Die Inschriften der Stadt Hildesheim

2. Historisch-chronologischer Überblick

Die Hildesheimer Inschriften spiegeln die historische Entwicklung der Stadt und ihrer geistlichen und weltlichen Institutionen besonders in der Frühzeit keineswegs lückenlos, sie erhellen vielmehr schlaglichtartig – wie es für diese Quellengattung typisch ist – die Geschichte in den verschiedenen Jahrhunderten auf unterschiedliche Art und Weise. Die im Folgenden zusammengestellte Übersicht stellt die wesentlichen Ereignisse aus der Geschichte Hildesheims für die Zeit von 815 bis 1650 zusammen. Im Anschluß daran soll ein chronologischer Überblick zeigen, für welche Zeiten und für welche Bereiche die zum einen durch ihre eigenen Gesetze geprägte und zum anderen in starkem Maße vom Überlieferungszufall abhängige Quellengattung Inschriften für die Hildesheimer Geschichtsschreibung von Bedeutung ist.

2. 1 Historischer Überblick2)

815 Im Zuge der Eingliederung Sachsens in das Frankenreich wird unter Ludwig dem Frommen auf der Reichsversammlung in Paderborn das Bistum Hildesheim kon­stituiert. Das neue, verkehrsgünstig am Schnittpunkt einer West-Ost- und einer Süd-Nord-Achse in altbesiedeltem Gebiet3) gelegene Bistum gehört zusammen mit Paderborn, Verden und Halberstadt zur Kirchenprovinz Mainz.4) Es erhält als Gründungsgeschenk Ludwigs des Frommen Reliquien aus der Aachener Hof­kapelle (Nr. 1). [Druckseite 12]
851–874 Bischof Altfrid.
993–1022 Bischof Bernward. 1010 Grundsteinlegung St. Michaelis (Nr. 6).
1022–1038 Bischof Godehard. Anfänge des späteren Augustiner-Chorherrenstifts St. Bartholo­mäus zur Sülte.
1038 Erste Erwähnung von St. Andreas. Zwischen dem Dom und St. Michaelis entwickelt sich in der Gegend des Alten Marktes eine Siedlung, die als Keimzelle der Stadt Hildesheim angesehen werden kann. Östlich von dieser Siedlung in einem neuen Marktbereich die St. Andreas-Kirche.
1038–1044 Bischof Thietmar.
1046 Zerstörung des Doms durch einen Brand.
1054–1079 Bischof Hezilo. 1061 Neuweihe des Doms durch Bischof Hezilo (Nr. 24). 1079 Weihe des Heilig-Kreuz-Stifts durch Bischof Hezilo.
1079–1114 Bischof Udo. Erbauer der Laurentiuskapelle am südlichen Kreuzgangflügel des Doms, in der er auch bestattet wird (Nr. 29, 30).
1119–1130 Bischof Berthold.
1130–1153 Bischof Bernhard I. (Nr. 35).
1131 Bischof Bernhard bewirkt die Heiligsprechung Godehards. Translation im Jahr 1132. Hauptort der Verehrung ist der Dom (Nr. 40).
1133 Grundsteinlegung für das Benediktinerkloster St. Godehard durch Bischof Bernhard.
1146 Hildesheim zum ersten Mal urkundlich als civitas bezeugt.
1153–1161 Bischof Bruno.
1161 Gründung des Johannishospitals als Ersatz für das Domhospital durch Dompropst Rainald von Dassel.
1170/71–1190 Bischof Adelog (Nr. 45).
1192–1194 Heiligsprechung Bernwards 1192/93. Translation 1194. Die Reliquien verbleiben teils in St. Michaelis, teils gelangen sie in den Dom. Hauptort der Verehrung ist St. Michaelis.
1196 Gründung der Dammstadt für flandrische Kolonisten.
1204 Einrichtung eines Kollegiatstifts am Johannishospital.
um 1215 Gründung der Neustadt, 1221 erste urkundliche Erwähnung. Stadtherr ist der Dompropst.
1221–1246 Bischof Konrad II. Neue Ordensniederlassungen: erste Aufnahme von Franziska­nern (1223, späteres Kloster St. Martini) und Dominikanern (1231, Kloster St. Paul) in Hildesheim. Gründung des Reuerinnen-Klosters St. Maria Magdalena (1235 päpstlicher Schutzbrief).
ca. 1249 Erstes Hildesheimer Stadtrechtsprivileg.
1260–1279 Bischof Otto I. (Nr. 69, Nr. 70).
1268 Bau eines neuen Rathauses am neuen, nordöstlich von St. Andreas gelegenen Großen Markt (heutiger Marktplatz).
1279–1310 Bischof Siegfried II. (Nr. 77). 1307 Gründung des Schüsselkorbstifts im Bischofs­hof mit vier Kanonikaten.
1332 Zerstörung der im Westen der Altstadt gelegenen Dammstadt. Die 1196 gegrün­dete Tuchmacherstadt entwickelt sich wirtschaftlich zu einer Konkurrenz für die Altstadt. Nach einer zwiespältigen Bischofswahl, bei der Altstadt und Dammstadt zwei verschiedenen Kandidaten anhängen, nutzt die Altstadt die Gelegenheit zu einem vernichtenden Überfall auf die Dammstadt, bei dem auch das Johannis­hospital stark in Mitleidenschaft gezogen wird.
1365–1398 Bischof Gerhard vom Berge. 1367 Schlacht bei Dinklar zwischen Herzog Magnus von Braunschweig und dem Bischof von Hildesheim, der im Bündnis mit der Stadt aus der Schlacht siegreich hervorgeht. 1388 Gründung der Hildesheimer Kartause.
1367 Eintritt in die Hanse.
1424–1452 Bischof Magnus.
1439–1480 Klosterreform in Hildesheim durch Johannes Busch. 1465 Reform des Godehard-Klosters unter Abt Lippold von Stemmen.
1451 Nikolaus von Kues als Gesandter des Papstes in Hildesheim u. a. zum Zweck der Kirchen- und Klosterreform. 1453 tritt das St. Michaelis-Kloster der Bursfelder Union bei. [Druckseite 13]
1460, 1463 u. 1473 Pest.
1484–1486 Große Fehde zwischen der Stadt Hildesheim und dem bischöflichen Landesherrn.
1519–1523 Hildesheimer Stiftsfehde. Bei dem Bemühen, verpfändete Rechte, Stiftsburgen und -güter einzulösen und dadurch seine wirtschaftliche Macht wiederherzustellen, gerät Bischof Johann IV. von Sachsen-Lauenburg (1504–1527) in Konflikt mit dem Stiftsadel, der sich durch die Revindikation der seit Generationen über­lassenen Besitzungen und Rechte in seiner Existenzgrundlage bedroht sieht. Der Adel sucht Hilfe bei Herzog Heinrich dem Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel (1516, 1518), und die Fehde weitet sich zu einer kriegerischen Aus­einandersetzung zwischen den beiden konkurrierenden Landesherren aus: Auf der einen Seite stehen der Bischof im Bund mit der Stadt Hildesheim und Herzog Heinrich von Lüneburg, auf der anderen Seite die Herzöge Heinrich der Jüngere und Erich I. von Calenberg sowie der Bischof Franz von Minden, der ebenfalls aus welfischem Hause stammt. Der Partei Herzog Heinrichs des Jüngeren gelingt es schließlich, große Teile des bischöflichen Territoriums zu besetzen.
1523 Quedlinburger Rezeß: Erhebliche Verkleinerung des bischöflichen Territoriums auf das „Kleine Stift“, dem nur noch die Ämter Steuerwald, Marienburg und Peine mit den Städten Hildesheim und Peine sowie die Dompropstei angehören. Das „Große Stift“ fällt an die welfischen Herzöge, die auf diese Weise ihr Territorium arrondieren können. Sie werden mit diesem Teil der ehemals bischöflichen Besitzungen im Jahr 1530 offiziell belehnt.
1528 Kaiser Karl V. verleiht der Stadt ein neues Wappen: geteilt, oben wachsender schwarzer Adler in silbernem Feld, unten quadriert in Rot und Gold. In der Helmzier die Hildesheimer Jungfrau.
1542 Einführung der Reformation (Nr. 339), 1543 Eintritt in den Schmalkaldischen Bund. Katholisch bleiben das Domkapitel, die Klöster St. Michaelis und St. Gode­hard, das Stift Heilig Kreuz, das Kollegiatstift St. Andreas, St. Johannis, das Augu­stinerchorherrenstift St. Bartholomäus zur Sülte, St. Magdalenen und St. Maria Magdalena im Schüsselkorb. Die Kirchen St. Andreas, St. Martini, St. Paul und St. Michaelis wie auch die übrigen Pfarrkirchen in der Stadt werden evangelisch. Politisch-soziale Umwälzungen gehen in Hildesheim mit der Reformation nicht einher. Die Einführung des evangelischen Bekenntnis­ses bleibt während der gesamten frühen Neuzeit in Hildesheim umkämpft, da die geistlichen Immunitäts­bezirke von den gegenreformatorischen Kräften als Basis für Rekatholisierungs­bemühungen genutzt werden.
1553 „Hildesheimer Religionsfrieden“:5) Der Hildesheimer Bischof Friedrich von Holstein (1551–1556) erkennt die 1542 geschaffenen konfessionellen Verhältnisse an, während die Stadt Besitzstand und Rechte der katholischen Klöster und Stifte akzeptiert.
1566 Pest.
1583 Vereinigung von Alt- und Neustadt.
1573–1612 Bischof Ernst II. von Bayern, der erste Angehörige der Wittelsbacher Herzöge auf dem Hildesheimer Bischofssitz.
1586 Einrichtung eines kath. Konsistoriums oder Geistlichen Rats mit den Aufgaben eines Generalvikars und eines Offizials. Verstärkte Bemühungen um Rekatholisierung.
1587 Berufung der Jesuiten nach Hildesheim. 1595 Eröffnung des Gymnasiums, das auch von Protestanten besucht wird.
1597–1598, 1609 Pest.
1612–1650 Ferdinand von Bayern wird Bischof von Hildesheim und residiert in Köln. Um­fangreiche Rekatholisierungs­bemühungen.
1626 Pest.
1618–1648 Dreißigjähriger Krieg: 1626 Sieg Tillys bei Lutter am Barenberge. 1628 Forderun­gen der siegreichen kaiserlichen Truppen an die Stadt Hildesheim. 1632 rückt [Druckseite 14] Pappenheim mit den kaiserlichen Truppen in die Stadt ein und fordert bis 1634 hohe Kon­tributionszahlungen, die für die Stadt verheerende Folgen haben. 1634 zieht der lutherische Herzog Georg von Lüneburg in die Stadt ein und residiert bis 1641 am Domhof. Der Dom wird zur fürstlichen Schloßkirche (luthe­risches Interim).
1631–1634 Einführung des Gregorianischen Kalenders (Nr. 661).
1643 Restitution des „Großen Stifts“, nachdem das Reichskammergericht 1629 die Restitution und Rückgabe der katholischen Güter in der Stadt verfügt hat. Die Stadt wird von ihren Verpflichtungen gegenüber den welfischen Herzögen ent­bunden. Der Dom wird wieder katholisch, die St. Michaelis-Kirche bleibt evange­lisch, der Konvent hält am katholischen Bekenntnis und an der monastischen Lebensform fest.
1648 Im Westfälischen Frieden werden die konfessionellen Verhältnisse und die Besitz­stände entsprechend der Situation im Normaljahr 1624 geregelt. Die Stadt bleibt daher evangelisch. Die Diözesangewalt der Hildesheimer Bischöfe beschränkt sich danach auf die katholischen Reste im Stiftsgebiet; als Landesherren regieren sie eine im wesentlichen evangelische Bevölkerung.

2. 2. Chronologie der Inschriften

Aus der Frühzeit des Bistums sind außer dem Keilförmigen Reliquiar (Nr. 3), das in Hildesheim entstanden sein könnte, keine autochthonen Inschriften bekannt. Erst mit Bischof Bernward beginnt die eigentliche Hildesheimer Inschriftenüberlieferung. Insgesamt 15 zum Teil mit einem ungewöhnlichen Maß an Reflexion des eigenen Tuns (Nr. 5 u. 12) formulierte Inschriften nennen ihn als Gründer des zu seiner Grablege bestimmten Benediktinerklosters St. Michaelis, als Bauherrn der zugehörigen Kirche (Nr. 6) und als Stifter einer künstlerisch herausragenden Ausstattung (Nr. 4f., 9, 1315 u. 17f.). Für keinen der späteren Hildesheimer Bischöfe gibt es eine so dichte Überlie­ferung erhaltener Inschriften, was sicher auch der Tatsache zu verdanken ist, daß die von Bernward gestifteten Objekte mit seiner Heiligsprechung den Charakter von Reliquien angenommen haben. Die übrigen Inschriften des 11. Jahrhunderts dokumentieren u. a. die Neuweihe des Doms nach dem Brand von 1046 (Nr. 24) und vor allem die reichen Stiftungen der Bischöfe für den Dom (Nr. 22 u. 25). Unter ihnen fallen die Inschriften des Hezilo-Leuchters und des für Heilig Kreuz gestifteten sogenannten Hezilo-Kreuzes (Nr. 26) besonders auf, da sie nicht nur den Stifter in den Mittelpunkt stellen, sondern die Objekte, auf denen sie angebracht sind, in der Tradition der patristischen Bibel­exegese und der spätantiken Literatur ausdeuten. Die wenigen Grabinschriften öffnen den Blick auf im Umkreis von Dom und St. Michaelis lebenden Personen: ein Exilbischof (Nr. 20), zwei Geist­liche (Nr. 8 u. 23) und eine Stifterin (Nr. 27). Ferner weisen die Inschriften auf den reichen Hildesheimer Reliquienbesitz hin (Nr. 3, 13f. u. 24).

Während die Inschriften auf den im 11. Jahrhundert entstandenen Stücken der kirchlichen Ausstattung deutlich im Sinne einer Stiftermemoria formuliert sind, ist die namentliche Nennung eines Stifters im 12. und 13. Jahrhundert nur in vier (Nr. 31, 53, 59 u. 67) von insgesamt 30 Inschriften auf entsprechenden Objekten anzutreffen. Da sich auch die Grabschriften auf sieben beschränken, von denen zwei weder Namen noch Datum (Nr. 30 u. 39) tragen, ist der prosopo­graphische Ertrag der Inschriften für diesen Zeitraum eher gering. Der weit überwiegende Teil der Inschriften bezieht sich auf ihnen zugeordnete Bilder, deutet diese nach dem vierfachen Schriftsinn (Nr. 41A, 52, 54 u. 64) und bindet sie in ihren liturgischen Zusammenhang ein (Nr. 67). Andere Inschriften versuchen meist mit Bezug auf die Objekte, auf denen sie angebracht sind, die wichtig­sten Themen des christlichen Glaubens, wie z. B. die Menschwerdung Christi (Nr. 56), die Taufe (Nr. 67) oder das Himmelreich (Nr. 39f.), in pointierten und gedanklich einfallsreichen Formu­lierungen verstehbar zu machen.6) Die zwei für die Hildesheimer Kirchengeschichte zentralen Heilig­sprechungen der Bischöfe Godehard und Bernward lassen sich in der Inschriftenüberliefe­rung [Druckseite 15] nur mittelbar greifen. Für die Gebeine des heiligen Godehard wird ein Schrein angefertigt (Nr. 40), und das nach der Heiligsprechung gegründete Kloster St. Godehard tritt neben Dom und St. Michaelis als weiterer Inschriftenstandort (Nr. 35, 43, 54, 59, 60 u. 64) her­vor. Im Gefolge der zunächst gestatteten lokalen Verehrung Bernwards und seiner späteren Heilig­sprechung werden in St. Michaelis umfangreiche Umbaumaßnahmen vorgenommen, in deren Rahmen am Ende des 12. Jahrhunderts die Stuckausstattung (Nr. 44 u. 48) und bald danach die reich mit Inschriften versehene Bilderdecke (Nr. 65) entstanden sind. Ein großer Teil der Inschriften besteht nach wie vor aus Reliquienbezeichnungen (Nr. 32, 38, 40, 41, 42, 47 u. 52f.). Die wenigen in den Inschriften genannten Personen gehören noch ausschließlich den geistlichen Institutionen an: Neben den Bischöfen (Nr. 35, 45 u. 6971) und den Angehörigen des Domkapi­tels (Nr. 46 u. 71) sind die Äbte der Benediktinerklöster St. Michaelis (Nr. 31) und St. Godehard (Nr. 43 u. 59) namentlich bezeugt. Eine einzige Bauinschrift dokumentiert Bauarbeiten am Johannisstift (Nr. 71).

Im 14. Jahrhundert setzen gewisse Verschiebungen in der Inschriftenüberlieferung ein: Zum ersten Mal gewinnen die Grabschriften mit 26 von insgesamt 45 Texten einen erheblichen Anteil am Bestand. Neben den Angehörigen des Domkapitels, des Heilig-Kreuz-Stifts (sechs Grabschrif­ten) und des Kollegiatstifts St. Andreas sind jetzt auch zwei Mitglieder der ratsfähigen Hildesheimer Familien inschriftlich nachzuweisen: die 1301 verstorbene Offenia, Mutter des Bruno Insanus (Nr. 76), und der 1329 verstorbene Arnold von Minden (Nr. 84) sowie ein im Franziska­nerkloster St. Martini begrabener Angehöriger des Stiftsadels, Burchard von Steinberg (Nr. 103). Im Laufe des 15. Jahr­hunderts bis zur Reformation im Jahr 1542 nimmt der prosopographische Informations­wert der Inschriften stark zu, da die Zahl der überlieferten Grabschriften steigt und nun auch ver­mehrt die Ämter der Verstorbenen (besonders Nr. 319) genannt werden. Allerdings kommen nach wie vor nur die Angehörigen der geistlichen Institutionen vor, da aufgrund einer Überlieferungslücke (s. S. 41) die Grabinschriften für das städtische Bürgertum und für den Adel weitgehend fehlen.7) Auch die wenigen Inschriften auf bürgerlichen Stiftungen (Nr. 225, 252, 289, 296 u. 327) und die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts einsetzenden und seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts häufiger werdenden Hausinschriften (Nr. 177, 226, 236, 325f. u. 329) füllen diese Lücke nicht, zumal ein Teil auf die Kurien der Domherren entfällt (Nr. 216, 219, 220 u. 222f.). Während der Ablaß in einzelnen Inschriften direkt thematisiert wird (Nr. 240 u. 248), sind die Reformbemühun­gen des späten Mittelalters eher indirekt zu fassen: Eine Bildbeischrift aus St. Magdalenen bezeugt die Wiedereinführung des gemeinsamen Tisches (Nr. 153), einige Inschriften bewahren das Grün­dergedenken (Nr. 120, 130, 153, 218 u. 254), andere bezeugen die Erneuerung der Bausub­stanz (Nr. 214) und der Ausstattung (Nr. 182 u. 314). Aus dem nicht-monastischen Bereich stellt die Katechismustafel (Nr. 167) ein zentrales Zeugnis für das Bemühen um eine Verbesserung der reli­giösen Laienunterweisung dar. Insgesamt ist die Hildesheimer Inschriftenüberlieferung des späten Mittelalters durch eine beträcht­liche Zahl von Text-Bild-Programmen religiösen Inhalts (Nr. 109, 115, 137139, 141 u. a.) geprägt. Im Unterschied zu den gelehrten Tituli des 12. und 13. Jahr­hunderts bezeichnen die Beischriften dieser späteren Text-Bild-Ensembles die Darstellungen jedoch nur auf der Ebene des Litteralsinns oder geben dem Bild ein Zitat aus der Bibel bzw. aus einem Hymnus (Nr. 165, 206 u. 314) bei. Eine für die Hildesheimer Kirchen singuläre kontinuierliche Reihe von Bauinschriften und -daten (Nr. 105, 125, 135, 282 u. JZ 1504) dokumentiert den Umbau von St. Andreas zu einer gotischen Basilika in den Jahren von 1389 bis 1515.

Die Hildesheimer Stiftsfehde, das bedeutendste Ereignis der Hildesheimer Geschichte im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts, ist unmittelbar in den Grabinschriften (Nr. 300 u. 303) für zwei im Dienst des Bischofs gefallene Stiftsadelige präsent. Die Stiftsfehde dürfte wohl auch der Anlaß für die drei in den Jahren 1519–1521 gegossenen neuen Geschütze gewesen sein (Nr. 295 u. 301f.), wenngleich diese Inschriften die aktuellen kriegerischen Ereignisse nicht erwähnen. Anders verhält es sich in der Reformation: Die Einführung des neuen Glaubens wird in einer vom Rat veranlaßten Inschrift an der St. Andreas-Kirche jedermann zur Kenntnis gegeben (Nr. 339). In der Folgezeit sind einzelne Inschriften des Hildesheimer Bestands vom jeweiligen Bekenntnis ihrer Auftraggeber [Druckseite 16] geprägt. Die Stiftungsinschrift auf dem Dom-Lettner (Nr. 353) von 1546 ist im Sinne der Werk­gerechtigkeit formuliert, während die Inschriften auf der 1547 gegossenen Andreas-Taufe ein dem sola scriptura-Prinzip verpflichtetes Bibelverständnis deutlich machen (Nr. 358). Als die schärfsten Formulierun­gen der konfessionellen Selbstvergewisserung finden sich evangelischerseits das Bekenntnis zur rein warhafftig Gotes Lehr (Nr. 358) auf der Taufe in St. Andreas und die Umschrei­bung des Jahres 1546 „als der Papst den Krieg gegen die Evangelischen begann“ (Papa inferente bellum in Profitentes Evangelium Nr. 352) sowie das sogenannte Luther-Epitaph Pestis eram vivus ... als Unter­schrift zu einem nicht in Hildesheim entstandenen Luther-Porträt (Nr. 365). Auf katholischer Seite steht dem lediglich die Klage des Dechanten an Heilig Kreuz, Johannes Oldecop (Nr. 222), von 1549 gegen­über, der die eigene Zeit als tempus persecutionis bezeichnet. Als deutlicher Ausdruck der Gegen­reformation am Ende des 16. Jahrhunderts ist die Darstellung der Kirche als Spenderin der Gnade (Nr. 496) zu verstehen, allerdings eher in den Bildern als in den beigegebenen Texten. Ausdrückliche reformatorische Kampfsprüche wie Si Deus pro nobis quis contra nos oder Verbum Domini manet in eternum, die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in vielen südniedersächsischen Be­ständen wie Einbeck, Duderstadt, Göttingen und Braunschweig an den Häusern angebracht worden sind, fehlen in Hildesheim mit einer Ausnahme (Nr. 367). Stattdessen sind die Hildeshei­mer Hausinschriften dieses Zeitraums in auffallender Weise vom bürgerlichen Spät­humanismus geprägt (z. B. Nr. 177, 452, 467 u. 528). Viele der umfangreichen, meist mit Bildern kombinierten Programme greifen teils direkt auf antike Quellen zurück, teils rezipieren sie diese vermittelt über zeitgenössische Druckgraphik und Sprich­wörtersammlungen.8) Dieser Bestand, der nach Qualität und Umfang in der niedersächsischen Inschriftenüberlieferung singulär ist, verrät die Bildung, vor allem aber das Bildungsbewußtsein der städtischen Oberschicht. Die große Zahl der überlieferten Baudaten dokumentiert die rege Bautä­tigkeit von der zweiten Hälfte des 16. bis in die Anfänge des 17. Jahrhunderts und vermittelt den Ein­druck einer prosperierenden Stadt. Zusammen mit den quantitativ wesentlich schwächer überlieferten Grab- und Stiftungsinschriften ergeben die Texte aus der zweiten Hälfte des 16. Jahr­hunderts bis 1650 ein recht dichtes Geflecht von Informationen über die Angehörigen der städtischen Oberschicht und ihre familiären Beziehungen. In diesem Zeitraum sind zum ersten Mal die Inschriften, in denen Namen von Angehörigen der katholischen geistlichen Institutionen genannt sind, in der Minderzahl (100) gegenüber denen aus dem bürgerli­chen (152) und adeligen Milieu (23).9) Die Inschriften der Kanoniker an Heilig Kreuz und in besonde­rem Maße jene der Domherren enthalten reiches prosopographisches und genealogisches Material, das allerdings wenig Aufschlüsse über die Familien des regionalen Adels gibt, da nach der Reformation der überwiegende Anteil der Domka­pitulare aus Westfalen und aus dem Rheinland stammte.

Aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges sind nur einzelne Ereignisse wie die Einnahme der Stadt Hildesheim durch General von Pappenheim im Jahr 1632 auf einem Fenster in St. Michaelis inschriftlich festgehalten (Nr. 698). Eine Geschützinschrift aus dem Jahr 1647 erwähnt die neuerli­che Kriegsgefahr für die Stadt, und die im Nürnberger Friedensexekutionshauptrezeß formulierte Ergänzung zum Westfälischen Frieden im Jahr 1650 wird in einer Hausinschrift (Nr. 740A) thema­tisiert. Die allgemeine Befindlichkeit der Bevölkerung, die aufgrund der hohen Kontri­butionszah­lungen völlig verarmt und durch Krieg und Krankheit stark dezimiert war, läßt sich an den Inschriften hingegen nicht ablesen. Lediglich eine vom Rat an einem Stadttor angebrachte Bitte um Frieden von 1631 (Nr. 695) und die Grabschrift für den Kartäuserpater Matthias von 1635 (Nr. 701) lassen die Bedrängnis durch den Krieg erkennen. Indirekt ist die katastrophale Lage vielleicht noch daran ablesbar, daß das sogenannte „Pfeilerhaus“ von 1623 (Nr. 658) das letzte große Renais­sance-Fachwerkhaus im nachgewiesenen Bestand darstellt, sofern die Überlieferung ein zuverlässi­ges Bild von der Bautätigkeit vermittelt.

Zitationshinweis:

DI 58, Stadt Hildesheim, Einleitung, 2. Historisch-chronologischer Überblick (Christine Wulf), in: inschriften.net,  urn:nbn:de:0238-di058g010e006.

  1. Der Datenübersicht liegen folgende Arbeiten zugrunde: Reyer, Geschichte Stadt Hildesheim; Streich, Klöster, Stifte und Kommenden, S. 74–81; Hans-Georg Aschoff: Das Bistum Hildesheim von seiner Gründung bis zur Säkularisation. In: Kat. Ego sum, S. 11–29; Bertram, Bistum 1 u. 2, passim; Gebauer, Geschichte 1 u. 2; Borck, Bürger­schaft und Stadtregierung. »
  2. Goetting, Bistum Hildesheim, S. 37. »
  3. Streich, Klöster, Stifte und Kommenden, S. 75. »
  4. Vgl. Reyer, Geschichte Stadt Hildesheim, S. 53. »
  5. Ausführlicher befaßt sich mit diesen Texten Fidel Rädle: Philologische Bemerkungen zu den Hildesheimer Inschriften des 12. Jahrhunderts. In: Kat. Abglanz des Himmels, S. 233–235. »
  6. Aus der Zeit von 1400 bis 1542 sind für Bürger folgende Grabinschriften überliefert: Nr. 144, 193, 195 u. 232; für Angehörige adeliger Familien: Nr. 215, 285, 297, 300 u. 303f.  »
  7. Näheres dazu s. im Kapitel 5. 2. ‚Hausinschriften’ »
  8. Künstler- und Meistersignaturen sind nicht gezählt. »