Inschriftenkatalog: Stadt Helmstedt
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 61: Stadt Helmstedt (2005)
Nr. 162 St. Stephani 1645
Beschreibung
Gemälde mit Darstellung des Prozesses Jesu. Öl auf Holz. An der Südwand des Chores. Meier sah es 1896 hinter dem Hochaltar1). Gearbeitet nach einem Stich des Daniel Altenburgh aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts. Dessen Vorlage war ein Stich des Egbert van Panderen nach einem Entwurf des Niederländers Frans Francken2). Dargestellt sind, zu einer Szene zusammengefaßt, die Aburteilung Jesu durch das jüdische Synedrium unter Vorsitz des Hohenpriesters Kaiphas und die Urteilssprechung des römischen Prokurators Pilatus. Im Vordergrund rechts Jesus, allein sitzend, ihm gegenüber Tisch mit zwei Protokollanten. In einem weiten Kreis um ihn Pilatus, Kaiphas und neunzehn Mitglieder des Synedriums. Im Hintergrund rechts auf einem Balkon Vertreter des jüdischen Volkes. Allen Figuren mit Ausnahme von Jesus, einem Diener und den Protokollanten sind Inschriften beigegeben. Die Mitglieder des Rates tragen sie und ihren Namen auf schildförmigen Tafeln vor sich. Die Inschriften sind numeriert. Die hier eingehaltene Reihenfolge orientiert sich nicht an der Numerierung, sondern an den Standorten. Den Kreis der mit Inschriften ausgestatteten Personen eröffnen links im Vordergrund (im Uhrzeigersinn) Rabam und Simon (A–B). Nach hinten anschließend Pilatus, auf dreistufigem Podest unter Baldachin sitzend. Daran Inschrift C. Zur Linken von Pilatus zur Bildmitte hin weitere sieben Ratsmitglieder, nämlich Achias, Putipharns, Riphar, Ioseph von Arimathia und Ioram (D–H) in der vorderen Reihe. In einer zweiten Reihe dahinter Subath und Rosmophin (I–J). In der Bildmitte hinten vor einem Zelt Kaiphas, auf zweistufigem Podest stehend. Am Zeltdach Kartusche mit Inschrift K. Im Halbkreis zum rechten Bildrand hin Ehiris, Nikodemus, Diarabias, Sareas, Sabinth, Samech und Mesa (L–R), dahinter zwischen Sareas und Sabinth Iosaphat (S). Zum vorderen Bildrand rechts abschließend Teras und Ptolomäus (T–U). Rechts über Kaiphas an der Balusterbrüstung des Balkons, auf dem die Vertreter des jüdischen Volkes stehen, Inschrift V auf einer Tafel. Unterhalb des Bildes befindet sich ein breiter Streifen mit Inschrift W. Die Vollwappen des Stifterehepaares sind am unteren Bildrand halblinks und halbrechts aufgemalt. Der ornamentierte Rahmen trägt oben auf der Querleiste Inschrift X, geteilt durch ein Ornament, unten die Stifterinschrift Y. Inschriften gemalt, gold auf schwarzem Grund, restauriert. Eine zuverlässige Wiedergabe der diakritischen Zeichen ist nach dem Gesamtzustand der Inschriften nicht möglich. Die u tragen in der Regel übergeschriebene Schlängel. Als Worttrenner erscheinen eine liegende Ziffer Acht in Variationen, paragraphzeichenförmige Ornamente und drei zu einem Dreieck gelegte Punkte.
Maße: H.: 147 cm; B.: ca. 205 cm (mit Rahmen); Bu.: ca. 0,3–1 cm (A–B, D–V), ca. 1–1,3 cm (C), ca. 1,8–2,5 cm (W), 2–3,5 cm (Y).
Schriftart(en): Fraktur mit Kapitalis (A, B, D–U, W, Y), Kapitalis (C), Fraktur (V).
- A
RABAM. / War zu dienen / die gesetz, dan das / sie gehalten wer=/den · / 2
- B
SIMON / der aussetz/ige spricht also: / Durch welch gesetz / kan er für ein auff/ruhrer gehal/ten werden. / 1
- C
PONTIVS PILATVS / IVDEX ·
- D
ACHIAS. / Man sol keinen / angeklagten vn-/erkanter sachen / zum todt verd[am]a)/men · / 3
- E
PVTIPHARNS. / Ein verführer zer/störer dasb) vaterlandt / vnd gantze gemeine / darumb sol er [ins] / elend verwiesen / werden · / 6
- F
RI[PHAR] / [Das gesetz stra]ffet / [nieman]dt denc) die / böse vnd mistheter / last dem nach diesen / menschen seine schult / bekennen, So kan / man ihn als dan / mit fug und recht / [verd]a[mmen] / [7]
- G
IOSEPH · / von ARIMATHIA. / Es ist für war ein / grose schandt das in / der gantzen stadt nie/mandt gefundenn / wirdt, der da den vn/schuldigen d[orft]e verth[ä]digen / 8
- H
IORAM / Warumb s[ollen] / wir diesen [mens]/chen der da [un]/schuldig ist zum / todt [ver]dam(m)en / lassen. / 9
- I
SVBAT[H] / Es ist kein gesetz noch / recht das da iemant vn/schuldiger weise zum todt / veruhrteile derowegen sol / man sich erkundigen was / dieser verwirckt / habe · / 4
- J
ROS[M]OPHIN / W[arumb] seind / die gesetz geben / worden wan / man den selben / [nich]t wil nach / setzen. / 5
- K
CAIPHAS der Hohepriester / Ihr wisset alle nicht was ihr wollet oder / redt es ist besser das ein mensch ster-/be den das gantze volck verderbe3) ·/ 20
- L
EHIRIS · / Vnd wan er schon / gerecht ist, sol er doch / sterben, weil er durch / seine predigten das / volck zu auffruhr / b[ewegt u]nd er/[regt] / [10]
- M
NICODEM(VS). / Vermag das vn/ser gesetz, das man / iemand vner[hö]rt / vnd vnerkanter / sachen verdam/[me]n soll · / 11
- N
DIARABIAS. / Weil er das [volck] / verfuhrt so soll / man ihn mit dem / todt straffen / 12
- O
SAREAS / Last vns diesen / auffruhrer von dem / das vaterland anders / nichts den das eusze/ste verderben zu er/w[arte]n hat, ver/[tilgen und / auß reü]ttend)
- P
SABINTH. / Er sey gerecht oder / nicht weil er vnse-/re voreltern gesetz / nicht hat gehorc/hen wollen, soll / er keines weges / gelitten werden / 14
- Q
SAMECH. / Last vns es mit ihm / also machen, das er vns / nicht wieder spreche / oder eintrag thu, da er / aber sich [wied]ersetze(n) / wolle, last vns ihn / vnnachlesig stra/ffen / 19
- R
MESA. / Ist er gerecht so / last vns es mit ihm / halten. ist er vnge-/recht, so last vns / ihn von vns hin / weck iagen. / 18.
- S
IOSAPHAT / Last ihn mit ket=/ten gefesselt vnd / in [e]wige gefenck-/nis gelegt werden / 15
- T
TERAS. / Es ist ratsam, / das wir ihn ent/weder verban(n)en / oder gefencklich / an den kaeiser / schicken. / 17
- U
PTOLOMAEVS. / So er weder gerecht / noch vngerecht ist, was / machen wir den lang, / warumb verdammen / wir ihn nicht als balt zu(m) / todte, oder verbannen / ihn aus dem landt · / 16
- V
Hierauff finck der gantze hauffe des / iudischen volcks an zuruffen vnd zu schreien / wan du diesen los lessest, so bistu des keisers / freundt nichte)4) / 21
- W
Dem nach hat PONTIVS PILATVS, Nachdem er zu vorn seine hend zum Zeichen der vnschuldt gewaschen, ein sölches vrtheil veruassen vnd er gehen lassen. Ich PONTIVS PILATVS richterf) zu HIERVSALEM vnter den Grosmechtigsten keiser TIBERIO welchem Gott ein glucklich / vnd lanckwierige regierung verleien wolle. nach dem ich auff den richter stul sasz menniglich vnd in sonderheitt der iudischen SYNAGOG recht zu sprechen vnd zuerthelen vnd das ienige was die iuden wieder IESVM von nazareth, den sie gefencklich dar gestelt, angehört vnd zu erkentnis genommen, in erwegung der selbe sich / mit ruhmredigen worten vernehmen lassen, das er der Sohn Gottes vnd ob er woll von gar armen eltern erbohren, der iuden könig sey, das er auch den tempel SALOMONIS wolle ab brechen vnd zerstören, Erkenne vnd spreche zurecht, das der selbe neben zweien andern vbelthetern an das creutz geschlagen vnd vom leben zum todt gebracht werde, wie nu vnd was / gestalt sölches vngerecht vrtheil an den HERRN IESV volstreckt worden, zeiget vns die H(eilige) schrifft mit allen vmstenden auff das fleissigste an Nun ist es nicht genung, das wir diese histori allein schlecht wissen, vnd allein oben hin wie andere geschichten, Sondern zu vorderst die vhrsachen betrachten. warumb nemlich der sohn gottes habe den vngerechten in die hende fallen, vnd so einen / schmeligen todt leiden wollen, Nemlich das er vns alsz das rechte vnd gott angeneme schlachtopffer, mit gott seinen himlischen vater versöhnete, durch seine vnschult vnser schult vnd misseth[a]t bezahlete, vnd also durch seinen todt, vns vom ewigen todt erlösete, Der selbe, So beides vnser hohepriester vnd söhnopffer selbst ist, Wolle vns seine gnade v[e]rleien. / Das wir dieser vnaussprechlicher guthatt vns gebrauchen [und] ewiglich geniessen mögen ·
- X
1. 6. // 45.
- Y
Dise Taffel hat Zur Ehre Gottes in S. STEPHANS kirche alhie verehrt Der Ehrnuester vnd wolweiser H(err) Heinrich Duue Burgermeister vnd sein Ehliche HauszFraw Anna Modelerß. / Nunmehr beide in gott selig Verschieden g) Im 1626. Jahr ·
Duve5), Modelers6) |
Textkritischer Apparat
- Ergänzungen nach der vermutlichen Kopie Nr. 369 unter Beibehaltung der dort zu lesenden Schreibweise.
- das] Für des. So in Nr. 369.
- den] Oder dan? den Nr. 369.
- Kein Platz für die hier zu erwartende 13.
- Schriftzeile stark verkleinert.
- Oberlängen nicht restauriert.
- Hier Schrägstrich.
Anmerkungen
- Meier, Kunstdenkmäler, S. 68.
- Oertel, Stephanikirche, S. 124, S. 126. Beide Stiche befinden sich im Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig.
- Nach Jh. 11,49f. Vgl. auch Jh. 18,14.
- Nach Jh. 19,12.
- Wappen Duve: Taube auf Ast, mit Zweig im Schnabel.
- Wappen Modelers: steigender Eber.
- Oertel, Stephanikirche, S. 124.
- In Frage kommen Frans Francken I (1542–1616) und Frans Francken II (1581–1642). Vgl. zu beiden U. A. Härting, Frans Francken II (1581–1642). Die Gemälde mit kritischem Œuvrekatalog. Flämische Maler im Umkreis der großen Meister, Freren 1989.
- Egbert van Panderen lebte von 1581 bis 1637 (?), vgl. Thieme/Becker, Künstlerlexikon, Bd. 26, S. 192.
- Nach der Zusammenarbeit mit Egbert van Panderen dürfte es sich um Pieter I de Jode (1570–1634) handeln. Zu ihm Thieme/Becker, Künstlerlexikon, Bd. 19, S. 31f.
- Zu ihm Thieme/Becker, Künstlerlexikon, Bd. 1, S. 243.
- Vgl. B. Schöller, Kölner Druckgraphik der Gegenreformation. Ein Beitrag zur Geschichte religiöser Bildpropaganda zur Zeit der Glaubenskämpfe mit einem Katalog der Einblattdrucke des Verlages Johann Bussemacher, Köln 1992, S. 129.
- Vgl. dazu Härting, wie Anm. 8, S. 28, mit Beispielen.
- Frdl. Auskunft von Frau Dr. R. Kohn, Arbeitsgruppe Inschriften, Österreichische Akademie der Wissenschaften.
Nachweise
- R. Kleinert, Das Blutgericht Jesu. Tafelbilder in St. Stephani und St. Walpurgis zu Helmstedt. Im Manuskript vervielfältigt, Helmstedt o. J.
Zitierhinweis:
DI 61, Stadt Helmstedt, Nr. 162 (Ingrid Henze), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di061g011k0016201.
Kommentar
Die Vorlagen des Bildes, die oben genannten Stiche, stammen „aus der volkstümlichen Andachtsgraphik der Gegenreformation“7). Die nach den Signaturen am älteren Stich beteiligten Frans Francken8), Egbert van Panderen9) und Pieter de Jode10) wirkten in Antwerpen. Diese Stadt war nach der spanischen Eroberung und Rekatholisierung Ende des 16. Jahrhunderts eine Blütestätte gegenreformatorischer Kunst. Die Weiterverbreitung des Darstellungsgegenstandes durch den Kölner Stecher Daniel Altenburgh11) und den Kölner Verleger Johann Bussemacher dürfte in engem zeitlichen Anschluß erfolgt sein, denn verlegerische Aktivitäten Bussemachers werden nur bis in das beginnende zweite Dezennium des 17. Jahrhunderts angenommen12). Es stellt sich die Frage, welcher Quelle der dargestellte Stoff mit den zum größten Teil unbiblischen und sonst nicht nachweisbaren Eigennamen entnommen ist. Auf dem Stich des Egbert van Panderen findet sich außer dem Stechervermerk Egbert van Panderen sculpsit. Petrus de Iode excudit die Angabe Franciscus Franck inventor. Nun bürgen Zusätze wie invenit, inventor (er erfand, Erfinder) nicht mit Sicherheit für eine eigene Kompositionsidee, einen eigenen Textentwurf oder gar, wie hier zu diskutieren, die Erfindung eines neuen Szenariums13). In diesem Zusammenhang ist eine weitere Mitteilung auf beiden Stichen von Interesse: Hoc est inventum Viennae Austriae sub terra lapidi incisum. Der jüngere Stich des Daniel Altenburgh bietet eine Deutung für Hoc und übersetzt anschließend: Abbildung deß Vngerechten Gerichts / so wider den Heylandt der Welt ergangen: Wie solches zu Wien vnter der Erden in eim Stein gehawen gefunden worden. Damit wird der Beitrag des inventors Frans Francken eingeschränkt auf das Umarbeiten einer Vorlage, einer zu einem unbekannten Zeitpunkt angefertigten und in Wien ausgegrabenen Steinplastik. Im Inschriftenbestand von Wien gibt es keinerlei Hinweise auf einen derartigen Inschriftenträger14). Zieht man die Glaubwürdigkeit der Angaben des Panderenstichs nicht in Zweifel und geht man von einer beschrifteten Vorlage aus, bleibt immer noch auch an deren Verfasser die Frage, ob er eine ältere Quelle jüdischer oder christlich-mittelalterlicher Herkunft benutzt hat.
Die Nacharbeitung des Stiches durch Altenburgh bietet neben den lateinischen Texten eine französische und eine deutsche Übersetzung. Letztere verkürzt den lateinischen Text und weist zahlreiche Varianten zur Helmstedter Inschriftenversion auf. Beide folgen, wie zu erwarten, nicht der Bibelübersetzung Luthers. Der Helmstedter Text ist in Fortsetzung der Pilatus gewidmeten Partie (Inschrift W) angereichert worden um eine das Geschehen theologisch deutende Betrachtung. Es dürften also noch Zwischenglieder in der Überlieferung anzunehmen sein. Die Dreisprachigkeit des Altenburghstichs läßt erkennen, daß man einen großen Leserkreis erreichen wollte. Tatsächlich scheint das Bildthema während des 17. Jahrhunderts im katholischen und protestantischen Raum recht verbreitet gewesen zu sein. In Helmstedt ist es zweimal bearbeitet worden (vgl. Nr. 369). Den beiden Helmstedter Exemplaren ähnliche Tafelbilder befinden sich z. B. im Historischen Museum der Pfalz in Speyer, in der St. Martinikirche in Minden, beide mit lateinischen Texten, und im Chorumgang der St. Stephanskirche in Tangermünde, dies eine Stiftung von 1697.
Zu den Helmstedter Stiftern vgl. Nr. 161.