Inschriftenkatalog: Landkreis Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 88: Landkreis Hildesheim (2014)

Nr. 115 Hannover, Niedersächsisches Landesmuseum, Landesgalerie 1. V. 16. Jh.

Beschreibung

Außenflügel und Predella eines Schnitzaltars.1) Lindenholz, bemalt. Der Altar stammt aus der evangelischen Kirche St. Johannis in Nordstemmen und wurde während des Neubaus der Kirche in den Jahren 1861/62 dem Welfenmuseum in Hannover verkauft. Von dort hat ihn die Landesgalerie im Jahr 1955 erworben.2) Auf beiden Außenflügeln in zwei Registern je zwei Heilige. Links oben Cyriakus und Martin, unten Sebastian und Katharina. Rechts Bernward mit dem unvollendeten Kreuz, dessen fehlendes Stück ein Engel heranträgt, und Elisabeth von Thüringen mit Äbtissinnenstab und Kirchenmodell,3) unten Nikolaus und Maria Magdalena. Inschrift A ist in Kontur auf die Borte am Halsausschnitt der Martinsfigur gemalt, zwischen den Buchstaben eine Raute. Inschrift B auf der Borte am Halsausschnitt des Gewandes der Katharina, hell auf dunklem Grund gemalt. Auf der Predella ist in der Mitte Christus als Schmerzensmann dargestellt, flankiert von den vier Kirchenvätern: links Augustinus und Gregor d. Gr. mit den Schriftbändern C und D, rechts Hieronymus und Ambrosius mit den Schriftbändern E und F. Die Inschriften C–F sind dunkel auf hellen Grund gemalt, die Initialen der Namen rot. In den Inschriften C–F sind u und v mit Häkchen versehen.

Maße: H.: 133 cm; B.: 132 cm (Retabel, geschlossen). H.: 49 cm; B.: 194 cm (Predella). Bu.: 0,7 cm (A, B), 2,4–2,8 cm (C–F).

Schriftart(en): Frühhumanistische Kapitalis (A, B), gotische Minuskel mit Versalien (C–F).

Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Sabine Wehking) [1/1]

  1. A

    Aa) · M

  2. B

    K·ATERI(NA)a)

  3. C

    Avgustin(us) · inspi=ce · vulnera · re(de)m=toris ·4)

  4. D

    Gregori(us) passio (christi)b) · ad · · me(m)oriam reuotet(ur)c)5)

  5. E

    IEro(ni)mus · passiod) tua · d(omi)ne · singvlare · e(st) · · reme=dium ·6)

  6. F

    Ambro(sius) noli · tantvm · aicitte=ree) · benefici=vmf)7)

Übersetzung:

Augustinus: Betrachte die Wunden des Erlösers. (C)

Gregorius: Das Leiden Christi soll ins Gedächtnis gerufen werden. (D)

Hieronymus: Dein Leiden, Herr, ist ein einzigartiges Heilmittel. (E)

Ambrosius: Gib nicht eine so große Wohltat preis. (F)

Kommentar

Gmelin schreibt den Altar der Werkstatt eines Hildesheimer Meisters zu.8)

Die Inschriften C–F sind Bestandteile einer im späten Mittelalter vor allem in Norddeutschland und Skandinavien weit verbreiteten Text-Bild-Kombination, die als Predellenbilder, aber auch in Wandmalereien überliefert ist.9) Im Zentrum steht der Schmerzensmann – oder die konsekrierte Hostie – umgeben von den vier lateinischen Kirchenvätern, deren Spruchbänder im Sinne der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit zur Meditation über das Leiden Christi auffordern. Die Betrachtung der Wunden Christi soll zur Heilung der durch die Sünde verursachten Wunden verhelfen. So empfiehlt der bedeutende spätmittelalterliche Theologe und Vertreter der Devotio moderna Gerhard Zerbolt van Zutphen in seinem Traktat ‚De spiritualibus ascensionibus‘, während der Messe als Erinnerung und Vollzug des Leidens Christi über die Passion zu meditieren.10) In diesem Sinne lenken die Inschriften, autorisiert durch die vier Kirchenväter, den Blick des zelebrierenden Priesters auf die Wunden des in der Mitte stehenden Schmerzensmannes.

Textkritischer Apparat

  1. A ohne Querbalken.
  2. Befund: xpi.
  3. reuotetur] Statt reuocetur.
  4. passio] o dünnstrichig und klein auf der Zeilenmitte.
  5. aicitte=re] Statt amittere.
  6. benefici=vm] m um 90° gedreht.

Anmerkungen

  1. Inventar-Nr.: WM XXIII,18. Ausführliche Beschreibung und Abbildung bei Gmelin, Spätgotische Tafelmalerei, Nr. 95, S. 329–332; s. a. Wolfson, Deutsche und niederländische Gemälde, Nr. 67, S. 180–182.
  2. Zur Geschichte des Altars vgl. Kdm. Kreis Alfeld II (Gronau), S. 176; Wolfson, ebd.
  3. Die Identifizierung der Figur folgt Franz Maulhard, Die Verehrung der heiligen Landgräfin Elisabeth von Thüringen in der Diözese Hildesheim in Kult und Bild. In: Unsere Diözese in Vergangenheit und Gegenwart. Zeitschrift des Vereins für Heimatkunde im Bistum Hildesheim 1931, Heft 1, S. 44, Abb. Tafel 3; ebenso Gmelin, Spätgotische Tafelmalerei, S. 330.
  4. Vgl. Augustinus, De sancta virginitate, Buch I, Kap. LIV, 55, hg. von Josephus Zycha (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum XXXXI). Prag u. a. 1900, S. 233–302, hier S. 300, Z. 16ff.: Inspicite vulnera pendentis, cicatrices resurgentis, sanguinem morientis, pretium credentis, commercium redimentis. – Für freundliche Hilfe bei den Textnachweisen danke ich Frau Dr. Christina Sandquist Öberg, Stockholm (s. a. Anm. 9).
  5. Der Text ist mehrfach in Verbindung mit Gregorius überliefert, geht aber wohl auf Ambrosius Autpertus zurück; vgl. Ambrosius Autpertus, Libellus de conflictu vitiorum atque virtutum, hg. von Robertus Weber OSB (Corpus christianorum Continuatio Mediaevalis 27B). Turnhout 1979, Kap. 9, S. 915: sed patientia respondet: Sic passio Redemptoris ad mentem reducitur, nihil tam durum est, quod non aequo animo toleretur.
  6. Der Text wurde Hieronymus zugeschrieben, die Quelle ist die 22. Predigt über das Canticum Canticorum von Bernhard von Clairvaux, vgl. Bernard de Clairvaux, Sermons sur le Cantique. Tom. 2 (Sermons 16–32), hg. von J. Leclercq/H. Rochais/Ch. H. Talbot (Sources Chrétiennes 431). Paris 1998, hier Sermo 22,8, S. 188: Passio tua ultimum refugium singulare remedium.
  7. Vgl. Ambrosius, Expositio psalmi CXVIII, hg. von Michael Petschenig (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 62/2). Wien 1999, S. 420, Kap. 18, 42: Noli tantum amittere beneficium, o homo.
  8. Zur Meisterfrage vgl. Gmelin und Wolfson (wie Anm. 1).
  9. Weitere Beispiele für dieses Inschriftenprogramm im Kontext der Darstellung des Schmerzensmannes zwischen den vier lateinischen Kirchenvätern: Corpus der mittelalterlichen Holzskulptur und Tafelmalerei in Schleswig-Holstein, hg. von Uwe Albrecht. Bd. 1: Hansestadt Lübeck, St. Annen-Museum. Kiel 2005, Nr. 83 Retabel der Lukasbruderschaft (Gemälde um 1490) mit Verweis auf die Predella des Stockholmer Storkyrka-Retabels von 1468, die dasselbe Text-Bild-Programm aufweist (S. 252). – Ebd., Bd. 2: Hansestadt Lübeck, Die Werke im Stadtgebiet, Nr. *22, S. 529–539 Schinkelretabel (1501), die Inschrift des Ambrosius weicht dort im Wortlaut, nicht aber inhaltlich, ab von den sonst in diesem Bildtyp belegten Texten: Ambrosius noli tantorum obliuisci beneficiorum. – Verkündigungsretabel (sog. Zaschendorfer Altar) in der Heiligen-Geist-Kirche zu Wismar (um 1500), vgl. Anna Elisabeth Albrecht/Stephan Albrecht, Die mittelalterlichen Flügelaltäre der Hansestadt Wismar. Kiel 1998, Abb. S. 81. – Gmelin, Spätgotische Tafelmalerei, weist drei weitere Predellen aus Norddeutschland mit diesem Bildtyp nach. Die Texte sind entweder übermalt oder nicht mehr lesbar: Nr. 16 (Dahlenburg, Lkr. Lüneburg, um 1490, Museum für das Fürstentum Lüneburg), Nr. 40 (Riestedt, Lkr. Uelzen, um 1520), Nr. 41 (Oetzen, Lkr. Uelzen, 1525–1530). – Gewölbe-Ausmalung der Härkeberga-Kirche bei Enköping (Uppland, Schweden); Gewölbe-Ausmalung der Yttergran-Kirche in Uppland (Schweden) – beide Arbeiten stammen von dem Maler Albertus Pictor aus Immenhausen (Hessen). Fotografien aus der Härkeberga-Kirche online unter: http://ica.princeton.edu/albertson/church.php?id=25, aus der Yttergran-Kirche unter: http://ica.princeton.edu/albertson/church.php?id=71 (letzter Zugriff auf beide Seiten am 19.11.2013); s. a. Christina Sandquist Öberg, Albertus Pictor Målare av sin tid II. Samtliga bevarade motiv ock språkband med kommentarer och analyser. Stockholm 2009 mit weiteren Nachweisen im Register der Spruchbänder (Språkbandsregister) S. 416–426, s. v. ‚Ambrosius‘, ‚Augustinus‘, ‚Gregorius‘, ‚Hieronymus‘.
  10. Vgl. Kurt Ruh, Die niederländische Mystik des 14. bis 16. Jahrhunderts (Geschichte der abendländischen Mystik Bd. 4). München 1999, hier Kap. 53. Zur Passionsmeditation im Medium des xylografischen Einblattdrucks vgl. Sabine Griese, Text-Bilder und ihre Kontexte. Medialität und Materialität von Einblatt-, Holz- und Metallschnitten des 15. Jahrhunderts. (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 7). Zürich 2011, S. 337–347.

Nachweise

  1. Gmelin, Spätgotische Tafelmalerei, S. 330, Abb. S. 331.
  2. Wolfson, Deutsche und niederländische Gemälde, S. 180f. (Abb.).

Zitierhinweis:
DI 88, Landkreis Hildesheim, Nr. 115 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di088g016k0011505.