Inschriftenkatalog: Stadt Hameln
Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.
DI 28: Hameln (1989)
Nr. 76† St. Nicolai 1572
Beschreibung
Glasgemälde mit einer Darstellung der Sage vom Hamelner Kinderauszug, vgl. Einleitung Kap. 3.1.4. Form, Inhalt und Sprache der Grabinschriften. Bis 16601) befand es sich im Ostfenster des südlichen Seitenschiffs der Marktkirche. Nach Angaben Erichs war das Fenster zwischen zwei Beichtstühlen „abseitig gegen dem Rathsstuel uͤber“ situiert. Dargestellt war ein Mann in bunten Kleidern, umgeben von einem „hauffen Kinder (...) sampt andern Umbstaenden“2). Über den Ort der Inschrift auf dem Glasgemälde ist nichts mitgeteilt, sie war bereits zu Zeiten Erichs teilweise zerstört.
Inschrift nach Erich.
AM DAGE JOHANNES / UND PA[U]LI3) [. . .]a)SINT BINNEN / HAMMELEN GE/BARENTHO K[. .]VARIEb) UNDE /DORCH [. . . .] / ALLERLEI GE[. .] /DEN KOPPEN[. . .] / [. . . . . . .] /ANNO 1572
Textkritischer Apparat
- Erich markiert die nicht mehr lesbaren Stellen mit Strichen, die in der Länge etwa dem ausgefallenen Text entsprechen. Diese Striche sind hier durch Punkte in eckigen Klammern wiedergegeben.
- Zu ergänzen ist wahrscheinlich K[AL]VARIE.
Anmerkungen
- Im Jahr 1660 ließ der Kanzler Justus Kiepe (vgl. Nr. 159) das alte Glasbild der Marktkirche durch ein neues ersetzen, vgl. Hannoversche Annalen eines unbekannten Autors um 1700, zitiert und abgebildet bei Dobbertin, Nr. 103 und Abb. 2.
- Erich, S. 38.
- 26. Juni.
- Vgl. Johannes Letzner, Hildeßheimbsche Chronica, V. Buch „Von den großen unndt kleinen stedten“ 36. Capitel. Zitiert nach Dobbertin Nr. 44 c.
- (Wie Anm. 4.)
- Lucas Lossius, Ecclesiasticae historicae et dicta imprimis memorabilia, et item narrationes aliquot et epigrammata. Frankfurt 1571, S. 264f., zitiert bei Dobbertin Nr. 15. – Ein Exemplar dieses Drucks besitzt die Ratsbücherei Lüneburg unter der Signatur HL 83.
- Dobbertin Nr. 1.
- Willy Krogmann, Der Rattenfänger von Hameln. In: Rheinisch Westfälische Zeitschrift für Volkskunde 14 (1967), S. 130–150, spez. S. 136.
- Hans Dobbertin, Die Jahreszahl der Kinderausfahrt. In: Jahrbuch 1982/84, S. 85–94, spez. S. 87.
- Hucker, S. 51–60, spez. S. 58.
- Dobbertin (wie Anm. 9), S. 92.
Nachweise
- Erich, S. 39.
- Alle weiteren Überlieferungen hängen von Erich ab.
Zitierhinweis:
DI 28, Hameln, Nr. 76† (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di028g004k0007600.
Das Glasbild wurde von dem Hamelner Bürgermeister Friedrich Poppendieck gestiftet, „damit es taglich beide Eltern vnnd Kindern zum Spiegel für augen stünde, vnnd Ihnnen nimmermehr auß dem dedachtnüß kähme“4). 1572 bezeichnet das Jahr dieser Stiftung, nicht das Datum des in der Inschrift berichteten Kinderauszugs. Fraglich ist, ob es sich bei dieser Stiftung lediglich um eine Reparatur eines älteren Bildes handelte, oder ob Poppendieck ein völlig neues Glasbild in Auftrag gegeben hat. Die Formulierung Johannes Letzners in der »Hildeßheimbschen Chronica«, daß „Friedrich Poppendieck (...) auf seine Vnkosten in der MarckKirch zu Hamelen in ein groß Finster der obbenannten Kinder außgang gantz kurtz vnndt schon machen vnndt setzen laßen“5) hat, deutet eher auf eine Neuanfertigung hin. Dagegen bezeugt die Hameln-Beschreibung des Lüneburger Lateinschulrektors Lucas Lossius, die ein Jahr vor der Stiftung Poppendiecks erschienen ist, daß schon vorher ein Glasbild mit einer Darstellung des Kinderauszugs in einer der Hamelner Kirchen vorhanden gewesen ist6).
„Annales factum veteres testantur in vrbePictura et vitrea est testis in aede vetus“
In welchem Verhältnis dieses bei Lossius erwähnte Bild zu dem von Poppendieck gestifteten steht, ist aufgrund fehlender Quellen nicht mehr festzustellen. Die Inschrift dürfte im vorliegenden Wortlaut erst 1572 entstanden sein. Dobbertins Datierung des Textes auf „um 1300“7) ist abzulehnen,, da sich kein Anhaltspunkt dafür finden läßt, daß diese Inschrift bereits auf dem älteren von Lossius erwähnten Bild gestanden hat.
Der von Erich überlieferte Text der Inschrift ist in der wiedergegebenen Fassung sicherlich fehlerhaft, da der in den meisten inschriftlichen Überlieferungen des Hamelner Kinderauszugs (vgl. z. B. Nr. 107) zu beobachtende Zusammenhang von Kalvarie und Koppen zerrissen ist. Offenbar liegt bei Erich eine Vertauschung zweier Zeilen vor, deren Grund vielleicht darin zu sehen ist, daß die Inschrift nicht fortlaufend auf dem Bild aufgezeichnet war, sondern nach Art von Bildbeischriften oder Spruchbändern jeweils einzelne Zeilen bei den Szenen der Darstellung gestanden haben. Die Überlieferung Erichs hat im wesentlichen zu drei Rekonstruktionsversuchen geführt:
1. Krogmann:
AM DAGE JOHANNES / UND PAULI CXXX KINDER /SINT BINNEN / HAMMELEN GE/BAREN THO KAL/VARIE UNDER DEM KOPPEN VERLAREN / DORCHEINEN PIPER VERLEDET IN / ALLERLEI FARVE GEKLEDET8)
2. Dobbertin:
Am dage ioannis / et Pa(u)li (cxxx) / sintbinnen / Hammelen ge/(varen) tho K(al)varieunde / dorch (geled in) / allerlei ge(var) /(g)en Koppen (ver/bracht unde verloren)9)
3. Hucker:
Anno 1284. AM DAGE JOHANNES UND PAULIIST GEWESEN DER 26TE (DACH DES MANTES) JUNIISINT DORCH EINEN PIPER MIT ALLERLEI FARVE GEKLEDETHUNDERT UND DRITTICH (bzw. CXXX) KINDER VERLEDETSINT BINNEN HAMELN GEBARENTHO KALVARIE UNDE DEN KOPPEN VERLAREN10)
Dobbertins Rekonstruktionsversuch liegt die Annahme zugrunde, die Hamelner Kinder seien unter der Führung des Grafen Nikolaus von Spiegelberg „in aller Gefahr gen Kopahn (bei Rügenwalde an der Ostsee) verbracht worden, bevor sie um den 22. Juli 1284 zu Schiff auf einer Fahrt in den preußisch-livländischen Deutschordensstaat“ untergegangen sind11). Da diese Auffassung über den historischen Kern der Rattenfängersage zweifelhaft ist, sind die aus ihr folgenden Konjekturen ebenfalls fragwürdig. Die von Dobbertin vorgenommenen Änderungen an Erichs Überlieferung: gevaren statt gebaren in Zeile 2 und gen statt den in Zeile 5 sind nicht überzeugend. Noch weiter als Dobbertin entfernt sich die von Bernd Ulrich Hucker vorgeschlagene Textfassung von Erich. Hucker geht davon aus, daß die Inschrift in der Form eines historischen Merkverses abgefaßt war. Da Erichs Wiedergabe für diese Annahme keinen Anlaß gibt, bleibt auch Huckers Rekonstruktionsversuch zweifelhaft. Am ehesten überzeugen kann Krogmanns Fassung, da sie eng an Erichs Übelieferung bleibt, lediglich Zeile 8 nach Zeile 5 setzt und so den bei Erich verlorengegangenen Zusammenhang von Kalvarie und Koppen wiederhergestellt hat, der – wie bereits ausgeführt – auch durch andere inschriftliche Zeugnisse belegt ist.