Inschriftenkatalog: Stadt Helmstedt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 61: Stadt Helmstedt (2005)

Nr. 77 Kollegiengebäude, Westflügel 1577?, 1695

Beschreibung

Turmportal. An der Ostseite des Gebäudes. Rundbogenportal, flankiert von Löwe und Greif, die das Gebälk des abgeflachten Dreieckgiebels tragen. Im zweigeschossigen Aufsatz unten Vollwappen, gehalten von zwei Wilden Männern, darüber in Rundbogennische Porträtbüste des Herzogs Julius zwischen vollplastischen Figuren der Gerechtigkeit und des Glaubens. Als Bekrönung Christus1) in Halbfigur mit der Weltkugel. Inschrift A beginnend am mittleren Gesims, fortgeführt an fünf Plätzen im Gebälk über der Rundbogentür, zunächst im Dreieck unter dem Giebel, dann jeweils zweimal links und rechts der in der Mitte eingebauten querrechteckigen Steintafel mit Inschrift B. Inschriften eingehauen und farbig gefaßt.

Maße: Bu.: ca. 3 cm (A), 3,5 cm (B).

Schriftart(en): Kapitalis mit Versalien.

Sabine Wehking [1/2]

  1. A

    REPARAT(VM) A(NNO) MDCXCVa) // MCERECI(ORE)b) / CHRISTOPH(ORO) TOB(IA) WIDENBVRGIO / S(ACRO)S(ANCTAE) THEOL(OGIAE) D(OCTORAN)DOc) MATHES(EOS) P(ROFESSORE) P(VBLICO) // GEORG(IO) EN=/GELBRECHT / I(VRIS) V(TRIVSQVE) D(OCTORE) P(ROFESSORE) P(VBLICO) // HENR(ICO) MEI/BOMIO MEDIC(INAE) / D(OCTORE) P(ROFESSORE) P(VBLICO) // AEDILIBVS // ACADEMIAE

  2. B

    HOC OPVS HAEC VIRTVS GENEROSI PRINCIPIS ARDENS PROQVE ARIS FERRVM PROQVE TENERE FOCIS2) HOSPITAQVE INGENVIS APERIRE PALATIA MVSIS ET DARE LAVRIGERO PRAEMIA DIGNA CHORO ET RECTIS PRETIVM DOCTRINIS PONERE IVSTVM CVNCTA EA DIGNA PIO PRINCIPE GRATA DEO

Übersetzung:

Wiederhergestellt im Jahre 1695 unter dem Vizerektor Christoph Tobias Wideburg, Doktorand der hochheiligen Theologie, öffentlichem Professor der Mathematik, unter den akademischen Bauverwaltern Georg Engelbrecht, Doktor beider Rechte und öffentlichem Professor, und Heinrich Meibom, Doktor der Medizin und öffentlichem Professor. (A)

Dies ist das Werk, dies das leidenschaftliche Bemühen des hochherzigen Fürsten, vor Altäre und Herde (schützend) das Schwert zu halten, den edlen Musen gastliche Wohnsitze zu öffnen, Mittel bereitzustellen, die für die lorbeerbekränzte Musenschar angemessen sind, und für die rechten wissenschaftlichen Lehren einen gebührenden Preis auszusetzen – alles dies ist des frommen Fürsten würdig und Gott genehm. (B)

Versmaß: Elegische Distichen (B).

Wappen:
Julius Herzog zu Braunschweig und Lüneburg3)

Kommentar

Beide Inschriften haben fast reinen Kapitalisbestand. Gemeinsame Abweichungen sind N mit leicht geschwungenem Schrägbalken und unziales G. Seine Cauda ist in Inschrift A unterhalb der Zeile nach links unter den Bogen gezogen, in Inschrift B steht unziales G in den drei Fällen, in denen es dort neben kapitalem G vorkommt, in ähnlicher Ausführung auf der Zeile. Eine Eigentümlichkeit, die nur Inschrift B aufweist: M erscheint teilweise mit schrägem linken Schaft und immer mit auf die Grundlinie herabgezogenem Mittelteil, während der Mittelteil des M in Inschrift A stets hoch über der Mittellinie endet. Darüber hinaus weist Inschrift B keilförmige Verbreiterungen der Schäfte und Balken auf, im Gegensatz zur einheitlichen Strichstärke in Inschrift A. Diesen Besonderheiten stehen Gemeinsamkeiten in den Proportionen und in der Ausführung der Ligaturen gegenüber, die auf ein einheitliches Gesamterscheinungsbild beider Inschriften hinwirken.

Der Figurenschmuck am Treppenturm des westlichen Kollegienflügels geht in seinen älteren Kalksteinteilen, so mit dem Relief des Herzogs Julius, auf das Jahr 1577 zurück4). Bei der durch Inschrift A mitgeteilten Renovierung von 1695 soll es sich um „eine fast vollständige Erneuerung des alten, noch aus Julius’ Zeit stammenden Portals in Sandstein“ handeln5). Es stellt sich die Frage, in welchem Bauzusammenhang die undatierte Inschrift B entstanden ist. Ihre Themen – die Pflichten des pius princeps gegenüber den Musen und seine Sorge um die recta doctrina – führen zurück in die Ideenwelt der Universitätsgründungszeit. Eine Gründungsinschrift dieses Tenors hatte 1577 ihren natürlichen Platz am Portal des damals neu errichteten Universitätsgebäudes. Nachdem dieses durch den Bau des Juleum Novum an repräsentativer Bedeutung verloren hatte, erscheint eine Würdigung des Gründungsaktes Ende des 17. Jahrhunderts an diesem unter den Universitätsbauten inzwischen zweitrangigen Ort verspätet bzw. dem Gründer nicht angemessen. Anzunehmen ist, daß die Restauratoren von 1695 nicht nur das Relief des Universitätsgründers Herzog Julius erhalten haben, sondern auch die Tafel mit der seine Motive reflektierenden Inschrift bereits vorfanden, beibehielten und sich bei der neu zu setzenden Bauinschrift von 1695 um Angleichung des Schriftbildes an das der vorgefundenen Inschrift bemühten, dies mit eingeschränktem Erfolg. Auch die Anordnung der Inschrift A von 1695 um die Tafel mit Inschrift B spricht für diese Vermutung. Klarheit könnte eine Analyse des Steins der Platte – ob älterer Kalk- oder jüngerer Sandstein – bringen.

Zu den genannten Amtsträgern: Christoph Tobias Wideburg (1647–1717, zur Familie vgl. den Grabstein seines Bruders Nr. 338) führte während seines Vizerektorates im zweiten Semester 1695 (Juli 1695 bis Januar 1696) den Titel Doctorandus6).

Zu Georg Engelbrecht und Heinrich Meibom vgl. Nrr. 410 und 355.

Textkritischer Apparat

  1. Neulateinische Zahlzeichen.
  2. MCERECI(ORE)] Falsch restauriert aus VICERECT(ORE).
  3. D(OCTORAN)DO] D(OCTORE) Böhmer, Uffenbach, et do Meier. Ihm folgt Brosche. Vgl. dazu Kommentar.

Anmerkungen

  1. So Meier, Kunstdenkmäler, S. 86. Anders, nämlich Gottvater, Dehio, Bremen/Niedersachsen, S. 454.
  2. PROQUE ARIS .. PROQVE FOCIS nach Cicero, De natura deorum 3, 94 pro aris et focis, vgl. Walther, Proverbia 9, Nr. 39733. Das Zitat auch als Devise zweier Kriegerfiguren des 16. Jahrhunderts vor dem 1819 abgerissenen Hagentor in Hildesheim und in einer nicht mehr erhaltenen Inschrift von 1638 über der Tür der „18-Mann-Stube“ im Hildesheimer Rathaus, vgl. DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 286 und Nr. 705.
  3. Wappen Julius Herzog zu Braunschweig und Lüneburg: quadriert: 1. Braunschweig (zwei Leoparden), 2. Lüneburg (Löwe), 3. Everstein (Löwe), 4. Homburg (Löwe). Vgl. Siebmacher, Wappenbuch, Bd. 1, 1. Abt., ND Bd. 1, S. 26ff.
  4. Vgl. dazu und zu dem die Bauplastik ausführenden Künstler Adam Liquier H. H. Möller, Das Juleum in Helmstedt. In: Nieders. Denkmalpflege Bd. 6, 1965–69, S. 204.
  5. Meier, wie Anm. 1.
  6. Matrikel Helmstedt, Bd. 3, S. 41. Er hatte am 20. Juni 1695 pro licentia disputiert. Seine feierliche Promotion zum Doktor der Theologie fand erst 1697 statt, vgl. Programma memoriae .. Christophori Tobiae Wideburgii, Helmstedt o. J. (1717). – Wesentliche Anregungen bei der Kommentierung der Inschrift entnahm die Bearbeiterin dem Artikelentwurf von Frau Dr. Ute Mennecke-Haustein, Jena.

Nachweise

  1. Böhmer, Inscriptiones, S. 137f.
  2. Uffenbach, Reisen, S. 186f.
  3. Meier, Kunstdenkmäler, S. 86.
  4. K. Brosche, Was die Steine künden. In: Helmstedter Mittelschul-Zeitung Nr. 5, 1958, S. 6f.

Zitierhinweis:
DI 61, Stadt Helmstedt, Nr. 77 (Ingrid Henze), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di061g011k0007707.