Inschriftenkatalog: Stadt Hameln

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 28: Hameln (1989)

Nr. 111 Hochzeitshaus 1610

Beschreibung

Hausinschriften. Steinbau, dreigeschossig und zwei Dachgeschosse, traufenständig zur Osterstraße. In der Gestaltung der Fassade herrscht die horizontale Gliederung vor: Die südliche Traufenseite ist mit alternierenden Glatt- und Rauhbändern verziert. Die vertikale Gliederung der südlichen Traufenseite ist im Erdgeschoß durch drei Portale gegeben: links das große rundbogige Eingangsportal, umgeben von einem Bogen aus Ziersteinen. In der Mitte ein kleineres Portal, flankiert von zwei Säulen, mit aufgesetztem dreieckigen Giebel. Rechts ein ebensolches Portal. Die beiden Obergeschosse weisen außer den schmalen Fenstern keine vertikale Gliederung auf. Am Dachgeschoß befinden sich drei Zwerchhäuser, geschmückt mit Doppelvoluten an den Giebeln. Die Zwerchhäuser führen die mit den Portalen im Erdgeschoß begonnenen vertikalen Linien fort.

In die horizontale Gliederung der südlichen Traufenseite fügt sich auch der große Fries mit den Inschriften A–D ein. Inschrift A links vom rundbogigen Eingangsportal. Über dem Portal im Fries das Wappen der Stadt Hameln, darüber die Darstellung des Stifts St. Bonifatii im Halbrelief. Rechts davon Figur der Justitia mit Schwert in der Rechten und Waage in der Linken. Daneben eine weibliche Figur mit Kruzifix in der Rechten (Fides). Inschrift B links über dem zweiten, im Erdgeschoß befindlichen Portal, daneben vollplastischer Kopf mit Helm. Rechtsseitig folgt auf dem Fries das Wappen der Stadt Hameln, gehalten von zwei Löwen. Inschrift C schließt sich rechts an, daneben ebenfalls ein vollplastischer Kopf. Inschrift D oberhalb des dritten im Erdgeschoß befindlichen Portals.

Am westlichen und östlichen Giebel des Hochzeitshauses setzen sich die horizontalen Bänder fort, vertikale Gliederung fehlt hier, abgesehen von den Fenstern. Das Dachgeschoß ist mit Voluten verziert. Am östlichen Giebel Jahreszahl E. Neukirch geht davon aus, daß sich am östlichen Giebel eine Utlucht1) befunden hat, von der heute äußerlich keine Spuren mehr nachzuweisen sind. Die nördliche, der Marktkirche zugewandte Traufenseite ist schmucklos. Die hier befindliche Utlucht ist jüngere Zutat (vgl. Nr. 92). Herr2) beschreibt eine breite steinerne Treppe an der Westseite, die zur dritten Etage führte, deren Geländer mit „allerhand Bildhauer Arbeit geziert“ waren. An der Treppe befand sich das Hamelner Wappen und „in der Gegend der Obersten Stufe“ die Jahreszahl F. Spanuth hat noch auf einzelne Meistersignaturen hingewiesen3). Auch mit Kenntnis dieser Signaturen ist die Frage nach dem Baumeister nicht zu klären. Nach Meinung Spanuths wie Neukirchs geht der Gesamtplan des Hochzeitshauses auf Johann Hundertosse d. J. zurück4). Dagegen nehmen Gaul und mit ihm Kreft und Soenke an, Eberhard Wilkening sei der Baumeister5). Hinsichtlich der Bauweise zeigt das Hochzeitshaus vor allem durch die Anlage der Zwerchhäuser Parallelen zum Schloß Hämelschenburg. Anhaltspunkte für die Entscheidung der Baumeisterfrage sind daraus aber nicht zu gewinnen, da für das Schloß Hämelschenburg die Baumeisterfrage ebenfalls nicht geklärt ist. Die Fassade des Hochzeitshauses war farbig gefaßt6).

Inschrift F nach Herr.

Maße: Bu.: 10 cm.

Schriftart(en): Kapitalis (A–D).

Christine Wulf [1/4]

  1. A

    HAEC DOMVS AD IVSTAE FORMATA EST PONDERA LIBREAEQVATAEa) LIBRAE PONDERA PONDVS HABENTIDCIRCO VIDEATb) PRAESENSc) RELIQVIQ(VE) MINISTRISEMPER VT AEQVATA PONDERA LANCE TRAHANTd)

  2. B

    ANNOS SEXCENTOSe) NVMERABANT MILLE DECEMQ(VE)HAEC DOMVS A DOMINIS CVM RENOVATA FVITPHARMACA COLLECTIS HICf) CONCINNANTVRg) AB HERBISHIC DVBIVS MEDICAM CONSVLIT AEGER OPEM

  3. C

    NACHTh) CHRISTI GEBVRT · 1284 · IAHRGINGEN BIi) DEN KOPPEN VNTER VERWAHRHVNDERVNDDREISSIGk) KINDER IN HA MELN GEBORNl)VAN EINEM PFEIFFER VERFVRTm) VND VERLOHRENn)

  4. D

    HIC FESSO HOSPITVM CVR ARVM DVLCEo) LEVA MENCONDITVR INTRACTIp) PACIS AMICAq) QVIESVIS THRACVMr) LITES REMOVENDAE PACE FRVENDVMET SERVENSs) COCTO FONTEt) LEVENDAu) SITIS

  5. E

    1612

  6. F

    1617

Übersetzung:

Dies Haus ist erbaut für die Gewichte der gerecht wiegenden Waage. Gerechtes Wiegen ist von großem Gewicht.

Deshalb sollen der gegenwärtige und die zukünftigen Bediensteten darauf achten, daß sie immer mit ausgeglichener Waagschale die Gewichte abnehmen. (A)

Man zählte 1610 Jahre, als dies Haus von seinen Besitzern erneuert wurde. Hier werden Arzneien aus gesammelten Kräutern hergestellt, hier sucht der ratlose Kranke medizinische Hilfe. (B)

Hier ist dem müden Einkehrenden eine Herberge geschaffen, süße Erleichterung von seinen Sorgen und freundliche Ruhe des Friedens. Grobe Gewalttätigkeit und Streit sollen hier keinen Platz haben, man soll den Frieden genießen, und der brennende Durst soll mit Bier gelöscht werden. (D)

Versmaß: Je zwei Distichen (A, B, D).

Kommentar

Zur Schrift ist zu bemerken, daß A immer mit gebrochenem Mittelbalken ausgeführt ist. Die Schrift hat leichte Rechtsneigung, die durch die Ligaturen immer wieder durchbrochen wird, so daß an einigen Stellen der Eindruck von Unregelmäßigkeit entsteht. – Inhaltlich nehmen die drei lateinischen Vierzeiler jeweils Bezug auf Institutionen, die damals im Hochzeitshaus untergebracht werden sollten oder untergebracht waren: die Stadtwaage (Inschrift A), die Apotheke (Inschrift B) sowie die Ratsschenke (Inschrift D). Während Apotheke und Ratsschenke sich im Hochzeitshaus befunden haben, ist die Ratswaage hier offenbar nie installiert worden. Sie war im gegenüberliegenden Haus „Zum neuen Schaden“, heute Osterstr. 3, untergebracht. Die lateinischen Inschriften stehen jeweils im funktionellen Zusammenhang mit dem Gebäude, um so erstaunlicher ist das Auftreten einer deutschen Inschrift ganz anderer Thematik in diesem Kontext. Inschrift C gibt in einem historischen Spruch die Ereignisse des Kinderauszugs wieder, näheres dazu vgl. Einleitung Kap. 3.2.3 Sprache, Form und Thematik der Hausinschriften. Die inschriftliche Ausführung dieser Sage hier wie auch am Neuen Tor (vgl. Nr. 45) zeigt, daß sich Hameln als Stadt des sagenhaften Kinderauszugs verstanden und dargestellt hat. Inschrift E bezeichnet nach Spanuth7) das Jahr der Fertigstellung dieses Teils im Rohbau, Inschrift F nennt das Datum des Bauabschlusses.

Textkritischer Apparat

  1. AEQVATAE] Arquatae Sprenger, Meissel.
  2. VIDEAT] videant Sprenger, Meissel.
  3. PRAESENS] praeses Rothert.
  4. TRAHANT] trahent Meissel.
  5. SEXCENTOS] sexentos Meissel.
  6. HIC] his Meissel.
  7. CONCINNANTVR] conciunantur Sprenger, Meissel.
  8. NACHT] Nach Herr, Meissel.
  9. BI] bei Meissel.
  10. HVNDERVNDDREISSIG] Hundertunddreißig Meissel.
  11. GEBORN] geboren Meissel.
  12. VERFVRT] verfürt Herr, Meissel.
  13. VERLOHREN] verloren Meissel.
  14. DULCE] dulec Meissel.
  15. INTRACTI] Fehlerhaft für INTRANTI, so emendierten Mithoff, Meissel und Sprenger. Die emendierte Fassung liegt der Übersetzung zugrunde.
  16. AMICA] amice Meissel.
  17. VIS THRACVM] J. Barclay (Satiricon, IV. Icon animorum. Leiden 1674, S. 401) nennt die zur Gewalttätigkeit neigende Trunksucht (vgl. den Streit der Kentauren mit den Lapithen) eine „Thracica libido“.
  18. SERVENS] Fehlerhaft für FERVENS, so emendieren Mithoff, Meissel und Sprenger.
  19. FONTE] fonto Rothert.
  20. LEVENDA] Fehlerhaft für LEVANDA, so emendieren Sprenger, Mithoff und Meissel.

Anmerkungen

  1. Vgl. Neukirch, S. 106.
  2. Vgl. Herr, S. 393. Herr gibt eine ausführliche Beschreibung des Hochzeitshauses auf den Seiten 392–396.
  3. Vgl. Heinrich Spanuth, Die Hamelner Weser-Renaissance – ihre Ursprünge und ihre Austrahlungen. In: Klüt 1941, S. 57. Er weist darauf hin, daß die Lesung der Meisterzeichen unsicher ist, über den Ort der Meisterzeichen teilt er nichts mit.
  4. Vgl. Neukirch, S. 106f. – Spanuth (wie Anm. 3).
  5. Vgl. Otto Gaul, Renaissancebaumeister in Lippe. In: Mitteilungen aus der lippischen Geschichte und Landeskunde, Bd. 23 (1954), Kap. Eberhard Wilkening, S. 17–21. – Vgl. auch Kreft/Soenke, S. 267f.
  6. Vgl. Bühring, S. 200f.
  7. Vgl. Spanuth (wie Anm. 3).

Nachweise

  1. Herr, S. 391ff.
  2. 2Sprenger, S. 64f. (A, B, D).
  3. Mithoff, Kunstdenkmale, S. 59.
  4. Rothert, S. 29f.
  5. Meissel, Inschriften, S. 41–43.
  6. Spanuth (wie Anm. 3), S. 57.
  7. Kreft/Soenke, Abb. 171, 172.

Zitierhinweis:
DI 28, Hameln, Nr. 111 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di028g004k0011104.