Inschriftenkatalog: Stadt Helmstedt

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 61: Stadt Helmstedt (2005)

Nr. 110 St. Marienberg 16. Jh.?, 1695

Beschreibung

Graffiti. In der Kirche an den ersten vier Pfeilern von Westen in der südlichen Pfeilerreihe. Mit Rötel auf Sandsteinquader gemalt. Die Inschriften befinden sich in Augenhöhe bzw. höher. Soweit sie aus Initialen bestehen, werden sie überwiegend begleitet von Strichzeichnungen. Die Schrift ist teilweise sehr stark verblaßt und daher kaum lesbar. Die Wiedergabe erfolgt nach Standorten.

1. Pfeiler von Westen, Südseite. Links Inschrift A1, rechts neben der Inschrift Hausmarke (Anhang 2, H7). Daneben und darüber rechts geometrische Figuren und stark verblaßte, buchstabenähnliche Zeichen bzw. unleserliche Buchstaben, darunter rechts Herz. Ostseite mit Inschrift A2.

Maße: Bu.: 6,5 cm (A1), ca. 1,5 cm (A2).

Schriftart(en): Kapitalis (A1), gotische Kursive (A2).

  1. A1

    HR

  2. A2

    Omnia […….] nolle q(uae) […..] / [......] tu angelis illic [.……] / esto [ – – – ] fortasse collegio

Übersetzung:

Alles [...] nicht zu wollen, was [...] [...] du den Engeln dort [...] es sei [...] vielleicht dem Kollegium. (A2)

2. Pfeiler von Westen, Südseite. Inschrift B1 am linken Rand. Unter dem Bogen des P geometrische Figur (Quadrat, die Innenfeldecken durch Geraden verbunden). Rechts davon unkenntliche Zeichen. Am rechten Pfeilerrand Inschriften B2 und B3, darüber Schaftreste von Kapitalisbuchstaben. Ostseite. Oben links Inschrift B4, darunter in der Mitte Inschrift B5, links von B5 zwei Zeichnungen (1. Herz, belegt mit senkrechtem Pfeil nach oben und gekreuzten Krümmen?; 2. gekreuzte Degen oder Schere?), unten rechts Inschrift B6, begleitet von mehreren unkenntlichen Zeichnungen. Auf der Nordseite zwei phantastische Tiere, links Drache, teilweise verdeckt durch moderne Lampe, rechts Zweifüßler mit eingerolltem Schwanz und hochstehenden Ohren. Darunter Inschrift B7.

Maße: Bu.: 5 cm (B1, Minuskel), 18 cm (B1, Majuskel), 11 cm (B2), ca. 14 cm (B3), 15 cm (B4), 10 cm (B5), 5 cm (B6), 3 cm (B7).

Schriftart(en): Minuskel mit Kapitalis (B1), Kapitalis (B2–B6), Minuskel mit Versal (B7).

  1. B1

    j s P

  2. B2

    A Ra)

  3. B3

    Bb)

  4. B4

    B [.]

  5. B5

    K

  6. B6

    HW 1695

  7. B7

    Jot [ ... ]

3. Pfeiler von Westen, Nordseite. Die breit und sorgfältig gemalten, teilweise stark verblaßten gotischen Minuskeln der Inschriften C1 und C2 stehen jeweils links und rechts in einer Hausmarke (Anhang 2, H8, H9). Links von Inschrift A am Rand weitere Zeichnung (spitzer Hut mit Stab?). Rechts von Inschrift C2 geometrische Figur wie bei B1 am 2. Pfeiler (Quadrat, die Innenfeldecken durch Geraden verbunden).

Maße: Bu.: 6 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel.

  1. C1

    s r

  2. C2

    p s

4. Pfeiler von Westen, Ostseite. In der Mitte lange zweizeilige Inschrift D, weiter oben am Pfeiler ein nicht entzifferbares Wort von anderer Hand.

Maße: Bu.: 4 cm.

Schriftart(en): Minuskel.

  1. D

    [ – – – ] domus esse p[ – – – ] / [ – – – ]

Übersetzung:

[...] das Haus (die Häuser?) (zu) sein [...].

Nach den verwendeten Schriftarten gotische Kursive und gotische Minuskel sind die ältesten Inschriften spätesten in das 16. Jahrhundert zu datieren.

Der Marienberger Graffitibestand ist mit zehn einigermaßen sicher zu lesenden Einträgen, vermutlich abgekürzten Namen, und zwei Textinschriften zahlenmäßig vergleichsweise sehr klein. Er bedient sich ausschließlich der Röteltechnik, d. h. es gibt nicht wie andernorts überwiegend eingehauene oder eingeritzte Inschriften, die gegebenenfalls einen größeren Zeitaufwand bei der Herstellung nötig machten1). Als Urheber derartiger Graffiti und Kritzeleien in anderen Sakralräumen werden Pilger oder sonstige fromme Kirchenbesucher, Handwerker und Studenten vermutet bzw. sind nachgewiesen2). Die in St. Marienberg in den gotischen Schriften ausgeführten Einträge sind wohl noch in vorreformatorischer Zeit vorgenommen worden, ebenfalls von Pilgern oder frommen Kirchenbesuchern. Um Handwerkerhinterlassenschaften dürfte es sich nach der flüchtigen Ausführung, dazu teilweise in lateinischer Sprache, kaum handeln. Der einzige datierte Eintrag von 1695 führt in die protestantische Zeit und lenkt den Blick auf Studenten als mögliche Urheber der Kritzeleien, soweit diese in Kapitalis ausgeführt sind. Der Gottesdienst- und Versammlungsort der Studenten war seit der in der Stadtkirche St. Stephani 1576 vollzogenen feierlichen Eröffnung der Universität ebendieses Gotteshaus. Daß die vor den Stadtmauern liegende Kirche des Klosters St. Marienberg ebenfalls ein frequentiertes Ziel der einen Gottesdienst besuchenden akademischen Bürger bildete, läßt sich durch archivalische Nachrichten belegen. So argumentiert das Kloster 1623 in der Auseinandersetzung um die Rückgabe der sog. Großen Glocke (Nr. 25) gegenüber dem Herzog damit, daß die Glocke gebraucht würde, um insbesondere die Studierende Jugendt, welche in großer menge vndt Anzahl herauskommen, den Gottesdienst vndt die Predigt mit fleiß vnd Andacht besuchen, zu convociren3). Nach den von Johann Martin Schüttelöffel 1792 angefertigten Kirchenrissen war für die Studenten sogar eine separate Studentenprieche eingerichtet. Sie lag im südlichen Seitenschiff über dem dritten und vierten Pfeiler von Westen und besaß einen Treppenaufgang im Südosten4). Die bekritzelten vier Pfeiler lagen also genau auf dem Weg, den die Studenten normalerweise bei Benutzung des Haupteingangs im Westen nehmen mußten, um zu ihrer Prieche zu gelangen. Anders als die Kritzeleien von Jenaer Studenten in Ziegenhain bei Jena5) – dort sind nur 46 der 353 Namen in Initialen geschrieben – bieten die Helmstedter Eintragungen ausschließlich Initialen. Dieser Umstand verhindert heute eine Identifizierung der Schreiber über den Vergleich mit dem Eintrag in die Matrikel. Damit entfällt eine sichere Bestätigung für die Vermutung, daß es sich bei den Verfassern der jüngeren Kritzeleien in St. Marienberg um Studenten gehandelt hat.

Textkritischer Apparat

  1. A mit geknicktem Mittelbalken.
  2. Es folgt ein S-förmiges Zeichen mit geschlossenem oberen Bogen.

Anmerkungen

  1. Neben eingehauenen und geritzten Einträgen gibt es solche in Rötel auch in der Bergkirche U. L. Frau in Laudenbach, Stadt Weikersheim, DI 54 (ehem. Landkreis Mergentheim), Nr. 40. Eine Rötelinschrift mit Name und Zeichnung auch in der Walterichskirche in Murrhardt, DI 37 (Rems-Murr-Kreis), Nr. 58. Ausschließlich gehauen oder geritzt sind z. B. die Graffiti in Fellbach-Schmiden, vgl. DI 37 (Rems-Murr-Kreis), Nr. 53 und die Graffiti im Kloster Mariental, Landkreis Helmstedt, vgl. Wehking/Wulf, Inschriften und Graffiti, S. 52ff. Die Kirchen der genannten Orte bieten erheblich umfangreichere Bestände. So sind in der Bergkirche U. L. Frau in Laudenbach, einer Wallfahrtskirche, über einen Treppenturm und die Außenwände verteilt 138 Inschriften aus der Zeit bis 1800 zu lesen. Ein Reliquienschrank in Marienwerder/Ostpreußen trug ca. sechzig Nameneintragungen zwischen 1609 und 1737, vgl. K. M. Kowalski, Die Inschriften der Woiwodschaften Elblag, Gdansk, Koszalin und Slupsk von den ältesten Zeiten bis 1800. In: Epigraphik 1988, S. 259ff., hier S. 268. Ein materialreicher Überblick über Graffiti und die daran beteiligten sozialen Gruppen sowie ihre Motive bei D. Kraack, Monumentale Zeugnisse der spätmittelalterlichen Adelsreise. Inschriften und Graffiti des 14.–16. Jahrhunderts, Göttingen 1997 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, 3. Folge, Nr. 224). Vgl. auch D. Kraack und P. Lingens, Bibliographie zu historischen Graffiti zwischen Antike und Moderne (Medium Aevum Quotidianum, hg. von G. Jaritz, Sonderband XI), Krems 2001.
  2. Als Pilgerverewigungen gelten z. B. die Graffiti in Göttingen-Nikolausberg, DI 19 (Stadt Göttingen), Nr. 77 und die Nameneintragungen in Marienwerder/Ostpreußen, vgl. Kowalski, wie Anm. 1. Als Handwerkerinschriften neben denen von Pilgern und Wallfahrern werden die Kritzeleien in der Bergkirche von Laudenbach, Stadt Weikersheim, wie Anm. 1, gedeutet. Eindeutig als Studenteneintragungen nachgewiesen sind 353 Kritzeleien, datiert ab 1591, an der Rückwand eines hölzernen gotischen Flügelaltars in der ehemaligen Wallfahrtskirche in Ziegenhain, Landkreis Jena. Vgl. dazu L. und K. Hallof, Studentenkritzeleien in der ehemaligen Wallfahrtskirche zu Ziegenhain bei Jena. In: Jena soll leben. Beiträge zum historischen Studentenleben der Universität Jena, Jena 1991, S. 19ff.
  3. Schreiben des Klosters vom 6. 9. 1623 an Herzog Friedrich Ulrich, NStA Wolfenbüttel, 11 Alt Marbg. Nr. 4.
  4. NStA Wolfenbüttel K 20036, Nr. 2 Durchschnitt über den Priechen von der Kloster Kirche zu Marienberg mit Nr. 1 Erklaerung der Buchstaben, von den Grundriss der Kirche zu Kloster Marienberg.
  5. Vgl. Hallof, wie Anm. 2.

Zitierhinweis:
DI 61, Stadt Helmstedt, Nr. 110 (Ingrid Henze), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di061g011k0011007.