Inschriftenkatalog: Stadt Hameln

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 28: Hameln (1989)

Nr. 11 St. Bonifatii Ende 14. Jh.

Beschreibung

Gedenkstein1) des Grafen Bernhard und der Gräfin Christina, konisch. Kalksandstein. Der Stein befindet sich rechts neben der Treppe zum Hohen Chor. Im 16. Jahrhundert stand er „hinter dem newen Altar“2). In den sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts wurde er auf Veranlassung des Stiftsdekans Rudolf Moller restauriert3), Ende des 19. Jahrhunderts lag er mit anderen Epitaphien in der Vorkrypta4). Der Gedenkstein ist stark beschädigt, auch Teile der Inschrift sind beeinträchtigt5). – Im Bildteil sind dargestellt Graf Bernhard mit Brustpanzer und Umhang, in der Rechten ein Schwert haltend, und seine Gemahlin, bekleidet mit einem weichfallenden Gewand und Kopfschleier. Beide Figuren stehen unter von Giebeln überhöhten Bögen mit gotischem Maßwerk. Sie halten ein Modell der Bonifatiuskirche, das diese als Hallenkirche in Südansicht mit zwei Türmen, dem West- und dem Vierungsturm zeigt. Zu Füßen des Paares ein Wappen. Die Inschrift läuft dreiseitig um den unteren Teil des Steins herum, die Unterlängen weisen nach außen. Die Umschrift beginnt etwa in Kopfhöhe der Figuren. – Der Stein ist farbig gefaßt, Reste von schwarzer Farbe in der eingehauenen Inschrift.

Maße: H.: 207 cm; B.: 128 cm; Bu.: 7 cm.

Schriftart(en): Gotische Minuskel.

Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege [1/1]

  1. [ + ]a) anno d(omi)ni dcc · x ii · · bernardusb) com[es]c) / [xp]inad) · comitissa · regn[i]e) · angarif) / [de osten]a) [f]undarunt · hanc · ecclesi[am]

Übersetzung:

Im Jahr des Herrn 712 haben Graf Bernhard [und] Christina, Gräfin der Herrschaft Angari [Enger] und Osten [Ohsen], diese Kirche begründet.

Wappen:
?(Schild längsgeteilt, rechts halber Adler, linkes Feld mit heraldischen Lilien besät)6)

Kommentar

Die auf dem Stifterstein verwendete gotische Minuskel ist gekennzeichnet durch das Fehlen von Versalien sowie ausgeprägten Unterlängen, g in angari steht auf der Mitte der Zeile. Oberlängen bei b, l und Schaft-s sind dagegen zu beobachten. Die Buchstaben stehen einzeln, und die Wortabstände sind deutlich ausgeprägt, so daß der Eindruck einer Gitterschrift, den die gotische Minuskel der späteren Zeit oft vermittelt, hier nicht gegeben ist. Dieser Schriftbefund stützt die von Klaus Naß aufgrund der Analyse des Wappens vorgeschlagene Datierung auf die letzten zwei Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts7). Die Inschrift nimmt Bezug auf die Gründung des Bonifatiusstifts als adelige Eigenkirche durch einen im Weserraum begüterten Grafen Bernhard und seine Frau Christina8). Das in ihr genannte Gründungsdatum 712 ist Bestandteil der Hamelner Gründungstradition, es läßt sich aber nicht mit den historischen Fakten in Einklang bringen. Naß9) vermutet als Ursache für die falsche Datumsangabe entweder einen Lesefehler oder eine Interpolation aus der Zeit vor 1300. Sofern ein Lesefehler anzunehmen ist, liegt es nahe, als Ausgangszahl D CCC II zu konjizieren, die in D CC X II verschrieben wurde. Daneben ist auch zu erwägen, ob die Gründung vielleicht bewusst vordatiert wurde und auf diese Weise mit den Lebensdaten des hl. Bonifatius (672/75–754) in einen Zusammenhang gebracht worden ist.

Die in der Inschrift genannten Stifter Bernhard und Christina von Angari und Osten sind genealogisch nicht näher festzulegen. Klaus Naß vermutet in dem genannten Bernardus einen „Stiftergrafen im Reichsdienst und in hervorgehobener Stellung im Weserraum“, möglicherweise ist er mit einem in Höxter begüterten Bernardus comes identisch10). Die Herkunftsbezeichnungen angari und osten sind wahrscheinlich als Enger und Ohsen zu deuten. Das in Westfalen gelegene Enger ist das legendäre Königreich Widukinds, an dessen Geschlecht die Hamelner Gründungstradition den Grafen Bernhard angeschlossen hat11). Der Name de osten ist außer auf dem Stifterstein auch in der Chronik des Johann von Pohle (vgl. Nr. 8) bezeugt. Der Ort ist vermutlich mit Kirch-Ohsen bei Hameln zu identifizieren. Dort war ein Zweig der Hamelner Stiftsvögte von Everstein ansässig, der ein Wappen geführt hat, das dem auf dem Stifterstein ähnelt (in gespaltenem Schild vorn ein halber Adler, hinten drei Balken). Möglicherweise hat diese Ähnlichkeit der Wappen Anlaß gegeben, das Stifterpaar mit der Familie Everstein-Ohsen in Beziehung zu setzen. Diese Verbindung schreibt Naß dem späten 14. Jahrhundert zu, sie gehört nicht zum ursprünglichen Gründungswissen um Bernhard und Christina12).

An sicheren Daten ist über den Hamelner Stifter aus den Fuldaer Cartularexzerpten13) zu ermitteln, daß er zwischen 802 und 822 als Fuldaer Schenker im Tilithigau bezeugt ist, Bernhard und seine Gemahlin Christina zwischen 822 und 828/30 gestorben sind und ihr gesamtes Erbgut nach ihrem Tod als Seelgerätstiftung an das Kloster Fulda gefallen ist. Ihre Memorie wurde am 1. November gefeiert, später am 31. Oktober14).

Textkritischer Apparat

  1. Ergänzt nach Rothert.
  2. bernardus] Von n bis s Inschrift erneuert.
  3. come[es]] comes et Herr, Leo, Meissel. Die Ergänzung des et ist aus Platzgründen zweifelhaft, es könnte höchstens als tironisches et ausgeführt gewesen sein.
  4. [xp]ina] Zu lesen ist cristina.
  5. regn[i]] fehlt Rothert, Mithoff, Meissel.
  6. angari] angariae Herr, Leo; angarie Mithoff, Rothert; angarie(ae) Meissel; angari[e] Naß. Die von Naß vorgenommene Ergänzung des e ist grammatisch korrekt, sie ist aber vom äußeren Befund her aus Platzgründen problematisch. Nach dem i ist in diesem stark zerstörten Teil der Inschrift kein weiterer Buchstabe erkennbar, vielmehr folgt rechts die senkrechte Begrenzungslinie der Umschrift. Da sich rechts oberhalb des r noch eine kleine Vertiefung befindet, ist auch die Lesung angarie zu erwägen, sofern man den Schaft des letzten Buchstabens nicht als i sondern als Rest eines e deutet.

Anmerkungen

  1. Naß, Untersuchungen, S. 29, hält es für wahrscheinlich, daß dieser Stein als Grabmal des Stifterpaares gedient hat, da die nach außen gekehrten Unterlängen der Inschrift auf eine ehemals horizontale Lage hindeuten. Für eine Bezeichnung als Grabstein spricht auch die Tatsache, daß das heute verschollene Kellereiregister des Stifts empfiehlt, ein seidenes Tuch über dem sepulchrum der Kirchengründer auszubreiten. Eine Klage des Stiftskapitels von 1564 erwähnt das monumentum und begrebnis weiland graf Bernhards. – Gegen die Auffassung, dieser Stein sei ein Grabmal, spricht die Tatsache, daß die Umschrift die Form einer Stiftungsinschrift und nicht die einer Grabinschrift hat.
  2. Vgl. Erich, S. 47.
  3. Bericht des westfälischen Geschichtsschreibers Reiner Reineccius (1541–1595), Widechindi magni, regis Saxonum dynastae Angrivariorum, et illustriss. stirpis Saxonicae, multarumque aliarum praepotentium familiarum, conditoris, effigies, insignia, versus epitaphii cum subjecta appendice de Angrivariis, Angaria oppido et ibidem vetusti operis Widechindi monumento. In: Ders., Historiae tam sacrae quam profanae cognitio. Frankfurt, Leipzig 1685, S. 192f.
  4. Vgl. Meissel, S. 35.
  5. Naß (wie Anm. 1) geht davon aus, daß diese Beschädigungen aus der Zeit der französischen Besatzung um 1803 stammen (S. 65).
  6. Bei dem Wappen handelt es sich um das Phantasiewappen Karls des Großen, das man später als Amtswappen des sagenhaften Herzogs von Sachsen gedeutet hat. Ausgehend von diesem Verständnis wurde dann angenommen, es sei das Wappen des Widukindgeschlechts, dem die beiden Stifter angesippt worden sind. Näheres dazu siehe bei Naß (wie Anm. 1), S. 26. Naß nimmt aufgrund des Wappens 1360/70 als terminus post quem für die Entstehung des Steins an, da aus dieser Zeit die frühesten Bezeugungen des Wappens stammen.
  7. Vgl. Anm. 6.
  8. Der folgende Kommentar beruht auf Naß, Untersuchungen, der die Gründungsgeschichte des Bonifatiusstifts detailliert dargelegt hat. Näheres siehe dort, S. 14–109.
  9. Vgl. Naß (wie Anm. 1), S. 96.
  10. Ebd., S. 100, 109.
  11. Ebd., S. 26.
  12. Ebd., S. 27f.
  13. Ebd., S. 79.
  14. Ebd., S. 31.

Nachweise

  1. Herr, S. 129.
  2. Reineccuis (wie Anm. 3), S. 192f.
  3. Leo, S. 14.
  4. Rothert, S. 83.
  5. Mithoff, Kunstdenkmale, S. 53.
  6. Meissel, Inschriften, S. 35.
  7. Naß, Untersuchungen, S. 24.

Zitierhinweis:
DI 28, Hameln, Nr. 11 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di028g004k0001109.