Inschriftenkatalog: Stadt Hameln

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 28: Hameln (1989)

Nr. 45 Museum 1531/1556

Beschreibung

Bauinschriften auf einem zweiteiligen Stein, der ehemals in der Mauer am Neuen Tor angebracht war1). Kalksandstein. Das ältere hochrechteckige Oberteil ist umgeben von einer vorgewölbten Kante, im vertieften Mittelfeld Inschrift A, auf einem Tartschenschild das Mühlsteinwappen der Stadt Hameln. Dieses ältere Oberteil steht auf einem querrechteckigen jüngeren Sockel, der ebenfalls mit vorgewölbten Kanten umgeben ist. Die Tatsache, daß sich die Kantenprofile des oberen Steins im unteren fortsetzen, spricht dafür, daß der Sockel im Hinblick auf eine gemeinsame Aufstellung mit dem älteren Oberteil gehauen worden ist. Im Innenfeld des Unterteils Inschrift B. Der Stein ist mehrfach versetzt worden, nach Abbruch des Neuen Tors befand er sich an Privathäusern, Meissel2) hat ihn Ende des 19. Jahrhunderts in der Krypta der Münsterkirche gesehen. Seit 1934 gehört der Stein zu den Beständen des Museums3).

Maße:
Oberteil: H.: 83 cm; B.: 59 cm; Bu.: 7 cm (A). – Gotische Minuskel.
Unterteil: H.: 37 cm; B.: 78 cm; Bu.: 5–5,6 cm (B). – Kapitalis (Zeile 1); gotische Minuskel mit Elementen der humanistischen Minuskel (Zeilen 2 und 3).

Christine Wulf [1/2]

  1. A

    A(n)no · d(omi)ni · / M · ccccc · / vn(d)a) xxxi ·

  2. B

    ANNOb) · 1556 ·Centu(m) terc) denos c(um) mag(us)d) ab urbe puellose)Duxerat a(n)te a(n)nosf) 272g) c(on)dita porta fuith)4)

Übersetzung:

Im Jahr 1556, als vor 272 Jahren ein Zauberer 130 Knaben von der Stadt weggeführt hatte, ist das Tor erbaut worden.

Versmaß: Distichon (B), der Hexmeter leoninisch gereimt.

Kommentar

An Inschrift A ist die Gestaltung des als Versalie ausgeführten A in Anno bemerkenswert. Es hat die Grundform eines kapitalen I mit ausgeprägter oberer und unterer Trabs, mit Hilfe eines von der Zeile bis zur Mitte der oberen Trabs reichenden Schrägbalkens wird die Gestalt eines A erreicht. – In Inschrift B sind die Datumszeile in Kapitalis, die beiden darunter befindlichen Zeilen in einer ligaturenreichen gotischen Minuskel ausgeführt. Ungewöhnlich sind hier die at-Ligaturen in Duxerat und die it-Ligatur in fuit. In beiden Fällen ist das t nur in Form eines kleinen Sporns an den voraufgegangenen Vokal angeschlossen. Damit erklärt sich die fehlerhafte Lesung fui für fuit (vgl. Anm. h.).

Das in Inschrift A genannte Datum wird gemeinhin als Baudatum des Neuen Tors aufgefaßt. Da das Neue Tor aber bereits in der ‚Beschreibung des Großen Stiftszehnten‘ von 1470/80 erwähnt ist: Item buten dem niggen dore, kann 1531 nur das Datum eines Umbaus bezeichnen5). Es ist auch nicht auszuschließen, daß der Stein aus ganz anderen Zusammenhängen stammt, da die Inschrift des oberen Teils nicht speziell auf die Erbauung eines Tors Bezug nimmt. Wie das Datum in Inschrift B zu dem in Inschrift A in Beziehung zu setzen ist, ist fraglich. Spanuth6) vermutet, daß mit 1556 das Jahr einer Erneuerung des Tors nach einem Brand bezeichnet sein könnte7). Die unter der Jahreszahl befindlichen Verse enthalten eine zweite Datierung in einer vermeintlichen Hamelner Sonderzeitrechnung8): im 272. Jahr nach dem Auszug der Hamelner Kinder9). Unter der Voraussetzung, daß der Kinderauszug auf 1284 zu datieren ist, ergibt sich aus den lateinischen Versen das Datum 1556. Wahrscheinlich ist dieser Inschrift aber weniger Bedeutung als zusätzliche Datierung beizumessen. Vielmehr dürfte sie der städtischen Selbstdarstellung gedient haben: Hameln wollte sich dem am Neuen Tor Ankommenden als Stadt des sagenhaften Kinderauszugs präsentieren.

Textkritischer Apparat

  1. vn(d)] vii Sprenger. – Dobbertin löst die Abkürzung in vn(de) auf.
  2. Beide N retrograd.
  3. centu(m) ter] centuter Hamelsche Anzeigen; centu(n) Meissel; centu(n) ter Rothert; Centu ter Meissel, Beschreibung.
  4. mag(us)] Magnos Letzner, Baring.
  5. puellos] pullos Hamelsche Anzeigen. – Die letzten beiden Buchstaben befinden sich auf dem vorspringenden Profil.
  6. a(n)nos] fehlt Sprenger; Meissel, Beschreibung.
  7. Die Jahreszahl bleibt bei der Lesung des Verses unberücksichtigt.
  8. fuit] fui Herr; Sprenger; Spanuth, Rattenfänger.

Anmerkungen

  1. Vgl. Fein, S. 10. – Nach einem anonymen, auf die Darlegungen Feins gründenden Artikel in den Hamelschen Anzeigen soll sich der Stein zunächst am Wettor befunden haben und ist dann an das Neue Tor versetzt worden (vgl. Hamelsche Anzeigen 1873, S. 462 ff.). – 2Sprenger (S. 14) und Meissel, Beschreibung (S. 19), nehmen dagegen an, daß Thie- und Wettor vor 1531 zerstört worden sind und dafür 1531 das Neue Tor errichtet wurde.
  2. Vgl. Meissel (wie Anm. 1).
  3. Vgl. Spanuth, Rattenfänger, S 45.
  4. Das Formular der Inschrift erinnert an ein anonymes, bei Erich (S. 34) dem Hamelner Schulrektor Hannibal Nullejus zugeschriebenes Epigramm (vgl. Spanuth, Rattenfänger, S. 47):
    Urbs, Hameloa, tuis annalibus erue, centum
    Ter denos pueros abstulit arte magus.
    Caussa Deo constat. Tibi cura sit unica natos
    Erudisse tuos in pietate Dei.
  5. Vgl. HUB II, Nr. 444 (S. 276). – Bereits Spanuth, Rattenfänger, S. 46 hat auf diese Diskrepanz hingewiesen.
  6. Vgl. Spanuth, Geschichte II, S. 18.
  7. Herr erwähnt S. 673 für das Jahr 1551 einen Brand, bei dem 100 Häuser vernichtet wurden. – Spilcker berichtet von einem Brand im Jahr 1560 (S. 58).
  8. Letzner bezeugt eine Hamelner Sonderzeitrechnung „nach Auszug der Kinder“ in seiner »Chronica von den Stift-Hildesheimischen Städten« im V. Buch im 36. Kapitel: „Man hatt zu Hamelen auffm Rahtthause, vnndt auch sonst lange Zeitt den gebrauch gehabtt vnnt gehaltten, daß sie ihre Brieffe, in dem Jahre, nach außgang Ihrer Kinder datieret und geben haben“. – Daniel Eberhard Baring bezweifelt in seinem Sendschreiben an Herrn Christoph Friedrich Fein die Existenz dieser Hamelner Sonderzeitrechnung (vgl. Fein, S. 30), weder im Donat noch in alten Urkunden habe er sie gefunden. Im Donat war sie allerdings verzeichnet, vgl. HUB I, Nr. 430, Anm. d.: „Eine Hand vom Anf. d. 16. Jahrh. setzt hinzu: post exitum puerorum 283“. Die entsprechende Stelle aus dem Donat ist abgebildet bei Dobbertin, Abb. 4. – Dobbertin datiert den Zusatz im Gegensatz zum HUB ins 14. Jahrhundert und nimmt ihn als Beweis für den Gebrauch der Sonderzeitrechnung. Dies kann jedoch nicht überzeugen, zumal das Datum nach dem Auszug der Kinder auf dem Stein am Neuen Tor und der Zusatz der Urkunde nicht übereinstimmen, wenn man sie in die übliche Zeitrechnung umsetzt. Diese Datumsangaben dürften daher lediglich ein Indiz dafür sein, daß Hameln sich im 16. Jahrhundert als Stadt des Kinderauszuges präsentieren wollte. Eine Sonderzeitrechnung läßt sich daraus nicht beweisen, vgl. auch oben, S. XXX.
  9. Fein (S. 12) zieht die Zahl 272 von dem in der Inschrift A genannten Datum 1531 ab und kommt so auf 1259, das Jahr der Sedemünderschlacht, die er als historischen Kern der Sage vom Kinderauszug sieht.

Nachweise

  1. Johannes Letzner, Chronik der Stiftshildesheimischen Städte (Hildesheimer Chronik, V. Buch) Kap. 36 (nach 1604), zitiert bei Dobbertin Nr. 44c (S. 57).
  2. Erich, S. 38 (ohne A, B ohne Jahreszahl).
  3. Herr, S. 697 (Nachzeichnung).
  4. Daniel Eberhard Baring, Sendschreiben an Herrn Christoph Friedrich Fein (...) bei Gelegenheit der von ihm entdeckten Fabel von der Hamelschen Kinder Ausgang. Hannover 1748. In: Fein, S. 13–33, spez. S. 32.
  5. 2Sprenger, S. 14.
  6. Rothert, S. 20 (Anm.).
  7. Anonymer Artikel in den Hamelschen Anzeigen 1873, S. 462–464.
  8. Meissel, Inschriften, S. 34.
  9. Ders., Beschreibung, S. 19.
  10. Spanuth, Geschichte II, S. 18 (Abb. gegenüber S. 17).
  11. Spanuth, Rattenfänger, S. 46.
  12. Humburg, S. 15 (Abb.).

Zitierhinweis:
DI 28, Hameln, Nr. 45 (Christine Wulf), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di028g004k0004505.