Inschriftenkatalog: Stadt Helmstedt
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 61: Stadt Helmstedt (2005)
Nr. 2 St. Ludgeri / Wolfenbüttel, Braunschweigisches Landesmuseum 1174–1183
Beschreibung
Fragmente eines Schmuckfußbodens. Gips mit Inkrustierungen. Inkrustierung: Gips mit Holzkohlebeimengung (schwarz) bzw. Ziegelmehlbeimengung (rot). Im Vorraum zur Felicitaskrypta. Der Fußboden wurde 1886 bei Bauarbeiten in der Kirche freigelegt1). Zwei große Estrichteile mit den Inschriften A1, B1, F1, G1, A2B2, F2G2 und H–L verblieben in Helmstedt. Einige Fragmente befinden sich im Braunschweigischen Landesmuseum, Abteilung Vor- und Frühgeschichte, Wolfenbüttel2). Bei Wiederaufbaumaßnahmen in der 1942 abgebrannten Kirche fanden sich 1948 weitere, soweit bekannt, unbeschriftete Bruchstücke3). Ihr Verbleib ist ungeklärt4). Aus einer 1896 von Meier veröffentlichten Zeichnung5), die einer wohl gleichzeitig angefertigten, zweifarbigen Pause6) (vgl. Abb. 6 und 8) entspricht, sowie einer von Meier mit Ergänzungen versehenen Textwiedergabe wird deutlich, daß der lesbare Wort- und Buchstabenbestand sich seitdem erheblich vermindert hat.
Der Schmuckfußboden hatte die Form eines T, das mit seinem Deckbalken in einer Breite von ca. 9,40 m und einer Tiefe von ca. 2,10 m vor dem mittelalterlichen hohen Chor lag und mit seinem 7 m breiten Schaft tief in das Mittelschiff der wohl nach der Mitte des 11. Jahrhunderts errichteten Kirche reichte. Bei einer Verlängerung des hohen Chors zum Mittelschiff hin überbaute man später den Querteil des vor dem Chor liegenden Schmuckfußbodens. Diese Baumaßnahme muß nach der geringen Abnutzung des Fußbodens vor dem Chor recht früh vorgenommen worden sein. In der Mitte hatte man zudem aus der unter dem Chor befindlichen Krypta einen allmählich ansteigenden Gang nach Westen angelegt, der sich bei der neuen Chortreppe gabelte und in zwei Armen hoch in das Schiff führte. Dadurch wurde der Schmuckfußboden im mittleren Bereich zerstört7). Im Geröll dieses tonnengewölbten Ganges kam es 1948 zu den oben genannten weiteren Funden. Von der Verlängerung des Estrichs nach Westen in das Mittelschiff hinein war 1896 nach der Zeichnung von Meier nur noch ein kleines, sich an den Querteil anschließendes Stück rekonstruierbar. Die fest im Boden befindlichen Teile des Estrichs wurden zunächst an ihrem ursprünglichen Platz, 1,70 m unter dem heutigen Fußbodenniveau, über eine Falltür zugänglich gemacht. Nach 1948 zeigte man sie in der Felicitaskrypta, dort vertikal in die Westwand eingefügt. Die jetzige Präsentation im Vorraum zur Felicitaskrypta bietet den Fußboden in der Horizontalen unter Glas.
Dargestellt sind bzw. waren im Querteil die Sieben Weisen, gekennzeichnet durch waagerechte Namenbeischriften zu beiden Seiten der Köpfe, von links nach rechts Pittakos von Mitylene (A1), Solon von Athen (B1), Kleobulos von Lindos (C1), Thales von Milet (D1), Chilon von Sparta (E1), Bias von Priene (F1) und Periander von Korinth (G1). Erhalten sind jeweils die beiden äußeren Paare. Die Figuren sind einander leicht zugewendet und über je ein Frage- und ein Antwortband in einem Dialog verbunden, also Pittakos mit Solon durch die Inschriften A2B2 links, Bias mit Periander durch die Inschriften F2G2 rechts. Das Spruchband in ihrer linken Hand enthält jeweils die eigene Frage, das der rechten Hand die Antwort auf die Frage des Dialogpartners. Frage und dazugehörige Antwort sind in der gleichen Farbe, rot oder schwarz, gearbeitet. Die mittleren drei Figuren hat Meier nach den damals noch vorhandenen Inschriftenresten so angeordnet, daß Kleobulos und Chilon ein Dialogpaar (C2E2) bildeten, während der dazwischenstehende Thales auf seine Frage die Antwort selbst auf seinem zweiten Spruchband (D2) gab8). Der Schmuckfußboden ist nach außen doppelt gerahmt: Auf eine innere schmale Leiste mit den Inschriften H–J folgt ein breiter Streifen mit floralen Ornamenten und Tierdarstellungen in den Eckquadraten. Die Inschriften H–J sind von innen zu lesen und überlaufen die rechtwinkligen Ecken. Sie sind folgendermaßen angeordnet: Inschrift H am nördlichen Rand des Mittelschiffteils und am westlichen des Querteils, Inschrift I an beiden Schmalseiten und an der östlichen Längsseite des Querteils, Inschrift J symmetrisch zu H auf der südlichen Seite. Die Abgrenzung des Querteils vom Mittelschiffteil erfolgt durch einen dreifach unterteilten Streifen. Darin rahmen zwei schmalere Inschriftenleisten ein Band mit Tierdarstellungen. Die Inschriften hier sind vom Mittelschiff her zu lesen, in der östlichen Leiste Inschrift K, in der westlichen Inschrift L. Im nach Westen sich fortsetzenden Mittelschiffteil befand sich nach der Zeichnung von Meier nördlich eine männliche Figur, die in der Linken den Beginn eines Spruchbandes mit Inschrift M hielt. Ihr ordnet er in Kopfhöhe ein Spruchband mit Inschrift N zu. Südlich, jenseits der zerstörten Mitte, hat Meier nur noch einen Kopf plaziert. Ein zu Meiers Zeit erhaltenes Spruchband mit einer Antwort (O) weist er ohne genaue Ortsangabe dem Mittelteil zu. – Die Sieben Weisen sind mit Bärten und Kappen dargestellt. Die Figuren des Mittelteils trugen nach Meier keinen Bart und waren barhäuptig. Im Braunschweigischen Landesmuseum in Wolfenbüttel befinden sich einige Gesichtsfragmente, die wohl diesem Teil des Fußbodens zuzuorden sind.
Als Überlieferungsbefund läßt sich festhalten: 1. die erhaltenen Teile des Fußbodens, 2. die der Zeichnung Meiers weitgehend entsprechende zweifarbige Pause, deren Textbestand über die erhaltenen Teile des Fußbodens hinausgeht, 3. die wiederum zusätzlichen Text bietende und mit Ergänzungen versehene Textwiedergabe Meiers. Die Edition bildet diesen Überlieferungsbefund folgendermaßen ab: Außerhalb der Klammern steht in den Inschriften A1, B1, F1, G1, A2B2, F2G2, H, I, J, K, L der erhaltene Text, in eckigen Klammern stehen die Ergänzungen nach der Pause. Die verlorenen Inschriften M und N sind nach der Pause wiedergegeben, in eckigen Klammern steht die Ergänzung nach der Textwiedergabe Meiers. Die von Meier nur in Textform wiedergegebenen verlorenen Inschriften C1, D1, E1, C2E2, D2, O bieten in den eckigen Klammern die Ergänzungsvorschläge von Meier.
Inschriften nach dem Original, ergänzt nach Pause (A1, B1, F1, G1, A2B2, F2G2, H, I, J, K, L). Inschriften nach Pause (M, N). Inschriften nach Meier, Textwiedergabe (C1, D1, E1, C2E2, D2, O), einzelne Buchstaben nach erhaltenen Fragmenten bzw. der Invent
Maße: B.: ca. 220 cm (linkes Fragment), ca. 215 cm (rechtes Fragment); T.: ca. 210 cm (Querteil, ohne Bruchstücke des Mittelschiffteils); Bu.: 4–6 cm, 7 cm (I).
Schriftart(en): Romanische Majuskel.
- A1
PITACVS · a) MILITENVS +
- B1
SOLON · ATHENIENSI[S.+.]b)
- C1 †
[CLEOBV]LVS LI[NDIVS]
- D1 †
TALES MILE[SIVS]
- E1 †
[PLINION SP]ARTANVSc)
- F1
[ + B]IAS · a) PIENCVSd) +
- G1
PERIANDER · CORINTHIVSe)
- A2B2
QVIS · DIVES · // QVI · NI[L] · CVPIET · // QVIS · PAVPER · // AVARVS · 9)
- C2E2†
QV[I]D [STV]LTI [PROPRIVM] // VEL[LE ET] NON PO[S]SE · NOCE[RE]f) // PERNICIES · HO(MIN)Ig) · QVE [M]AXIMA // SOLVS HOMO ALTERh)
- D2 †
[QVO]D PRVD[ENT]IS OP[VS] // [CVM POSSI]T NO[LL]E NOCERE
- F2G2
QVE · DOS · MATRONIS PVLCHERRIMA · // VITA · PVDICA · // QVE · CASTA · EST · // DE · QVA · MENTIRIi) · [FAMA · VERETVR · ]
- H
[ – – – ] [FVG]A//TVRj)
- I
[+ CHRISTOk) · PS]//ALLENT[ES]l) [ – – – ] [ – – – ]ITE · MEN//[TES +m)]
- J
TALI // [SE – – – ]n)
- K
QVICQ[VID – – – ] [ – – – S I]STIC +
- L
+ ASSID[VI]o) [ – – – ] [ – – – ONO]RI · Sp) +m)
- M †
QV[ – – – ]
- N †
[ – – – C]ORq) · SVPERBVM
- O †
[ – – – A]NIMA PECCATRIX
Übersetzung:
Wer ist reich? Der nichts begehrt. Wer ist arm? Der Habsüchtige. (A2B2)
Was kennzeichnet den Dummen? Schaden stiften zu wollen, aber nicht zu können. Was ist das größte Verderben für den Menschen? Allein der andere Mensch. (C2E2)
Was ist die Aufgabe des Klugen? Nicht schaden zu wollen, obwohl er es vermag. (D2)
Welches ist die schönste Mitgift für die Frauen? Ein sittsames Leben. Welche Frau ist keusch? Die, über die Lügen zu verbreiten sich die Klatschsucht fürchtet. (F2G2)
[...] wird in die Flucht geschlagen. (H)
Ein stolzes Herz. (N)
Eine sündige Seele. (O)
Versmaß: Hexameter (A2B2–F2G2), zweisilbig leoninisch gereimt. (I).
Textkritischer Apparat
- Hier Kopf.
- Nach ATH Kopf.
- [PLINION SP]ARTANVS] [CHILO SP]ARTANVS Meier, Textwiedergabe, S. 25. Unter den nicht zuweisbaren Fragmenten überliefert Meier, Textwiedergabe, S. 27 außerdem mit dem Zusatz „in freiem Feld, unter einem Abschlußstrich: . . . olon † plinionsp (!).“ Die Ps.-Ausonius überliefernden Handschriften Vindob. 2521, Bl. 42r, Vorauensis 111, Bl. 51v und Clm 14506, Bl. 73r (vgl. dazu Kommentar und Anm. 28) bieten als Namensform für Chilon von Sparta plinius spartanus bzw. Pylion spartanus. Meier kannte diesen Überlieferungszweig des Ps.-Ausonius nicht und hat daher das ihm vorliegende Fragment plinionsp nicht als Namensvariante zu Chilon von Sparta erkannt. Das nach Meier plinionsp vorangehende . . . olon kann in diesem Zusammenhang nicht untergebracht werden. Von SPARTANVS ist die Endung NVS als IVS auf der Pause und der Zeichnung von Meier vor BIAS, der nach rechts anschließenden Figur, wiedergegeben worden. Meier hat hier den rechten Schaft des N als I gedeutet.
- PIENCVS] Die Form ist in den Handschriften zu Ps.-Ausonius nicht nachweisbar. prienicus Vindob. 2521, Bl. 42r, brieneus Clm 14506, Bl. 73r.
- Nach COR Kopf.
- PO[S]SE · NOCE[RE]] SE · NO nach Weigel 1999 auf einem erhaltenen Fragment im Braunschweigischen Landesmuseum, vgl. ders., Helmstedter Schmuckfußboden, wie Anm. 15, S. 202. Nicht auf einem der Steine, die der Bearbeiterin bei ihrem Besuch am 11. 11. 2003 gezeigt worden sind, und nicht genannt auf der Inventarkarte des Museums VM 5767 in der Auflistung des Erwerbs aus Jerxheim, wie Anm. 2.
- PERNICIES · HO(MIN)I] S · HOI auf zwei erhaltenen Fragmenten im Braunschweigischen Landesmuseum. Nicht genannt auf der Inventarkarte des Museums VM 5767 in der Auflistung des Erwerbs aus Jerxheim, wie Anm. 2.
- HOMO ALTER] Davon O HLTER (für O ALTER) zusammen mit dem rechten Schaft des dem O vorangehenden M auf der Inventarkarte des Museums VM 5767 unter i) transkribiert.
- MENTIRI] I verkleinert unter Deckbalken des T gestellt.
- Reste eines rechten Schrägschaftes eines V auf einem Steinfragment im Braunschweigischen Landesmuseum sind nach ihrer ornamentalen Umgebung möglicherweise identisch mit dem ersten V aus FVGATVR und dem auf der Inventarkarte des Museums VM 5767 unter g) als erhalten genannten Buchstaben V.
- XPO Pause. Kürzungszeichen: Balken durch den Schaft des griechischen Rho.
- [PS]//ALLENT[ES]] Schluß-S ergänzt nach Meier, Textwiedergabe, S. 27.
- In den vier Winkeln des Kreuzes nach der Pause je ein Punkt.
- TALI // [SE – – – ]] TALI//[S E – – –] Meier, Textwiedergabe, S. 27, Weigel. Der gleichmäßige Buchstabenabstand läßt beide Worttrennungen möglich erscheinen. Das E nur auf Zeichnung Meier, nicht auf Pause.
- ASSID[VI]] Meier, Textwiedergabe, S. 27 hat zu ASSIDVI[S] ergänzt.
- [ – – – ONO]RI · S] Meier, Textwiedergabe, S. 27 hat den Punkt unbeachtet gelassen und zu [S]ONORIS ergänzt.
- [C]OR] C ergänzt nach Meier, Textwiedergabe, S. 27.
Anmerkungen
- Vgl. Helmstedter Kreis-Blatt vom 25. 9. 1886, Lokales: „Ein höchst interessanter Fund wurde in diesen Tagen bei den Ausgrabungen im Innern der Kirche zu St. Ludgeri gemacht. Man fand nämlich eine Menge Überreste von einem romanischen Fußboden, bestehend aus Gyps mit Einlagen von rothen und gelben Farben. Die Sachen sind sehr werthvoll; man hofft die ganzen Bestandttheile des Fußbodens wieder zusammen zu finden“. Frdl. Hinweis von Herrn Stadtarchivar H.-E. Müller. – Die jetzige Beschriftung am Fußboden mit der Angabe des Fundjahres „1896“ sollte entsprechend geändert werden.
- Das genannte Museum scheint zu verschiedenen Zeiten Zugänge gehabt und Verluste erlitten zu haben. Der Bearbeiterin wurden bei ihrem Besuch im Museum am 11. 11. 2003 sechsundzwanzig Fragmente gezeigt. Einige sind aus Einzelteilen zusammengesetzt. Drei Fragmente tragen Buchstabenreste, die sich bekannten Inschriften zuordnen lassen (vgl. Anm. g und j), auf einem vierten Fragment befindet sich ein nach seinen Resten als P deutbarer Buchstabe, der nach seiner ornamentalen Umgebung zu einer Randinschrift gehört. Nach der Inventarkarte VM 5767 hat das Museum 1910 vierundfünfzig Bruchstücke in Jerxheim, Landkreis Helmstedt, erworben. Darunter haben sich laut Abschrift auf der Inventarkarte heute verlorene Teile von C2E2 befunden (vgl. Anm. h), die auch Meier 1896 gesehen hat. Nicht unter den Jerxheimer Fragmenten notiert sind bis in die jüngste Zeit bzw. bis heute im Museum aufbewahrte Teile von C2E2 (vgl. Anm. f und g). Sie waren Meier ebenfalls bekannt. Das Museum hat also außer 1910 in Jerxheim auch zu einem anderen Zeitpunkt, vermutlich bereits im Zusammenhang mit der Ausgrabung 1886, Fragmente des Fußbodens erworben, seinen Bestand aber später nicht halten können. – Für freundlich gewährte Auskunft dankt die Bearbeiterin Herrn W.-D. Steinmetz M. A., Wolfenbüttel, Braunschweigisches Landesmuseum, Abteilung Vor- und Frühgeschichte. – Eine Kurzzusammenfassung der Inventarkarteiauflistung findet sich bei S. Codreanu-Windauer, Der romanische Schmuckfußboden in der Klosterkirche Benediktbeuern, München 1988 (Arbeitsheft 36, Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege), S. 51, Anm. 265.
- Vgl. dazu den Bericht des Ausgrabungsleiters R. Wesenberg, Neue Ausgrabungen zur mittelalterlichen Baugeschichte, Kunstchronik 2,2, 1949, S. 36.
- So schon Codreanu-Windauer, wie Anm. 2, S. 38.
- Meier, Kunstdenkmäler, S. 26.
- Die zweiteilige, der originalen Größe des Fußbodens entsprechende Pause ist in Leinen, auf Holzrahmen gespannt, gearbeitet und bemalt. Sie befindet sich im Besitz der Kirchengemeinde St. Ludgeri, Helmstedt.
- Vgl. die immer noch gültige Darstellung der Bausituation bei Meier, Kunstdenkmäler, S. 20, S. 25.
- H. Kier, Der mittelalterliche Schmuckfußboden unter besonderer Berücksichtigung des Rheinlandes, Düsseldorf 1970 (Die Kunstdenkmäler des Rheinlandes, hg. von R. Wesenberg, Beiheft 14), S. 99f., hier S. 100, hält die Rekonstruktion von Meier nicht für „unbedingt stichhaltig“, da bei einem Spielraum von 90 cm pro Figur und einer Gesamtbreite von 9,40 m in der Mitte Platz für weitere Figuren gewesen sei. Codreanu-Windauer, wie Anm. 2, S. 38 will nach der Zahl von vorhandenen bärtigen Kopffragmenten mit Kopfbedeckung nicht ausschließen, daß neun Weise dargestellt waren. Dies erscheint nach der Dominanz der Siebenzahl in der quellennahen Literatur (vgl. Kommentar) – von neun Weisen ist nirgendwo die Rede – eher unwahrscheinlich. Möglicherweise hat es in der Mitte eine ausladendere Figurendarstellung oder auch ornamentale Zutaten gegeben.
- Dieser und die folgenden fünf Hexameter sind in anderer Reihenfolge im Anhang zu den Werken des spätantiken Dichters Ausonius anonym überliefert. Der Text dort lautet nach K. Schenkl in Monumenta Germaniae Historica, Auctores antiquissimi V,2, Berlin 1883, S. 246–247 SEPTEM SAPIENTVM SENTENTIAE SEPTENIS VERSIBVS EXPLICATAE 1,1–7 BIAS PRIENEVS. (1.) Quaenam summa boni est? mens quae sibi conscia recti. (Dieser Vers ist in Helmstedt nicht übernommen worden). / (2.) pernicies homini quae maxima? solus homo alter. / (3.) quis dives? qui nil cupiet. quis pauper? avarus. / (4.) quae dos matronis pulcherrima? vita pudica. / (5.) quae casta est? de qua mentiri fama veretur. / (6.) quod prudentis opus? cum possit, nolle nocere. / (7.) quid stulti proprium? non posse et velle nocere. Zur Verarbeitung des Textes in den Inschriften vgl. den Kommentar.
- Datierung nach DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 34 und Nr. 37. Schriftbeschreibung ebenda. Abb. Nr. 28–31.
- Datierung nach Kier, wie Anm. 8, S. 95. Eine Schriftbeschreibung fehlt. Abb. bei Kier, Nr. 145.
- Datierung nach Codreanu-Windauer, wie Anm. 2, S. 32. Schriftbeschreibung ebenda, S. 12, S. 15, S. 32. Mehrere Abb.
- Datierung nach U. Lorenz, Der spätromanische Schmuckfußboden aus der ehemaligen Benediktiner-Klosterkirche zu Nienburg an der Saale. Dissertation der Karl-Marx-Universität Leipzig 1990, als Typoskript vervielfältigt, Exemplar der Universitätsbibliothek Leipzig, Sign. 90-2-492, S. 99. Schriftbeschreibung S. 51ff., S. 99f. Mehrere Abb.
- Für die Grundformen der Buchstaben bei den Fußböden Hildesheim (Domvierung), Erfurt, Helmstedt und Benediktbeuern bereits von Wulf, DI 58 (Stadt Hildesheim), Nr. 34 festgestellt.
- Zur Datierung: T. Weigel, Der Helmstedter Schmuckfußboden mit den Sieben Weisen. In: Kat. Jahrtausend, S. 197ff., hier S. 200; ders., Kat. Jahrtausend, Nr. 27, S. 328 „ca. 1170–1185“; ders., Der ehemalige Schmuckfußboden der Chorapsis des Hildesheimer Domes. In: Kat. Ego sum, S. 123ff., hier S. 137 „ca. 1179/80“ mit Anm. 142: „Die hier vorgeschlagene, von der bisher gängigen Datierung abweichende Neudatierung wird in einer demnächst erscheinenden umfangreichen Studie ausführlich von mir begründet werden“. Die Publikation der weitgehend fertiggestellten Studie wurde von Herrn Dr. T. Weigel, Münster, in einem Telefonat mit der Bearbeiterin am 18. 6. 2003 erneut in Aussicht gestellt; Meier, Kunstdenkmäler, S. 25 mit S. 10 und S. 22; Kier, wie Anm. 8, S. 51: „Der vermutlich älteste uns bekannte Estrich ist der .. von Helmstedt“. Kier waren die beschrifteten Fußböden aus der Hildesheimer Domvierung und aus Benediktbeuern nicht bekannt. Der Hinweis auf die Niellotechnik und Helmarshausen zuerst bei Kier, wie Anm. 8, S. 50f.
- Zu Abt Wolfram vgl. Stüwer, Reichsabtei Werden, S. 318f. Seine Herkunft ist ungeklärt, vgl. Strauß, Stiftung und Herrschaft, S. 127. Zur Amtszeit Wolframs vgl. Strauß, Marienberg, S. 27. Zum Komplex Gründung von St. Marienberg ausführlich mit kritischer Quellenbewertung Strauß, Marienberg, S. 25ff. Mögliche Motive des Abtes Wolfram für die Gründung von St. Marienberg in Helmstedt diskutiert Strauß ebenda, S. 31f.
- Zu den Äbten Wilhelm I. und Adolf I. vgl. Stüwer, Reichsabtei Werden, S. 316ff.; zu den Italienzügen aller drei genannten Äbte vgl. ebenda, S. 146.
- Die Stiftungen und Fundierungen Wolframs in Helmstedt bei Stüwer, Reichsabtei Werden, S. 318f. mit dem Fazit „Er scheint eine besondere Vorliebe für Helmstedt gehabt zu haben“.
- Lutz, Marienberg, S. 29.
- Nach Kier, wie Anm. 8, S. 138 hat es sich um einen ornamentierten Mosaikfußboden aus Marmor und Ziegelplättchen gehandelt, der wohl 1066–1081 entstanden ist.
- LCI 4, Sp. 496 nennt als weiteres Beispiel ein Feld des Fußbodens der Kathedrale von Siena aus dem Jahre 1505. Dort sind allerdings nicht die Sieben Weisen dargestellt, sondern die beiden nichtkanonischen Weisen Krates und Sokrates, die in Helmstedt nicht vertreten sind, vgl. B. Santi, Der Marmorboden des Doms von Siena, Florenz 1993, S. 14 mit Abb. S. 25.
- Vgl. RE 2. Reihe, 2. Bd., Art. „Sieben Weise“, Sp. 2242–2264, hier Sp. 2244.
- Klemens, Stromata 1,14 (59),1–3. Auf die Rolle von Klemens bei der Rezeption der Sieben Weisen im Mittelalter weist E. Klemm, Artes liberales und antike Autoren in der Aldersbacher Sammelhandschrift Clm 2599, in: Zs. für Kunstgeschichte 41, 1978, S. 1ff., hier S. 6, hin.
- Vgl. dazu W. Brunco, Zwei lateinische Spruchsammlungen. Kgl. bayerische Studienanstalt in Bayreuth, Programm am Schlusse des Jahres 1884/5, Bayreuth 1885, S. 20. Der folgende Datierungsvorschlag ebenda, S. 20ff.
- Vgl. dazu Weigel, Helmstedter Schmuckfußboden, wie Anm. 15, S. 202 mit einer Zusammenstellung der Belegstellen für die Verbreitung der Verse.
- Zugrundegelegt wurde der kritische Apparat der Ausgabe von Schenkl, wie Anm. 9. Keine der dort genannten Handschriften bietet z. B. die Helmstedter Variante VELLE ET NON POSSE NOCERE (Inschrift C2E2) für non posse et velle nocere (Ps.-Ausonius 1,7, vgl. Anm. 9). Zu weiteren Helmstedter Texteigenheiten vgl. Anm. c und d.
- Weigel, Helmstedter Schmuckfußboden, wie Anm. 15, S. 201.
- Bei den drei genannten Handschriften handelt es sich um Vindob. 2521 (Österreichische Nationalbibliothek Wien), Vorauensis 111 (Kloster Vorau, Steiermark) und Clm 14506 (Bayerische Staatsbibliothek München). – Vindob. 2521 und Clm 14506 sind von der Bearbeiterin eingesehen worden. Zu den Varianten im einzelnen vgl. den kritischen Apparat von Schenkl, wie Anm. 9. Es ist in diesem Zusammenhang unerheblich, daß die Namen der Sieben Weisen an unterschiedlicher Stelle beigeschrieben worden sind: in Vindob. 2521, Bl. 42r und Vorauensis 111, Bl. 51v über jedem einzelnen Vers, in Clm 14506, Bl. 73r als Überschrift über Vers 1–7. Die Intention aller drei Schreiber ist dieselbe.
- Zur Aldersbacher Handschrift vgl. W. Hörmann, Probleme einer Aldersbacher Handschrift (Clm 2599). In: Buch und Welt. Festschrift für G. Hofmann, Wiesbaden 1965, S. 335ff. Abbildungen der Sieben Weisen auf Tafel 20–23. Den Helmstedter Gipsfußboden in Zusammenhang mit der Aldersbacher Handschrift gebracht hat zuerst Klemm, wie Anm. 23, S. 8. Zur Datierung der Aldersbacher Handschrift vgl. Klemm, ebenda, S. 13.
- Vgl. LexMa 3, Art. „Dialog“, Sp. 946ff., hier Sp. 951ff. und LexMa 3, Art. „Dialogbild“, Sp. 965f.
- Vgl. Hörmann, wie Anm. 29, S. 344. In Beziehung zu den einzelnen Teilen der nach mittelalterlicher Lehre geteilten Philosophie werden sie in einer Handschrift des 9. Jahrhunderts gesetzt, vgl. Klemm, wie Anm. 23, S. 6.
- In diese Richtung weisen die Mitteilungen von Meier, Kunstdenkmäler, S. 27 und Inventarkartei VM 5767, unter c), daß sich ein bärtiger Kopf vor Heiligenschein unter den Fragmenten erhalten habe.
- Zu ANIMA PECCATRIX vgl. ThLL 10,1, Sp. 884,14ff. Die Junktur ist reich belegt in den Schriften des Augustinus und bei Bernhard von Clairvaux; COR SVPERBVM findet sich u. a. zweimal in den Enarrationes in psalmos des Augustinus. Nachweise mit Hilfe von Cetedoc Library of Christian Latin Texts. CLCLT 2, Brepols-Turnhout 1994. Für diese Recherche danke ich Frau Dr. C. Wulf, Göttingen.
Nachweise
- Zwei Pausen, die weitgehend der Zeichnung Meier, Kunstdenkmäler, S. 26 entsprechen.
- Meier, Textwiedergabe, Kunstdenkmäler, S. 25ff.
- Inventarkartei VM 5767 des Brauschweigischen Landesmuseums, Wolfenbüttel.
- H. Kier, Der mittelalterliche Schmuckfußboden unter besonderer Berücksichtigung des Rheinlandes, Düsseldorf 1970 (Die Kunstdenkmäler des Rheinlandes, hg. von R. Wesenberg, Beiheft 14), S. 99f. (nach Meier?) – U. Lorenz, Der spätromanische Schmuckfußboden aus der ehemaligen Benediktiner-Klosterkirche zu Nienburg an der Saale. Dissertation der Karl-Marx-Universität Leipzig 1990, als Typoskript vervielfältigt, Exemplar der Universitätsbibliothek Leipzig, Sign. 90-2-492, S. 14f. (nach Meier?) – T. Weigel, Der Helmstedter Schmuckfußboden mit den Sieben Weisen. In: Kat. Jahrtausend, S. 201ff.
Zitierhinweis:
DI 61, Stadt Helmstedt, Nr. 2 (Ingrid Henze), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di061g011k0000200.
Kommentar
Die kapitalen Grundformen der Buchstaben weisen Linksschrägenverstärkung bei A, M, N und V, entsprechende Bogenverstärkungen bei O, P, R und S sowie Sporen und keilförmige Verbreiterungen an den Bogen- bzw. Schaft- und Balkenenden auf. Als Sonderformen erscheinen ein eingerolltes G sowie unziales E neben häufiger gebrauchtem kapitalen E. Dieses trägt in der Regel einen langen mittleren Balken, der bei CVPIET (A2B2) sogar die anderen beiden E-Balken leicht überragt. Bemerkenswerterweise verwenden die Helmstedter Inschriften keine Ligaturen und nur wenige Kürzungen (C2E2, I). In diesem Punkt scheint sich der Helmstedter Estrich von weiteren mit Inschriften versehenen inkrustierten Gipsfußböden aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum zu unterscheiden, soweit der jeweils erhaltene Bestand eine solche Aussage erlaubt. Beschriftet sind – in chronologischer Reihenfolge nach der Datierungsannahme – zwei Schmuckfußböden in Hildesheim, hier in der Vierung des Doms (Mitte des 12. Jahrhunderts) sowie in der Domapsis (1153–1161)10), ein inkrustierter Estrich im Nordturm des Erfurter Doms (um 1160)11), in der Benediktiner-Klosterkirche Benediktbeuern (um 1170/80)12) und in der Benediktiner-Klosterkirche von Nienburg/Saale (um oder kurz nach 1200)13). Die Inschriften auf diesen Fußböden sind in den Grundformen der Buchstaben sehr ähnlich wie die der Helmstedter Inschriften gestaltet14). Auch findet sich E überall mit betontem, bisweilen überstehendem Mittelbalken ausgeführt. Allein der Nienburger Fußboden hebt sich aus der Gruppe insofern ab, als er unziale Formen in größerer Zahl verwendet, darunter auch bereits geschlossene C, E und M. Für die Datierung des Helmstedter Fußbodens ergibt sich aus dem Vergleich, daß er mit einiger Sicherheit früher gearbeitet worden ist als der im Benediktinerkloster von Nienburg/Saale. Eine genauere zeitliche Einordnung innerhalb der Zeitspanne von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis 1180, die sich aus der angenommenen Datierung der übrigen Gipsfußböden ergibt, läßt sich aus dem epigraphischen Befund jedoch nicht gewinnen.
Bis zu den Arbeiten von Weigel wurde der Helmstedter Fußboden nach Meier auf „um 1150“ datiert. Für Kier, die Meier folgt, galt er als der älteste der genannten Gruppe von Schmuckfußböden. Allerdings beruht Meiers Vorschlag auf einer eher vagen Schätzung der Fertigstellung der Helmstedter Klosterkirche, für die nur eine Baunachricht zum Jahre 1133 vorliegt. Bereits Kier hatte auf die Verwandtschaft des Inkrustierens mit der Niellotechnik, bekannt durch die Arbeiten des Roger von Helmarshausen, verwiesen und ornamentale Entsprechungen des Estrichs zur Malerei eines Helmarshäuser Evangeliars des ausgehenden 12. Jahrhunderts aus der Trierer Dombibliothek festgestellt. Weigel bedient sich dieses Weges auch zur Datierung. Er gelangt über einen stilkritischen Vergleich mit einer weiteren Helmarshäuser Handschrift, dem Fragment des Psalters Heinrichs des Löwen, zu einem um einige Jahrzehnte späteren Ansatz des Helmstedter Estrichs. Seine Überlegungen hierzu hat er in Kurzfassung 1999 publiziert und 2000 zu diesem Zusammenhang eine ausführliche Begründung angekündigt. Die von ihm bisher genannten Jahreszahlen für die Datierung des Helmstedter Fußbodens sind „ca. 1170–85“ bzw. „ca. 1179/80“15).
In dieser Diskussion ist die allgemeine Klostergeschichte, nämlich die Verbindungen des Klosters Werden zu seinem Schwesterkloster in Helmstedt in den fraglichen Zeiträumen sowie das Profil möglicher beteiligter Personen, bisher ausgeblendet geblieben. Der Vorschlag von Weigel – die 70er und 80er Jahre des 12. Jahrhunderts – lenkt den Blick auf eine Zeit, in der sich das Kloster Werden unter seinem Abt Wolfram im Raum Helmstedt auch sonst in einmaliger Weise engagiert hat. Wolfram amtierte als Abt von 1174 bis 1183. Seine bedeutendste Amtshandlung war zweifellos die Gründung des Augustinerchorfrauenstifts St. Marienberg in Helmstedt im Jahre 1176, die einzige Neugründung, die das Reichsstift Werden-Helmstedt überhaupt vorgenommen hat. Wolfram, der den Beinamen „Saxo“ trug, hat dabei möglicherweise neben politischen auch familiäre Interessen verfolgt. So soll seine Schwester bei der Gründung von St. Marienberg eine Rolle gespielt haben16). Weiter ist von Wolfram bekannt, daß er als Reichsfürst Kaiser Friedrich I. auf seinen Italienzügen begleitet hat. So weilte er z. B. 1177 in Venedig. Auch von seinen beiden Amtsvorgängern Wilhelm I. (1151–1160) und Adolf I. (1160–73) ist belegt, daß sie mehrfach Italien besucht haben17). Zu jedem der beiden diskutierten Zeitansätze standen also Äbte an der Spitze des Doppelklosters, deren Geschmack und Anspruch durch Italienfahrten hoch entwickelt gewesen sein dürfte. Zu fragen ist, ob nicht auch das Kirchengebäude des von einem Propst bzw. Prior geleiteten Helmstedter Klosters einen kunstliebenden Abt zu Verschönerungen gereizt haben könnte, falls er sich hier einmal für längere Zeit aufhielt. Letzteres scheint nur bei Wolfram, nicht aber, soweit bekannt, bei den beiden anderen genannten Werdener Äbten der Fall gewesen zu sein. Zu Wolfram gibt es mehrere Hinweise auf besonders enge Beziehungen zu Helmstedt. Überliefert werden u. a. die Stiftung einer Prozession und eines Jahrmarktes am Ort18). Im Zusammenhang mit der Organisation des Baus der Klosterkirche von St. Marienberg und der Klostergebäude dürfte er mehrfach über längere Zeiträume in Helmstedt gewohnt haben. So ist er hier wohl 1183 auch gestorben und soll in der vermutlich 1176 begonnenen Kirche von St. Marienberg beigesetzt worden sein. Die Bestattung in dem offenbar bereits fortgeschrittenen Kirchenneubau weist auf eine rege Bautätigkeit zwischen 1176 und 1183 hin. Auch der Bau des romanischen Kreuzgangs von St. Marienberg wurde in dieser Zeit angefangen19). Diese Umstände, nämlich daß Helmstedt zeitweilig sozusagen Nebensitz des Abtes von Werden und Helmstedt war und daß dort geschulte Handwerker zur Verfügung standen, geben eine plausible Bausituation ab auch für Neuerungen in der Klosterkirche St. Ludgeri selbst, so für die Anlage eines Schmuckfußbodens, zumal die Werdener Abteikirche bereits seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts einen solchen verzierten Estrich besaß20). Damit bietet die Amtszeit des Abtes Wolfram lokalhistorische Voraussetzungen für die Neudatierung von Weigel, die sich für den bisherigen Datierungsansatz, die Mitte des 12. Jahrhunderts, nicht in vergleichbarer Weise erbringen lassen.
Eine Darstellung der Sieben Weisen, wie sie sich im Helmstedter Fußbodenfragment erhalten hat, findet sich in der bildenden Kunst, soweit bekannt, außerordentlich selten21). Bei den Sieben Weisen handelt es sich um eine Gruppe von Persönlichkeiten des griechischen Altertums, zu deren seit dem Ende des 4. vorchristlichen Jahrhunderts kanonisch werdender Besetzung Pittakos, Solon, Kleobulos, Thales, Chilon, Bias und Periander gehören22). Die Sieben Weisen, in der Mehrzahl Staatsmänner, galten als Verfasser moralischer Spruchweisheiten (sententiae), die in ihrer prägnanten Kürze in Spätantike und Mittelalter gern zitiert wurden. Nach der von ihnen vertretenen Ethik ließen sich die heidnischen Sieben Weisen durchaus als Zeugen für die Tugendvorstellungen des christlichen Mittelalters anführen. So bezeichnet sie z. B. der Kirchenvater Klemens von Alexandrien als Propheten und spricht ihnen eine Teilhabe an der göttlichen Wahrheit ausdrücklich nicht ab23). Und auch in Helmstedt erfährt avaritia (Habgier) aus dem Munde von Pittakos und Solon eine verwerfende Deutung, die sich mit christlicher Verurteilung deckte, und paupertas (Armut), prudentia (Klugheit) und castitas (Keuschheit) werden in Übereinstimmung mit der christlichen Tugendlehre leitbildhaft positiv dargestellt (Inschriften A2B2, D2, F2G2).
Bereits Meier hat als Quelle für die Helmstedter Inschriften unter Hinweis auf den Pariser Kodex S. Germ. lat. 1044 das erste von sieben Gedichten benannt, die seit ihrem Erstdruck 1499 lange Zeit fälschlich dem Werk des spätantiken Dichters Ausonius (ca. 310–394) zugewiesen worden sind24). Ihr tatsächlicher Verfasser hat wohl im sechsten Jahrhundert gelebt. Die Sammlung dieser Gedichte, die jeweils mit dem Namen eines der Sieben Weisen betitelt sind, erfreute sich im Mittelalter großer Beliebtheit und kursierte in zahlreichen Abschriften. Einzelne oder mehrere Verse daraus bzw. aus dem in Helmstedt verwendeten ersten Gedicht finden sich außerdem ohne Nennung der Sieben Weisen im Werk weiterer mittelalterlicher Autoren bzw. in Sprichwortsammlungen25). Der Vergleich der Überlieferungen zeigt indes, daß die von Meier benannten ps.-ausonischen Verse den Helmstedter Inschriften am nächsten stehen. Unter deren frühen Textzeugen hat sich freilich eine Handschrift, die man als „Vorlage“ bezeichnen könnte, die also die Helmstedter Besonderheiten der Textumsetzung und alle Helmstedter Varianten enthält, nicht ermitteln lassen26). Der Blick auf die Überlieferung des Ps.-Ausonius lohnt jedoch insofern, als er die Charakteristika der Helmstedter Verarbeitung deutlich macht. Die modernen Ausgaben des Ps.-Ausonius bieten eine Textfassung, die erheblich von der des Helmstedter Gipsfußbodens abweicht. Bereits Weigel hat dies angemerkt27). Die Herausgeber stützen sich dabei auf die Mehrheit der Handschriften, zu der auch der von Meier als Quelle benannte Pariser Kodex S. Germ. lat. 1044 gehört. Die Handschriften dieser Gruppe enthalten sieben Gedichte mit jeweils sieben Versen in unterschiedlichen Versmaßen. Nur das erste Gedicht, also der in Helmstedt verwendete Text, besteht aus Fragen und Antworten in Hexametern. Jedem Gedicht ist der Name eines der Sieben Weisen zugeordnet. Dabei tritt an die Stelle des kanonischen Thales, den der Helmstedter Fußboden nach Meier geboten hat, der skythische Weise Anacharsis. Das interessierende erste Gedicht wird als Ganzes dem Bias von Priene in den Mund gelegt, ist also nicht, wie in Helmstedt, in Einzelversen auf die einzelnen Sieben Weisen verteilt. Bislang unbemerkt geblieben ist, daß eine Minderheit der Überlieferung des Ps.-Ausonius, drei Handschriften aus dem 12. Jahrhundert, eine der Helmstedter Rezeption um einiges näherstehende Version enthält. Eine mögliche Vorlage für den Fußboden im Helmstedter Kloster darf am ehesten im Überlieferungsumfeld dieser drei Handschriften vermutet werden, da ihre Textstruktur der Helmstedter Fassung entspricht. Sie überliefern nicht die ganze Sammlung, sondern allein das für Helmstedt relevante erste Gedicht. Die Sieben Weisen werden in der gleichen Besetzung wie in Helmstedt genannt, d. h. statt Anarchasis erscheint Thales. Von größter Bedeutung ist der Umstand, daß in diesen drei Handschriften die einzelnen Verse einzeln den Sieben Weisen zugeteilt werden28). Eine wesentliche Voraussetzung für eine bildhafte Nutzung des Textes ist hier also geschaffen, indem jetzt nur ein Weiser einen Vers, mit Frage und Antwort, verkündet. Dieses Modell hat seine Umsetzung in eine bildliche Darstellung in einer Handschrift aus dem niederbayerischen Kloster Aldersbach gefunden. Die Handschrift wird dem 13. Jahrhundert zugewiesen, ist also später als der Helmstedter Fußboden und sicher unabhängig davon entstanden. In ihr sind die Sieben Weisen bis auf den partnerlosen Anacharsis, der hier für Thales steht, in Zweiergruppen dargestellt, wobei jedem Weisen ein Hexameter wie in der genannten Handschriftengruppe beigeschrieben ist. Obwohl die Figuren in Redegestik und Körperhaltung einander zugearbeitet sind, wird ein weiterer Schritt, der die Helmstedter Rezeption charakterisiert, nicht vollzogen: Es kommt nicht zum Austausch von Fragen und Antworten zwischen den Figuren29). Der Helmstedter Autor dagegen hat die dialogische Struktur des Textes erkannt und genutzt. Er verteilt die Fragen und Antworten aus jeweils zwei Hexametern als Wechselrede auf jeweils zwei Spruchbänder eines Paares. Dabei werden die Versteile optisch bisweilen weit auseinandergerissen, der Text also der bildhaften Darstellung untergeordnet. Einmal enthält ein Vers, nämlich Vers Nr. 3 (Inschrift A2B2), zwei kurze Frage-/Antwortpaare statt eines. Da jeder Weise in Helmstedt nur eine Frage und eine Antwort trägt, werden in diesem einen Fall aus den kurzen Textteilen auf den Schriftbändern ihrer Träger Pittakos und Solon Inschriften in einer breit auseinandergezogenen Schrift. Aus der Doppelfrage in Vers 3 erklärt sich auch, warum nur sechs der sieben Hexameter des ersten ps.-ausonischen Gedichtes verarbeitet wurden: Man benötigte für die Sieben Weisen sieben Frage- und Antwortpaare, das gesamte Gedicht enthielt aber dank Vers 3 acht Fragen samt Antworten, auf einen Vers, hier Nr. 1, konnte also verzichtet werden. In der Art seiner weiterentwickelnden Textrezeption zeigt sich der Helmstedter Autor auf der Höhe seiner Zeit. Er bedient sich des Dialoges bzw. seiner bildlichen Darstellung im Dialogbild. Damit greift er eine während des ganzen Mittelalters, insbesondere im 12. Jahrhundert hochgeschätzte Form auf, Lehrstoffe aller Art zu vermitteln30). Ein weiteres Beispiel für eine derartige Dialogisierung der sententiae der Sieben Weisen ist bisher nicht bekannt.
Die Frage nach den Darstellungsgegenständen auf den verlorenen Teilen des Fußbodens kann nicht beantwortet werden. Vermutungen sollten sowohl die didaktischen Intentionen des erhaltenen Teils als auch die Umgebung der Sieben Weisen in anderen Programmen berücksichtigen. So erscheinen die Sieben Weisen in der genannten Aldersbacher Sammelhandschrift neben den Personifikationen der Philosophie und der Septem artes liberales (Sieben Freien Künste) samt ihren antiken Vertretern sowie mit weiteren sieben paarweise auftretenden antiken Autoren31). Angesichts der Rolle, die ihnen der Kirchenvater Klemens von Alexandrien zugeteilt hat, sind als weitere Figuren z. B. auch disputierende Propheten denkbar32). Die von Meier überlieferten Junkturen [C]OR SVPERBVM und [A]NIMA PECCATRIX sind seit den Kirchenvätern stehende Begriffe in der theologischen Diskussion33). Sie deuten auf christlich-moralische Ermahnung über das erhaltene Darstellungsprogramm der Sieben Weisen hinaus und sprechen außerdem für ein hohes theologisches Niveau des geistlichen Auftraggebers. Der als solcher vermutete Abt Wolfram dürfte auch in diesem Punkt ins Bild passen.