Inschriftenkatalog: Landkreis Hildesheim

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 88: Landkreis Hildesheim (2014)

Nr. 8† Nettlingen, ev. Kirche St. Marien 4. V. 13. Jh.–1. V. 14. Jh.

Beschreibung

Glocke. Bronze. Sie wurde am 11. März 1970 beim Brand des Turms zerstört.1) Die Glocke ist erst in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach Nettlingen gekommen; dem Corpus Bonorum von 1805 zufolge wurde sie von „General von Wobersnow erbeutet und hiesiger Kirche verehret“.2) Zu ihrer Herkunft vgl. den Kommentar. Die Inschrift verlief unterhalb der Glockenschulter. Nach Mithoff waren die Buchstaben „nur in Umrissen dargestellt“, also in Kontur gegossen.3) Einzelne Buchstaben sind in ihrer Reihenfolge vertauscht, andere spiegelverkehrt ausgeführt. Nach HYMELRIKE ein Worttrenner in Form von drei übereinanderstehenden Punkten, sonst einzelne Hochpunkte. Unterhalb der Inschrift zwei Brakteaten.4)

Inschrift nach der 1:1-Zeichnung der Glockengießerei Radler, Hildesheim.

Maße: Dm.: 108 cm, Bu.: 5,5 cm.5)

Schriftart(en): Gotische Majuskel.

zitiert nach Kdm., Kreis Marienburg, S. 149. [1/1]

  1. : GOT · DORHCa) · DIN · CRVCEb) · VRONE · MITTEM · HYMELRIKE ·

Übersetzung:

Gott, heilige [oder schmücke] [uns] durch dein Kreuz mit dem Himmelreich.

Kommentar

Die Glocke wird in der Glockenforschung allgemein in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert.6) Dazu passen die schriftgeschichtlichen Charakteristika der Inschrift, die in einer detailgetreuen 1:1-Zeichnung überliefert ist: Sie zeigt geschlossenes unziales neben eckigem E, die C sind durchgehend offen mit ausgeprägten Sporen. M links geschlossen, T in kapitaler und runder Form. N ausschließlich in der runden Form mit Zierstrichen zwischen Schaft und Bogen. O und der links geschlossene Bogen des M mit halbkreisförmigen Ausbuchtungen an der Innenkontur, I beidseitig mit Halbnodi. Der Schaft des E und der Balken des H sind von Zierstrichen begleitet. In DORHC sind in D und C s-förmige Ornamente inseriert. Der obere Schrägbalken des K in HYMELRIKE ist zum Schaft zurückgebogen.

Die sprachliche Form der Inschrift ist charakterisiert durch eine Mischung von niederdeutschen und hochdeutschen Elementen. Dieser Befund deutet darauf hin, dass die Glocke nicht in Nettlingen entstanden ist, wo rein niederdeutsche Formen zu erwarten wären. Vielmehr dürfte sie tatsächlich – wie Walter ausführt7) – von dem Kriegsobersten Arnd von Wobersnow (1573–1621), der seit 1613 das Schloss Nettlingen besaß, als Kriegsbeute mitgebracht worden sein. Die Schreibsprache deutet auf die Herkunft aus einer weiter östlich gelegenen Region, vielleicht aus dem ostmitteldeutsch-ostfälischen Übergangsgebiet8) südöstlich des Harzes. Diese Region ist – wie die beiden edierten Inschriftenbestände der Landkreise Querfurt und Weißenfels belegen – reich an frühen Glocken, die allerdings keine deutschsprachigen Inschriften tragen.9)

Die vorgeschlagene Datierung auf den Zeitraum vom 4. Viertel des 13. bis zum 1. Viertel des 14. Jahrhunderts setzt die Inschrift auf der Nettlinger Glocke in die Reihe der frühesten deutschsprachigen Inschriften. In den niedersächsischen Beständen stammen die ältesten datierten niederdeutschen Inschriften aus dem Jahr 1324 vom Muthaus der Burg Hardeg in Hardegsen und von einem 1342 entstandenen Reliquienkreuz in der St. Albani-Kirche in Göttingen.10) In anderen Regionen lassen sich vereinzelt deutschsprachige Inschriften auch schon im 13. und frühen 14. Jahrhundert nachweisen, z. B. die Künstlerinschrift auf dem Grabdenkmal der Geva in Freckenhorst (Westfalen) aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts, die sogenannte Brotinschrift aus Oppenheim von 1317 oder die Meisterinschrift des Rudolf an der Pfarrkirche in Engen im Hegau aus dem 13. Jahrhundert.11)

Der Text erinnert, ohne dass eine konkrete Vorlage ermittelt werden konnte, an ein Totengebet. Hier spricht nicht, wie vielfach in Glockeninschriften belegt, die Glocke selbst, sondern sie versteht sich als tönende Übermittlerin des Gebets der Gläubigen.12)

Textkritischer Apparat

  1. Statt DORCH.
  2. CRVCE] Im zweiten C zwei Zierpunkte inseriert.

Anmerkungen

  1. Drömann, Glocken, S. 43.
  2. Zitiert nach Friedrich Spanuth, Geschichte von Gut und Schloß Nettlingen, Teil II. In: Beiträge zur Heimatgeschichte von Nettlingen, Heft 14, S. 15. Zu Arnd von Wobersnow vgl. Reden-Dohna, Rittersitze, S. 304.
  3. Mithoff, Kunstdenkmale Fürstenthum Hildesheim, S. 205.
  4. Durchreibung der Brakteaten innerhalb des Gutachtens der Glockengießerei Radler in Hildesheim, in: Archiv des Glockensachverständigen der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Andreas Philipp, Göttingen: Glockenakte Nettlingen.
  5. Maße und Schriftart nach Glockenakte Nettlingen (wie Anm. 4), darin: 1:1-Zeichnung der Glockengießer-Firma Radler, Hildesheim 1910.
  6. Walter, Glockenkunde, S. 200; Drömann, Glocken, S. 43; Gutachten der Glockengießer-Firma Radler in Hildesheim, in: Glockenakte Nettlingen (wie Anm. 4).
  7. Walter, Glockenkunde, S. 200.
  8. Für freundliche Hilfe bei der Einordnung der Schreibsprache danke ich Herrn Prof. Dr. Hans Ulrich Schmid (Universität Leipzig). – Hüpsel/Spanuth, Beiträge zur Heimatgeschichte von Nettlingen, Heft 2, s. v. ‚Die Glocken‘ halten die Glocke für eine Kriegsbeute aus Westfriesland.
  9. Vgl. DI 62 (Lkr. Weißenfels) mit sieben Glocken bis zum 1. Viertel des 14. Jahrhunderts; DI 64 (Lkr. Querfurt) mit 15 Glocken vor 1425. Der Inschrift auf der Nettlinger Glocke vergleichbare Buchstabentypen und Zierelemente weist u. a. eine aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts stammende Glocke in Gatterstädt (Stadt Querfurt, Sachsen-Anhalt) auf, vgl. DI 64 (Lkr. Querfurt), Nr. 21 mit Abb. 23.
  10. Vgl. Mithoff, Kunstdenkmäler Göttingen und Grubenhagen, S. 94; DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 5.
  11. Vgl. Neumüllers-Klauser, Schrift und Sprache in Bau- und Künstlerinschriften. In: Deutsche Inschriften, S. 62–81, hier S. 75 u. 77 mit Abb. 16 u. 22.
  12. Vgl. z. B. die Bitte in der Litanei für Verstorbene: „durch dein Kreuz und Leiden, Herr und Gott, befreie uns“.

Nachweise

  1. Archiv des Glockensachverständigen der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Andreas Philipp, Göttingen: Glockenakte Nettlingen, 1:1 detailgenaue Zeichnung der Glockengießerei Radler.
  2. Kdm. Kreis Marienburg, S. 149 (Zeichnung der Inschrift, entspricht der Zeichnung der Glockengießerei Radler in verkleinertem Format).
  3. Mithoff, Kunstdenkmale Fürstenthum Hildesheim, S. 205.
  4. Walter, Glockenkunde, S. 200.
  5. Drömann, Glocken, S. 43.

Zitierhinweis:
DI 88, Landkreis Hildesheim, Nr. 8† (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di088g016k0000805.