Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 17 Radewell, Wenzelskirche 3. D. 14./A. 15. Jh.

Beschreibung

Abendmahlskelch, Silber, vergoldet, aus Beesen. Am Rand des runden Fußes umlaufend gravierter Stiftervermerk (?) (B). Vom Fuß auf den Anlauf übergehend ein graviertes gleicharmiges Gabelkreuz auf geschrafftem, annähernd quadratischen Grund. Daneben ein aufgelöteter Wappenschild, unter dem vielleicht ein zweiter am Rand hervorscheint. Diametral gegenüber eine unvergoldete Stelle des Fußes, auf der möglicherweise der beschriebene oder ein weiterer Wappenschild befestigt war. Runder Stilus aus zwei streifenförmigen, getriebenen Manschetten mit Rankenwerk, eingefaßt von Perlschnüren. Scheibenförmiger Nodus mit je sechs getriebenen Blüten an Ober- und Unterseite. An den Stirnseiten der Rotuli je ein Buchstabe des Nomen sacrum ausgespart (A); die umgebende Fläche ausgehoben und mit blauem Emaille gefüllt, das größtenteils ausgefallen oder verfärbt (?) ist. Unter dem Fuß eine gravierte Gewichtsangabe (C).

Maße: H.: 15 cm; D.: 9,6 cm (Kuppa), 10,4 cm (Fuß); Bu.: 0,5–0,6 cm (A, B), 0,5–0,8 cm (C).

Schriftart(en): Gotische Majuskel (A), Gotische Minuskel (B).

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Markus Scholz) [1/4]

  1. A

    I//H//E//S//V//S

  2. B

    dominusa) hildebrandus heselingb) milesc) duminusd) iunraduse) gusehef) milesg)

  3. C

    XXIIII lot

Übersetzung:

B Herr Hildebrand Keseling, Ritter. Herr Konrad Guseke, Ritter.

Wappen:
Keseling (?)1)

Kommentar

Die Transkription der Namen folgt den hinreichend belegten Varianten Keseling und Guseke, obwohl heseling und gusehe gut zu lesen ist. Die entsprechenden Buchstaben unterscheiden sich von dem zweifelsfrei als h zu lesenden Anlaut des Vornamens hildebrandus nur dadurch, daß das untere Bogenende nach rechts umbrochen ist, bei dem Vornamen aber im Unterlängenbereich spitz ausläuft. Die Buchstaben h und b des Vornamens sind allerdings gleich gebildet. Gleichlautende Familiennamen mit der Schreibung h sind in den hallischen Quellen bislang nicht nachgewiesen. Eva Wipplinger hielt B für eine „Trugschrift“, glaubte aber die Jahreszahl „mccccxx“ lesen zu können.2)

Die Inschriften A und B sind sorgfältig ausgeführt. Die Buchstaben E und S des Nomen sacrum weisen kräftige Bogenschwellungen, die Buchstaben H und I kräftige Schäfte und das E eine gerundete Innenkontur auf. Ihr ästhetischer Reiz resultiert auch aus dem Gegensatz sehr schmaler und außerordentlich breiter Buchstabenteile (z. B. E und S). Diese späte Form der gotischen Majuskel (A) ist im 14. Jh. entstanden, war aber noch im 15. Jh. gebräuchlich (vgl. Nr. 73). Für die im 15. Jh. allgemein vorherrschende gotische Minuskel (B) finden sich schon Beispiele im späten 14. Jh. (vgl. Nr. 13, 14). Da die Schriftformen keinen eindeutigen Hinweis auf die Entstehungszeit des Kelches geben, ist anzunehmen, daß Hildebrand Keseling und Konrad Guseke Stifter des Kelches waren und als solche genannt sind. Der kegelförmige Anlauf und die Ausschmückung des Stilus deuten auf ein Werk des 14. Jh. hin.3) Der Inventarisator Gustav Schönermark vermutete, der Kelch könnte gleichzeitig mit dem auf 1522 datierten Beesener Altarretabel entstanden sein (s. Nr. 113),4) die Familien Keseling und Guseke sind zu dieser Zeit aber nicht mehr in Halle und Umgebung nachweisbar.

Im Jahr 1200 tritt mit „Hermannus Guzeke“ erstmals ein Träger des Namens gusehe in Erscheinung.5) Seine Anwesenheit bei der Beurkundung einer Schenkung des Erzbischofs Ludolf von Magdeburg an das Hospital des Deutschen Ordens verdeutlicht die hervorgehobene Position seiner Familie in Halle. Fortan erscheinen die Guceke, Guseke, Guzke usw. in verschiedenen Quellen, bis sie nach ihrer letztmaligen Erwähnung nach 1380 aus den hallischen Schöffenbüchern verschwinden.6) Ein halbes Jahrhundert nach den Gusekes tritt mit „Conradus“ der erste Vertreter der Familie „Keselingk“ auf.7) Im dritten Viertel des 14. Jh. standen zwei Angehörige dieser angesehenen hallischen Familien in engerer Beziehung: Hildebrand Keseling und „Kune“ (d. i. Konrad) „Guzke“ handelten zusammen bzw. zu wechselseitigem Nutzen vor dem Schöffenstuhl.8) Ende der 1360er Jahre bestimmte Hildebrand Keseling „hern Kunen Guzken“ und andere zu Vormündern „sines sones kinde[s]“ Hildebrand.9) Mit Blick auf die unsichere Datierung des Kelches ist auch denkbar, daß dieser Enkel mit dem zwischen 1401 und 1410 mehrfach erwähnten Hildebrand Keseling identisch10) und der Stifter jenes Kelches ist, der zu einer Seelstiftung für die ihn in seiner Jugend umsorgenden Männer gehört haben könnte. Mit seiner Person verschwindet auch die Familie Keseling aus den Schöffenbüchern.

Die Titulaturen dominus und miles für Bürger Halles sind in der mutmaßlichen Entstehungszeit des Kelches gebräuchlich.11) Es handelt sich nicht nur um „besonders vornehme, alteingesessene, dem Erzbischof nahestehende Familien“, wie Elisabeth Schwarze-Neuß schreibt,12) sondern um Adlige, wie jenen Hildebrand Keseling, der 1391 Hauptmann zu Giebichenstein war13) – und vielleicht mit dem letzten, in den Schöffenbüchern nachgewiesenen Hildebrand K. gleichzusetzen ist.

Textkritischer Apparat

  1. dominus] Verbessert aus duminus.
  2. heseling] Sic! Für keseling.
  3. heseling miles] hec ehugimles BKD Prov. Sachsen NF 1.
  4. duminus] Sic!
  5. iunradus] Sic! Für cunradus.
  6. gusehe] Sic! Für guseke.
  7. gusehe miles] Ein Nexus litterarum von e und m dort, wo der umbrochene obere Bogenabschnitt des e in den linken Schaft des m übergeht. gulchamles BKD Prov. Sachsen NF 1.

Anmerkungen

  1. Drei Brotlaibe 2 : 1. Ursprünglich vermutlich über dem Namen Keseling angebracht.
  2. Wipplinger 1972, S. 13.
  3. Vgl. DI 62 (Lk. Weißenfels), Nr. 19 (2. D. 14. Jh.); DI 64 (Lk. Querfurt), Nr. 25 (2./3. V. 14. Jh.).
  4. BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 448.
  5. UBH I, S. 116 (Nr. 114).
  6. Schöffenbücher 1, 1882, S. 380 (Nr. 1420); vgl. auch ebd., S. 507 (Register).
  7. UBH I, S. 274 (Nr. 292: 1258).
  8. Schöffenbücher 1, 1882, S. 176 (Nr. 266), 299 (Nr. 762). Vielleicht ist auch jener „her Hildebrande“, der zweimal unmittelbar vor Kune Guzke als Begünstigter in den Schöffenbüchern genannt wird, mit dem älteren Hildebrand gleichzusetzen; ebd., S. 175 (Nr. 254), 259 (Nr. 442).
  9. Schöffenbücher 1, 1882, S. 239 (Nr. 290).
  10. Vgl. Schöffenbücher 2, 1887, S. 8 (Nr. 39), 23 (Nr. 159 f.), 24 (Nr. 161), 45 (Nr. 330), 47 (Nr. 345), 54 (Nr. 399), 56 (Nr. 423), 57 (Nr. 430), 61 (Nr. 457), 62 (Nr. 468), 63 (Nr. 479).
  11. So z. B. in der Einleitung des Talschöffenbuchs 1386 „her Koeppe Piszker, ritter“; UBH II, S. 97 (Nr. 556).
  12. Schwarze-Neuß 2006, S. 26.
  13. Dreyhaupt 1, 1749, Beylage A, S. 117.

Nachweise

  1. BKD Prov. Sachsen NF 1, S. 448 (A, B).

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 17 (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0001708.