Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 426† Stadtgottesacker vor 1624, 1624

Beschreibung

Grabstein für Barbara Kruspe mit Sterbevermerk und Segenswunsch auf der einen (A) sowie ein Trostgedicht für dieselbe auf den Tod ihres Sohnes auf der anderen Seite (B).1) Schriftform und Art der Ausführung der verlorenen Inschriften nicht bezeugt.

Nach Olearius.

  1. A

    Anno 1624. den 17. Decemb(ris) ist die Erbare und Tugendsame Frau Barbar(a) Kruspen, Valentin Henzen ehel(iche) Haußfrau, im 48. Jahr ihres Alters in GOtt selig entschlaffen, derer Seelen Gott genade.a)

  2. B

    Decidit hoc subito flos tam juvenilis in agro /CRUSPIUS Aoniib) sedula cura chori. /Unicus hic matris gnatus, cita fata secutus /Patris, qvem praesens urna feralis habet. /Matris erat viduae solamen amabile; qvo non /Dulcius hic toto mater in orbe videt. /Sedulitate Parens parca corrasit in usum /Illius, heu miseris! interitura bona. /Desine moesta Parens nato cumulare reposta, /Sunt sua nam nato commoda, mille tuo. /Christus ad aetherias sedes hunc duxit, (et)c) ex hac /Palmes habet vitam funere, vite, fide.

Übersetzung:

B Unvermittelt fiel auf diesem Acker die so jugendliche kruspische Blüte ab, die emsig umsorgte Pflegschaft des aonischen Reigens. Als einziger Sohn der Mutter folgte dieser dem raschen Schicksal des Vaters, den die (hier) gegenwärtige Totenurne enthält. Er war der verwitweten Mutter liebenswerter Trost; keinen süßeren als diesen sieht die Mutter hier auf der ganzen Welt. Mit Fleiß brachte die Mutter die wenigen und – o weh den Armen – vergänglichen Güter zu dessen Nutzen auf. Laß davon ab, betrübte Mutter, (deinen) Sohn mit tausend entlegenen Gaben zu überhäufen, denn dein Sohn ist im Besitz seines Glücks. Christus führte diesen zu den himmlischen Gefilden, und von diesem Weinstock hat der Rebsproß durch das Begräbnis sein Leben. Vertraue darauf!

Versmaß: Sechs elegische Distichen (B).

Kommentar

Aus Inschrift B geht hervor, daß es sich um ein Familiengrab gehandelt haben muß. Der Vater Valentin Henze war hier schon beigesetzt (qvem praesens urna feralis habet), als in dem lateinischen Trostgedicht des verstorbenen Sohnes gedacht wurde. Dem Sohn hatte man durch den Aonius chorus, den Reigen der Musen, vermutlich eine gute Ausbildung angedeihen lassen. Das Glück aber, das höher ist als vergängliche Güter und das der Sohn im Tod erwarb, ist das ewige Leben. Er erwarb es, weil er fest blieb im Glauben an Christus, wie die Anspielung auf das biblische Gleichnis der Reben am Weinstock (Jh 15,4–5) ausdrücken soll. Allegorische und sachliche Bezugnahmen auf antike Traditionen (Aonius chorus, urna) stellen den späthumanistischen Bildungsanspruch der Familie heraus.

1624 ist auch die Mutter Barbara geborene Kruspe (A) gestorben, die im neunten Vers von B noch als lebend angesprochen wurde.

Textkritischer Apparat

  1. Schrägstriche bei Olearius wurden durch Kommata ersetzt.
  2. Aonii] Aonisch, d. h. zu Böotien gehörend. Auch Beiwort der Musen, die am Helikon im griechischen Böotien lebten; Georges 1, 1995, Sp. 483 f.
  3. et] Olearius: et-Ligatur.

Anmerkungen

  1. Olearius 1674, S. 150.

Nachweise

  1. MBH Ms 319, 3, o. S.
  2. Olearius 1674, S. 150 f.

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 426† (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0042607.