Inschriftenkatalog: Stadt Hannover
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 36: Stadt Hannover (1993)
Nr. 6† Marktkirche 1350
Beschreibung
Messingtafel. Die Tafel befand sich an der Wand unter der Orgel. Sie wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Laut Mithoff1) gab es ein zweites Exemplar der Tafel mit gleichlautendem Text, das jedoch zu seiner Zeit nicht mehr erhalten war; die zweite Tafel soll sich in der Sakristei befunden haben. Eine Zeichnung der Tafel ist bei Grupen überliefert.2)
Inschrift nach der Zeichnung bei Grupen.
Schriftart(en): Gotische Minuskel.
Turris p(ri)ncipiuma) t(ri)a cb) numerantc) l et evumGracia romanad) fuit et pestis triduanaFune(r)a fle(n)s polise) hec t(ri)a milia me(n)sibus i(n) sexTu(n)c stimul(us) stoycosf) fuit utg) torquer(et)h) ebreosi)
Übersetzung:
Den Ursprung des Turms bezeichnen die Zahlen 350 und 1000. (Im gleichen Jahr) gab es den römischen Ablaß und die drei Tage dauernde Pest. Die Tatsache, daß diese Stadt in sechs Monaten 3000 Tote beklagte, wurde dann zum Anlaß, daß sie die (...) Juden quälte.
Versmaß: Einsilbig gereimte leoninische Hexameter.
Textkritischer Apparat
- p(ri)ncipium] so Meier, Hohmeister, Ising, Nöldeke, principia Hoppe, p(ri)maevum Redecker, Grupen, Mithoff, Hartmann, p(ri)mevum Inscriptiones, Reiche/Heiliger. Da Mithoff die Tafel nicht selbst überprüft hat, ist ein Irrtum an dieser Stelle nicht ausgeschlossen. Die Zeichnung Grupens läßt die sinnvollere Version principium zu, es muß lediglich die Unterlänge des zweiten p ergänzt werden.
- c] CCC Meier, Hohmeister, Ising, Nöldeke.
- numerant] nu(m)erant Reiche/Heiliger.
- romana] Romani Ising, Nöldeke.
- polis] bei Redecker in griechischen Buchstaben.
- stoycos] alle Überlieferungen. Die Stelle ergibt so keinen Sinn, auch wenn gerade in den älteren Überlieferungen hierüber lange Erörterungen angestellt werden. Woraus das Wort verlesen wurde, läßt sich nicht mehr rekonstruieren.
- ut] ur alle Überlieferungen. Die Verlesung erklärt sich aus der Ähnlichkeit von Minuskel-r und -t.
- torquer(et)] torque(n)s et alle Überlieferungen. Das r wurde mit einem Schaft-s verwechselt und die et-Kürzung am Wortende für ein eigenständiges tironisches et gehalten.
- ebreos] Hebraeus Meier.
Anmerkungen
- Mithoff, Kunstdenkmale, S. 65.
- Gedr. bei Mithoff, Archiv, Tafel III.
- Strubberg, Prediger, S. 98. Die Deutungen, die aus dem Zusammenhang von stimulus und stoycos auf das Auftreten von Geißlern schließen wollen und versuchen, auch der falschen Lesung ur noch einen Sinn zu geben, sind wenig überzeugend. Vgl. Grupen, Historia Ecclesiastica, fol. 789r-793v; Strubberg, Prediger, S. 98f.; Ising, S. 23–29, und auch noch Mithoff, Kunstdenkmale, S. 65, Anm.8.
- Vgl. Nöldeke, Kunstdenkmäler I, S. 77 Anm., und Deichert, Pest, S. 277.
- Vgl. Germania Judaica, Bd. 2,1, hg.v. Zvi Avneri, Tübingen 1968, S. 339.
Nachweise
- Grupen, Historia Ecclesiastica, Bd. 1, fol. 185v (Zeichnung), fol. 187r (Wiedergabe des Textes).
- Hohmeister, Aufzeichnungen, S. 197.
- Meier, Deliciae, p. 36.
- Inscriptiones, fol. 247v.
- Redecker, Bd. 1, fol. 142v.
- Reiche/Heiliger, fol. 2r (Zeichnung) u. 42r.
- Strubberg, Prediger, S. 98.
- Ising, S. 23.
- Mithoff, Archiv, Tafel III (Zeichnung Grupens).
- Ders., Kunstdenkmale, S. 65.
- Hoppe, Geschichte, S. 17.
- Hartmann, Geschichte, S. 37.
- Deichert, Pest, S. 276.
- Nöldeke, Kunstdenkmäler I, S. 77.
Zitierhinweis:
DI 36, Stadt Hannover, Nr. 6† (Sabine Wehking), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di036g006k0000602.
Kommentar
Bei der Inschrift handelt es sich um die früheste für die Stadt Hannover überlieferte gotische Minuskel. Die Zeichnungen zeigen klar voneinander getrennte Buchstaben, die Ober- und Unterlängen gehen – abgesehen vom q – nur wenig über die Zeilenbegrenzungen hinaus. Die einzelnen Worte sind durch Spatien deutlich voneinander unterschieden. Dieses Schriftbild der Zeichnungen entspricht nicht der üblichen engen, gitterartigen Ausführung der frühen gotischen Minuskel. Die Vermutung, daß die kopiale Überlieferung hier ein klareres Schriftbild zeichnete, als es die Inschrift tatsächlich bot, läßt sich noch weiter erhärten. Die Wiedergabe der Inschrift in den älteren Überlieferungen enthält Lesefehler, die sich auf eine gitterartige Schrift und die damit verbundene ähnliche Ausführung verschiedener Buchstaben durch eine Aneinanderreihung von Hasten zurückführen lassen.
Die verschiedenen Lesungen, die auch heute keine vollständige Rekonstruktion der ursprünglichen Inschrift erlauben, haben zu zahlreichen Spekulationen über den Inhalt des Textes geführt, wie Strubberg bereits 1731 konstatierte: Uber diese Knuppelhardos, welche wohl ein Mönch oder Rector Scholae wird gemacht haben, hat sich schon mancher den Kopf zubrochen.3) Die oft gedeutete Inschrift, die sich auf den Bau des Marktkirchenturms bezieht, erwähnt zwei weitere Besonderheiten des Jahres 1350. Zum einen war es von Papst Clemens IV. zum Jubeljahr erklärt worden, zum anderen wurde die Stadt Hannover 1350 von der Pest heimgesucht. Kennzeichen diese Epidemie war – wie in der Inschrift erwähnt –, daß die Erkrankten ihr entweder innerhalb von drei Tagen erlagen oder aber mit dem Leben davonkamen. Die Inschrift ist charakteristisch für Texte und Inschriften, die auf die Pest Bezug nehmen und auch andernorts in dieser Form auftreten. Konstitutives Element ist die Erwähnung der mit dem Auftreten der Pest verbundenen Judenverfolgung.4) Der topische Charakter solcher chronikalischer Angaben relativiert allerdings deren Zeugniswert. Bislang gilt die Inschrift als der einzige Beleg dafür, daß in Hannover 1350 eine Judenverfolgung stattgefunden hat.5)