-Stein, dessen Datierung in vorkarolingische Zeit Koch neuerdings bestätigt hat, zeigt diese Form.24) Häufiger als in epigraphischen Schriften finden sich solche S in einzelnen insular beeinflußten Auszeichnungsschriften der Codices des späten 7. und 8. Jahrhunderts,25) von wo aus sie wahrscheinlich in die Inschriften Eingang gefunden haben.26) Durch die karolingische Schriftreform sind diese eckigen Formen vorübergehend verdrängt worden.27) Festzuhalten bleibt aus diesem Befund, daß eine Entstehung der Lipsanotheca in frühkarolingischer Zeit naheliegt, eine sichere Begründung dieser Datierung aus paläographischer Sicht jedoch nicht möglich ist, zumal der Herstellungsort der Inschrift unbekannt ist.

Anzumerken ist noch, daß sich der Text von Inschrift A mit kleinen Abweichungen auf zwei weiteren Hildesheimer Reliquiaren findet: zum einen auf dem nach dem Vorbild der Lipsanotheca wohl vor 1227 gearbeiteten Katharinenreliquiar (vgl. Nr. 66, Inschrift verloren), zum anderen auf dem im 12. Jahrhundert entstandenen Epiphaniusschrein (vgl. Nr. 41, Inschrift E). Dort heißt es in einer hexametrisch versifizierten Fassung: CORPORA SANCTORVM CVM PACE SEPVLTA QVIESCVNT (...). Die Form der Lipsanotheca, nicht aber die Kamminschrift, greift ein weiteres Hildesheimer Reliquiar (Nr. 52) auf.

Inschrift B ist in einer manierierten Majuskelschrift ausgeführt, die Berges auf die Zeit zwischen 1370 und 1400 datiert hat (B/R, S. 39f.). Sie ist charakterisiert durch an den Enden gegabelte Hasten, zahlreiche aufgesetzte Schwellungen, die meist spitz ausgezogen sind, und durch häkchenförmige, teilweise in Perlsporen endende Anstriche und Fortsätze. Auffällig ist das in seiner Grundform kapitale T, dessen Sporen am Deckbalken bis auf die Grundlinie in einem nach innen gewölbten Bogen herabgezogen sind. Vergleichbare Formen hat Berges in der Inschrift auf der nur noch in einer Zeichnung überlieferten Grabplatte Bischof Heinrichs III. († 1363, Nr. 97, Abb. 180) nachgewiesen. Dort sind an einzelnen Buchstaben ähnlich gestaltete, aber deutlich schwächer ausgeprägte Häkchen zu beobachten, auch die symmetrischen, unten offenen unzialen M entsprechen – allerdings nur in ihrer Grundform – weitgehend denen auf der Bodenplatte. Die kapitalen T der Grabplatte weisen nicht die ausgeprägten Sporen auf, die auf der Bodenplatte zu der charakteristischen Ausbildung dieses Buchstabens geführt haben. Auch die gegabelten Hastenenden sind nur bei einzelnen R und T der Bischofsgrabinschrift verwendet worden. Für die aufgesetzten Schwellungen findet sich im Hildesheimer Bestand eine Parallele auf der bereits 1279 entstandenen Grabplatte des Bischofs Otto I. (Nr. 70). Dort sind die Cauden einiger R mit aufgesetzten Schwellungen versehen. Diesem Befund entsprechend hat Berges die Buchstaben auf der Bodenplatte als übertreibende Weiterentwicklung der im Hildesheimer Bestand in der gotischen Majuskel nachweisbaren Zierformen verstanden und sie auf das Ende des 14. Jahrhunderts datiert (B/R, S. 40). Damit wäre die Inschrift der Bodenplatte eines der wenigen Beispiele für die Verwendung der gotischen Majuskel im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts in Hildesheim. Die übertriebene, einzelne Buchstaben (z. B. T) bis zur Unlesbarkeit entstellende Anwendung verschiedener Zierformen weist aber insgesamt eher auf eine deutlich spätere Entstehung dieser Inschrift hin. Nichts spricht dagegen, die Inschrift der Bodenplatte auf die Zeit um 1680 zu datieren, als nach dem Raub der Lipsanotheca eine Reparatur notwendig wurde. Da diese manierierte Schriftform auch für das Ende des 17. Jahrhunderts ungewöhnlich ist,28) liegt die Annahme nahe, daß in der Inschrift auf der Bodenplatte einzelne Elemente der auf der Vorgängerplatte in gotischer Majuskel angebrachten Inschrift aufgenommen und übersteigert umgesetzt worden sind.

Die Buchstaben auf den Rotuli des Knaufs (Inschrift C) sind in Kapitalis ausgeführt. I ist mit einem I-Punkt versehen, auf dem Balken des H steht ein lateinisches Kreuz. Die Ausführung in Kapitalis schließt aus, daß die Inschrift um 1400 entstanden ist. Die genannten Charakteristika sprechen vielmehr für eine spätere Entstehung, wahrscheinlich ebenfalls im 17. Jahrhundert. Da nichts darauf hindeutet, daß die Rotuli separat ausgetauscht worden sind, wäre folglich der gesamte heutige Fuß ins 17. Jahrhundert zu datieren.

Textkritischer Apparat

  1. Zu ergänzen zu CORPORA.
  2. Zu ergänzen zu SANCTORVM IN PACE.
  3. Zu ergänzen zu SVNT.
  4. IHS.

Anmerkungen

  1. Inv. Nr.: DS 1.
  2. Vgl. Konrad Algermissen: Die Gründung der Diözese Hildesheim und Unserer Lieben Frauen Heiligtum. In: Diözese 20 (1951), S. 1–27, hier S. 21f. Da die Reliquien gestohlen worden waren, wurden am 28. Mai 1680 neue Reliquien in die Lipsanotheca eingeschlossen, u. a. vom Kreuz Christi und von Kleid und Schleier der Gottesmutter. Siehe dazu auch das bei Kratz, Dom 2, S. 9 wiedergegebene Notariatsinstrument.
  3. Näheres dazu s. u. im Kommentar.
  4. Zur Datierung des ursprünglichen gotischen Fußes vgl. die Eintragung im Domschatzverzeichnis 1409 Item reliquias beate virginis cum capsa argentea, tunica aurea gemmis ornata zona aurea cum pede argenteo, zitiert nach Doebner, Schatzverzeichnis 1409, S. 116. Vgl. auch die Skulptur des heiligen Godehard an der Fassade der 1412 erbauten nördlichen Querhaus-Vorhalle des Doms. Die Lipsanotheca, die Godehard in der Rechten hält, ist hier bereits mit Fuß abgebildet, vgl. Kat. Kirchenkunst des Mittelalters, S. 16 u. Abb. 12.
  5. Vgl. Kat. Kirchenkunst des Mittelalters, S. 14: Brandt vermutet, daß diese Randstreifen zu einer Schenkung Kaiser Ottos IV. (1209–1218) gehören, der nach Auskunft einer in der Handschrift DBHi, HS 123b (fol. 114r) überlieferten Stiftungsinschrift eine goldene Hülle (tegumentum) für die Reliquien der heiligen Jungfrau Maria gestiftet hat, vgl. dazu Nr. 61.
  6. Inv. Nr.: DS (2). Datierung der Kopie nach Brandt in: Kat. Kirchenkunst des Mittelalters, S. 11. Elbern/Reuther, Domschatz, erwähnen (S. 16) eine – zu ihrer Zeit nicht nachweisbare – weitere Kopie, die nach dem Diebstahl des Reliquiars im Jahr 1680 angefertigt wurde.
  7. Inschrift A nach Sir. 44,14: corpora ipsorum in pace sepulta sunt. Der Wortlaut der Kamminschrift folgt einer seit dem 5. Jahrhundert nachzuweisenden spanischen Vulgata-Rezension. Diese Version ist auch in den liturgischen Gebrauch eingegangen: 3. Antiphon der Laudes im Commune plurimorum martyrum des Breviarium Romanum; Graduale desselben Commune im Missale Romanum. Nachweis der liturgischen Texte durch Johannes Stuke: Das Heiligtum Unserer Lieben Frau. In: Diözese 23 (1954), S. 93–101, hier S. 95. Inschrift B ebenfalls nach Sir. 44,14: et nomen eorum vivet in generationes et generationes. Der Text der Inschrift folgt der Fassung im Brevier.
  8. Berges’ Schriftbeschreibung weist einzelne Ungenauigkeiten auf, da er die Einzelformen der Buchstaben offenbar nicht nach Autopsie, sondern nach der im Detail nicht korrekten Zeichnung von Johann Michael Kratz beschrieben hat.
  9. Vgl. Kloos, Einführung, S. 124. Weitere Beispiele für eckiges C und S in Form eines retrograden Z: Jagdmesser Karls des Großen s. DI 31 (Aachen Dom), Nr. 17 (A. 11. Jahrhundert); Heribert-Stab s. Kat. Bernward 2, S. 229f. Die an diesem Stab angebrachte Silbermanschette mit der Inschrift ist um 1020 entstanden. In den sicher datierten mittelalterlichen Inschriften Frankreichs ist das in Form eines retrograden Z ausgeführte S nicht vor Beginn des 11. Jahrhunderts zu beobachten (Auskunft von Jean Michaud †, Corpus des Inscriptions de la France médiévale, Poitiers).
  10. S. dazu Nikolaus Gussone: Das Marienheiligtum im Domschatz zu Hildesheim. Gründungsheiligtum und Gründungsgedenken im Lebensrhythmus von Bistum, Stadt und Gesellschaft. In: Rhythmus und Saisonalität. Kongreßakten des 5. Symposions des Mediävistenverbandes in Göttingen 1993, hg. von Peter Dilg, Gundolf Keil und Dietz-Rüdiger Moser. Sigmaringen 1995, S. 269–295 mit Verzeichnung der älteren Literatur.
  11. Victor H. Elbern: Eine Inkunabel der ottonischen Goldschmiedekunst in Niedersachsen. In: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 8 (1969), S. 61–76, hier S. 69. Vgl. auch die Abbildungen der Rankenornamente aus den Corveyer Handschriften in: Kat. Kunst und Kultur im Weserraum, Abb. 158 a/b und 159.
  12. Kat. Bernward 2, S. 445–448.
  13. Nachzeichnung der Inschriften bei B/R, Tafel 1, Abb. 5 und 7. Der Chrotrudis-Stein befindet sich heute in Paris im Musée de Cluny. Eine Abbildung des Steins in: L’antiquité classique, le haut moyen-âge et Byzance au Musée de Cluny. Catalogue par Jean Pierre Caillet. Paris 1985, S. 97 (Datierung: 8. Jahrhundert).
  14. Zum Ludubertus-Stein s. Recueil des Inscriptions chrétiennes de la Gaule antérieures à la Renaissance carolingienne, hg. von Henri Irénée Marrou, Bd. 1 (Première Belgique) bearb. von Nancy Gauthier. Paris 1975, Nr. 29 A.
  15. Vgl. Wilhelm Berges: Ein Kommentar zur „Gründung der Hildesheimer Kirche“. In: Historische Forschungen für Walter Schlesinger, hg. von Helmut Beumann. Köln, Wien 1974, S. 86–110, hier S. 107. Berges wiederholt hier seine in Einzelheiten ungenaue Schriftbeschreibung auf der Grundlage der fehlerhaften Kratzschen Zeichnung (vgl. Anm. 8). In einem von Victor H. Elbern (wie Anm. 11), S. 73, zitierten Brief von 1968 schreibt Berges, daß das Material nicht ausreiche für eine „nähere epigraphische Datierung (...) als spätes 9. bis spätes 10. Jh.“.
  16. Der von Berges angeführte Chrotrudis-Stein z. B. weist kein Datum auf. Edmond Le Blant hat ihn zwar in sein bis zum 8. Jahrhundert reichendes Corpus (Inscriptions chrétiennes de la Gaule antérieures au VIIIe siècle. Bd. 1. Paris 1856, Nr. 204) aufgenommen, datiert die Inschrift aber nicht exakt, sondern bemerkt nur, daß sie einer „très-basse époque“ entstamme. Bernadette Mora und Jean Michaud †, Corpus des Inscriptions de la France médiévale in Poitiers, setzen die Inschrift eher ins 11. Jahrhundert. Wie Le Blant im Fall des Chrotrudis-Steins datiert auch Nancy Gauthier den Trierer Ludubertus-Stein (Recueil des Inscriptions chrétiennes de la Gaule [wie Anm. 14], Bd. 1, Nr. 29A) zwar aufgrund des Formulars und der Übereinstimmungen mit der Buchschrift des 8. Jahrhunderts in die vorkarolingische Zeit, sie weist aber auch auf die vorromanischen Merkmale hin und bemerkt, daß diese Inschrift „particulièrement tardive“ sei. – Bei der von Berges herangezogenen Palaiseau-Schenkung z. B. schließen die Untersuchungen zur Baugeschichte von Saint-Germain-des-Prés (Eugène Lefevre-Pontalis: Étude historique et archéologique sur l’église de Saint-Germain-des-Prés. Paris 1891, S. 303f.) nicht aus, daß die Inschrift später – vermutlich im 11. Jahrhundert – zum Gedenken an die im Jahr 754 erfolgte Translation der Germanusreliquien angebracht worden ist.
  17. Vgl. DI 38 (Bergstraße), Einleitung, S. XL, Kommentar zu Nr. 2; Sebastian Scholz: Karolingische Buchstaben in der Lorscher Torhalle. Versuch einer paläographischen Einordnung. In: Inschriften bis 1300, S. 103–123.
  18. Scholz, ebd., S. 120, Abb. S. 113.
  19. Braun, Reliquiare, S. 200 kennt offenbar kein vergleichbares Beispiel und hält eine Datierung in das 9./10. Jahrhundert für „unbegründet“. Die im Katalog Karl der Große. Werk und Wirkung. Aachen 1965, Abb. 22–25 und im Tafelteil zu Victor H. Elbern (Hg.): Das Erste Jahrtausend. Düsseldorf 21962, Abb. 285–192 abgebildeten Reliquiare haben deutlich andere Formen.
  20. Helmut Buschhausen: Die spätrömischen Metallscrinia und frühchristlichen Reliquiare. Wien 1971 (Wiener Byzantinistische Studien 9), S. 242–245, Nr. B 15 und Nr. B 16; Abb. Tafeln B 48–52: Capsella Vaticana, 1. H. 7. Jahrhundert; Capsella Africana, vor dem 6. Jahrhundert Die beiden Pyxiden sind auch abgebildet in: Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Katalog zur Ausstellung Paderborn 1999, hg. von Christoph Stiegemann und Matthias Wemhoff. Mainz 1999, Bd. 2, S. 646f.
  21. Das Reliquienverzeichnis des Doms vom Ende des 12. oder Anfang des 13. Jahrhunderts (Wolfenbüttel, HAB, Cod. 83.30. Aug. fol.) gibt den Inhalt folgendermaßen an (fol. 199v): In capsa argentea continentur reliquie sancte Dei genitricis Marie: de crinibus, de unguibus, de lacte et de vestimentis, de sudario Domini, de sanguine Domini, de circumcisione Domini. Im Unterschied zur Lipsanotheca ist beispielsweise auf dem um 800 entstandenen Marienreliquiar (Altheusreliquiar) des Sittener Domschatzes Maria sowohl in einem Relief dargestellt als auch inschriftlich bezeichnet. Allerdings ist unklar, „ob sich die Figuren und ihre Bezeichnungen auf die im Kästchen aufbewahrten Reliquien beziehen, oder ob sie nur wegen des Bestimmungsortes, nämlich einer der beiden bischöflichen Marienkirchen (...), am Reliquiar angebracht worden sind,“ vgl. CIMAH I (Wallis), Nr. 31, S. 98. – Mit der Diskrepanz zwischen der Inschrift und dem Reliquieninhalt der Lipsanotheca hat sich auch Werner Arnold auseinandergesetzt (Anmerkungen zu Wilhelm Berges’ Edition der älteren Hildesheimer Inschriften. In: Deutsche Inschriften, S. 46–61, hier S. 54–56). Er nennt zum Vergleich ein Beispiel aus der Münsterkirche St. Martin in Emmerich. Die Inschrift auf der dort aufbewahrten Willibrordi-Arche weise ebenfalls nicht auf die im Reliquiar enthaltenen Marienreliquien hin. Die Willibrordi-Arche kann jedoch nur bedingt zum Vergleich mit der Inschrift auf der Lipsanotheca herangezogen werden. Während die Hildesheimer Inschrift keinerlei Bezug auf die im Reliquiar befindlichen Reliquien nimmt, werden die in der Willibrordi-Arche enthaltenen Reliquien genannt, wenn auch der explizite Hinweis speziell auf Marienreliquien fehlt: HE SVNT RELIQVIAE QVAS SANCTVS VVILLIBRORDVS ROME A PAPA SERGIO ACCEPIT ET EMBRIKAM TRANSPORTAVIT. Zitat nach: Kunstdenkmäler der Rheinprovinz 2 (Rees), hg. von Paul Clemen. Düsseldorf 1892, S. 46–49, Inschrift S. 47.
  22. Zitiert bei Elbern (wie Anm. 11), S. 76, Anm. 55.
  23. Vgl. Johannes Bauermann: Salische Inschriften an der Überwasserkirche in Münster? Eine epigraphische Studie. In: Westfalen 53 (1975), S. 16–28, hier S. 24; Edmond Le Blant: Paléographie des inscriptions latines du IIIe siècle à la fin du VIIe. In: Revue archéologique 29 (1896) und 30 (1897); ders.: Inscriptions chrétiennes de la Gaule antérieures au VIIIe siècle. 2 Bde., Paris 1865, hier Bd. 1: Abbildungen Nr. 58, Nr. 139, Nr. 141, Nr. 143 (Chrotrudis-Stein), Nr. 163, Nr. 218 u. ö. – Einzelne bisher nicht berücksichtigte italienische Beispiele für eckige C und S in Form des retrograden Z lassen sich noch benennen: Pietro Rugo: Le iscrizioni dei sec. VI-VII-VIII esistenti in Italia. Bd. 4: I ducati di Spoleto e Benevento. Cittadella 1978, Nr. 105 Capua, Ende 5. Jahrhundert, Epitaph des Gotto acolito (nur eckiges C und einzelne spitze S mit der Hildesheimer Inschrift vergleichbar). Aus späterer Zeit stammt ein Elfenbein-Diptychon aus dem Schatz der Kathedrale von Monza, das rundes O neben spitzem S und eckigem C aufweist (Adolph Goldschmidt: Die Elfenbeinskulpturen. Aus der Zeit der karolingischen und sächsischen Kaiser. VIII.–XI. Jahrhundert. Bd. 1, Berlin 1914, Tafel LXXIX, Nr. 168; Text S. 82f.). Dieses in einen Buchdeckel integrierte Elfenbein geht auf ein Konsulardiptychon des 6. Jahrhunderts zurück, wurde aber um 900 überarbeitet. Die fragliche Inschrift dürfte im Zuge der Überarbeitung entstanden sein, weil ihr Wortlaut mit dem Incipit des in der Handschrift überlieferten Texts übereinstimmt. Die übrigen Buchstaben dieser Inschrift weisen keine auffallenden Parallelen mit denen der Lipsanotheca auf. Das Beispiel aus Monza ist, sofern die Datierung auf die Zeit um 900 zutrifft, in den italienischen Inschriften singulär. Sämtliche von Gray, Paleography, untersuchten Inschriften des 8.–10. Jahrhunderts aus Italien weisen das zweibogige S in der geneigten Form auf.
  24. Walter Koch: Auszeichnungsschrift und Epigraphik. Zu zwei Westschweizer Inschriften der Zeit um 700. München 1994 (Bayerische Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Sitzungsberichte 1994, Heft 6), S. 33.
  25. Beispiele aus Freising bietet Eva Kessler: Die Auszeichnungsschriften in den Freisinger Codices von den Anfängen bis zur karolingischen Erneuerung. Wien 1980, S. 158: München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 6237: Gregor d. Gr. Homiliae in Ezechielem (2. H. 8. Jahrhundert, Textschrift angelsächsische Minuskel); S. 165: Clm 6297: Gregor d. Gr. Moralium pars ultima (2. H. 8. Jahrhundert, Auszeichnungsschrift: Insulare Kapitalis). – Carl Nordenfalk: Insulare Buchmalerei. Illuminierte Handschriften der Britischen Inseln. München 1977: Das um 730 teilweise im insularen Stil geschriebene Trierer Evangeliar weist im Initium des Matthäus-Evangeliums eckiges C und spitzes S auf (Tafel 30, S. 91). – Aus Würzburg läßt sich auch für das frühe 9. Jahrhundert noch in einem Fall die Verwendung von eckigen C und spitzen S belegen: Codex M. p. th. f. 144: Isidor De fide catholica, deutsch-angelsächsische Buchschrift (Bernhard Bischoff und Josef Hofmann: Libri Sancti Kyliani. Die Würzburger Schreibschule und die Dombibliothek im VIII. und IX. Jahrhundert. Würzburg 1952, Abb. 3). – Spitzes S wird auch in der Auszeichnungsschrift des um 775 entstandenen sog. Liudger-Autographs (Abb. 267 in: Das Erste Jahrtausend [wie Anm. 19], Tafelteil) verwendet.
  26. Koch (wie Anm. 24), S. 28–34. Koch betont allerdings, daß die Einflüsse des Insularen auf dem Kontinent gering anzusetzen seien (S. 31). S. a. ders.: Insular Influences in Inscriptions on the Continent. In: Roman, Runes and Ogham. Medieval Inscriptions in the Insular World and on the Continent, hg. von John Higgitt, Katherine Forsyth und David N. Parsons. Donington 2001, S. 148–157, hier S. 149; zur Lipsanotheca ebd., S. 157.
  27. Bauermann (wie Anm. 23).
  28. In diesem Zusammenhang ist auf eine ähnlich manieriert gestaltete gotische Majuskel auf den Memorientafeln für Kilian, Kolonat und Totnan hinzuweisen, die wahrscheinlich ebenfalls im 17. Jahrhundert entstanden ist, vgl. DI 27 (Stadt Würzburg I), Nr. 128.

Nachweise

  1. Kratz, Dom 2, S. 5 (B, C), A und B in Nachzeichnung (Tafel 2, Abb. 1a und 1b).
  2. Mithoff, Kunstdenkmale, S. 109 (ohne A).
  3. Bertram, Bistum 1, S. 30 (A, B).
  4. Kd. Hildesheim, Kirchen, S. 88f.
  5. Elbern/Reuther, Domschatz, S. 15.
  6. Berges in B/R, S. 30, Tafel 2, Nr. 1–3 (Abb.).
  7. Kat. Kirchenkunst des Mittelalters, S. 14 (A), S. 12, Abb. 4a, b (A), S. 16 (B), S. 18, Abb. 14 (B).
  8. Kat. Bernward 2, S. 447.

Zitierhinweis:
DI 58, Stadt Hildesheim, Nr. 1 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di058g010k0000104.