Inschriftenkatalog: Die Inschriften der Stadt Halle an der Saale

Katalogartikel in chronologischer Reihenfolge.

DI 85: Halle/Saale (2012)

Nr. 411 Dom 1620

Beschreibung

Epitaph aus verschiedenartigen Materialien für Dr. Kilian Stisser an der nördlichen Innenwand der Kirche. Die Mittelachse des Epitaphs ruht auf zwei mächtigen Konsolen, die ein Alabasterrelief der Verkündigung einschließen. Im ersten, dem Hauptgeschoß, zwei Säulen mit weit hervortretendem, verkröpften Gebälk, ein rundbogig überfangenes Alabasterrelief mit der Anbetung der Hirten flankierend. Seitlich davon zwei (jetzt) leere Muschelnischen, von Pilastern und Säulchen mit Gebälk eingefaßt und von je einem zur Hauptachse hin ansteigenden Giebelsegment bekrönt. Auf jedem Giebelsegment ein Vollwappen. Die architektonischen Rahmungen der Nischen werden außen von je einer kleineren Konsole abgestützt. Im zweiten Geschoß ein Alabasterrelief mit Kreuzigung, das in einer dem Hauptbild vergleichbaren Weise gerahmt ist. Darüber im dritten Geschoß eine (jetzt) leere Muschelnische, bekrönt von einer allegorischen Figur. Unterhang aus Alabaster, ähnlich einer Kartusche, darin eine Inschrift mit Weiheformel, biographischen Angaben, Sterbe- und Stiftervermerk. Das Schriftfeld aus schwarzem (geschwärztem?) Stein, die erhabenen Buchstaben goldfarben abgesetzt. Reiches Knorpel- und Ohrmuschelwerk am Unterhang, an den aus Sandstein gehauenen Konsolen sowie an kleinen, aus Alabaster gefertigten Seitenhängen, die an allen Geschossen des Epitaphs angebracht sind. Viele davon heute entfernt bzw. verloren. Die knienden Figuren des Verstorbenen und seiner Familie sowie zwei Allegorien und der Kruzifixus z. Z. abgenommen. Zahlreiche Beschädigungen an den Figuren sowie an allen Teilen des Epitaphs.

Maße: H.: ca. 600 cm; B.: ca. 270 cm;1) Bu.: 1,5 cm.

Schriftart(en): Kapitalis.

SAW Leipzig, Inschriftenkommission (Markus Scholz) [1/1]

  1. D(EO) O(PTIMO) M(AXIMO) / CHILIANO STISSERO CANCELLARIO / I(VRIS) C(ONSVL)TO CELEBER(RIMO) ORATORI EXQVISITISS(IMO) QVI CVM PRI=/MVM BRVNONI COMITI MANSFELD(ENSI)a) DEIN HVIC CI=/VITATI SVM(M)AM IN CONSILYS FIDEM ET INDVSTRIAM / PROBASSET, TANDEM AD AMPLISS(IMOS) HONORES ACCIT(VS) VARYS / LABORIOSISSIMISQ(VE) LEGATIONIBVS AD DIVUM RVDOLPH(VM)b) / II. COMITIA IMP(ER)IAL(IA)c) ALIOS ELECT(ORES) ET PRINC(IPES) PRO PACE / ET BONO HVI(VS) ARCHIEPISC(OPATVS) TOTOS XXII A(NN)OS MAGNA / CVM LAVDE DEFVNCT(VS) LEGIB(VS) ET SIGILLOd) OPT(IMI) PRINC(IPIS) / CHR(ISTI)ANI WILHELMI INTEGERRIME PRAEFVISSET GLORIA / ET FAMA MAGISQ(VE)e) A(NN)IS CVMVLAT(VS) CVM DESIDERIO O(MN)IVM / BONOR(VM) OPTIME MERITAM DE P(AT)RIA A(N)I(M)AM DEO REDDIDIT / ANN(O) SAL(VTIS) M D CXX. IX IAN(VARII)f) AETAT(IS) LVIII VIDVA / LIBERIQ(VE) MOESTIS(SI)MIg) POSVERVNTh)

Übersetzung:

Gott, dem Besten (und) Höchsten. Dem Kilian Stisser, dem Kanzler, weitberühmten Rechtsgelehrten (und) ausgezeichneten Gesandten, der, nachdem er zuerst Graf Bruno von Mansfeld (und) dann dieser Stadt in Ratschlüssen größte Treue und größten Fleiß bewiesen hatte, schließlich zu höchsten Ehren mit verschiedenen und äußerst beschwerlichen Gesandtschaften zum erhabenen Rudolf II., zu Reichstagen und zu anderen Kurfürsten und Fürsten gerufen wurde, zu Frieden und Nutzen dieses Erzbistums zweiundzwanzig ganze Jahre mit großem Lob die Gesetze und das Siegel des vortrefflichen Fürsten Christian Wilhelm untadeligst verwaltete, gestorben ist (und), an Ruhm und gutem Ruf noch mehr als an Jahren bereichert, mit dem Verlangen nach allen Wohltaten im Jahr des Heils 1620, am 9. Januar, im 58 (Jahr seines) Alters, die um das Vaterland hochverdiente Seele Gott zurückgegeben hat, errichteten die Witwe und die tiefbetrübten Kinder (dieses Grabmal).

Wappen:
Stisser2)Stisser

Kommentar

Die Buchstaben weisen einen breiten Strich ohne Differenzierung von Haar- und Schattenstrichen auf. Die Sporen sind von unterschiedlicher Größe. Die mitunter etwas ungelenke Ausführung der Buchstaben ist wohl ihrer geringen Größe geschuldet. Der Kleinbuchstabe q ist in der Lineatur der Großbuchstaben geschrieben. Kontraktionskürzungen sind zumeist durch überschriebene Striche, Suspensionskürzungen zumeist durch Doppelpunkt und durch die Kürzungszeichen für die Endsilben VS, VE und VM dargestellt. Kilian Stisser wurde 1562 geboren, besuchte die Lateinschule im ehemaligen Kloster Ilfeld (Thüringen) und immatrikulierte sich 1582 in Helmstedt. Nach Studien an den Universitäten in Wittenberg (1584) und Jena (1585) wurde er 1591 in Helmstedt promoviert. Danach trat er als Kanzler in den Dienst des Grafen Bruno von Mansfeld (1563–1615),3) ging aber schon 1594 als städtischer Syndicus nach Halle. Dieses Amt hatte 53 Jahre vor ihm schon sein Großvater Kilian Goldstein bekleidet (s. Nr. 333). 1598 wird er unter dem Kanzler Henning Hammel (s. Nr. 327) Vizekanzler des Erzstifts Magdeburg und führte nach dem Tod Hammels 1602 die Amtsgeschäfte wahrscheinlich allein weiter. Bei Regierungsantritt des zehn Jahre zuvor im minderjährigen Alter postulierten Administrators Christian Wilhelm von Brandenburg 1608 wurde er dessen Kanzler.4) Die in der Inschrift angegebenen 22 Dienstjahre sind von 1598 bis zu seinem Tod gerechnet. Die Phrase CVM DESIDERIO OMNIVM BONORVM [...] ANIMAM DEO REDDIDIT meint sicherlich des Sterbenden letzte Worte, mit denen er Gott und den Gottessohn angerufen, seine Seele überantwortet und um das höchste Gut, das ewige Leben, gebeten hat.5)

Im Jahr 1602 wurden Stisser und seine Nachkommen durch ein Diplom Kaiser Rudolfs II. in den Adelsstand erhoben.6) Als wirtschaftliche Schwierigkeiten die Familie zum Verkauf ihrer Güter zwangen, soll sie das Adelsprädikat wieder abgelegt haben.7) Das Epitheton DIVUS, hier mit „erhaben“ übersetzt, das den nach ihrem Tod vergöttlichten römischen Kaisern der Antike zukam,8) hat der Verfasser sicherlich in panegyrischer Absicht verwendet.

Das monumentale und prächtige Epitaph wird von den meisten Autoren, zuletzt 1998 von Thomas Ratzka, dem Magdeburger Bildhauer Christoph Dehne zugeschrieben. Stilistische Details sprechen aber dafür, daß an dem Werk noch ein anderer Bildhauer aus Magdeburg, Lulef Bartels, mitgearbeitet hat oder ein dritter anonymer Bildhauer, der sowohl für Dehne als auch für Bartels tätig war.9) Aus den im Norden Deutschlands führenden Magdeburger Bildhauerwerkstätten des Manierismus und Frühbarock ist nachweislich nur dieses eine Epitaph nach Halle gegangen, während die vergleichbaren Epitaphien für den erzstiftischen Kanzler Henning Hammel (gestorben 1602) und den fürstlichen Leibarzt Laurentius Hoffmann (gestorben 1630) Leipziger Bildhauern verdingt wurden (Nr. 327, 431).

Textkritischer Apparat

  1. MANSFELDENSI] Kein Kürzungszeichen.
  2. RVDOLPHVM] Kein Kürzungszeichen.
  3. IMPERIALIA] Kontraktionskürzung durch Einfügen des Kürzungszeichens für PER.
  4. SIGILLO] Nach dem letzten Buchstaben folgt ohne Wortabstand ein einzelner Schaft.
  5. MAGISQVE] Vor dem Q ein kleines Spatium. magis qvam Olearius 1667, Olearius 1674.
  6. IX IANVARII] d. IX. Jan. Olearius 1667; d. 9. Jan. Olearius 1674.
  7. MOESTISSIMI] Die letzte Silbe in kleinerem Schriftgrad auf die Oberlinie geschrieben; kein Kürzungszeichen.
  8. POSVERVNT] Es folgt eine Zierschleife.

Anmerkungen

  1. Wegen der Anbringungshöhe nicht vermessbar.
  2. Identifizierung unsicher, da die Wappen nicht unmittelbar zugänglich sind. Vgl. Dreyhaupt 2, 1750, Beylage B, Taf. XXIX.
  3. Zu Bruno I. von Mansfeld-Bornstedt vgl. Schwennicke NF XIX, 2000, Taf. 87.
  4. Dreyhaupt 2, 1750, Beylage B, S. 166 („Geschlechts-Register derer Stisser“); Stisser 1988; siehe auch Thiele 2011, S. 426.
  5. Zu den letzten Worten des Sterbenden s. Einleitung, S. XLIII.
  6. Stisser 1988, S. 513 f.
  7. Just 1965, S. 15.
  8. Vgl. Georges 1, 1995, Sp. 2255.
  9. Ratzka 1998, Anhang, S. 67 f., 86; zu Chr. Dehne s. AKL 25, 2000, S. 259 (R. Hagedorn); zu L. Bartels s. AKL 7, 1993, S. 211 (M. Wiswe, J. Tiede)

Nachweise

  1. MBH Ms 319, 5, o. S.
  2. Olearius 1667, S. 366 f.
  3. Olearius 1674, S. 160 f.
  4. Ratzka 1998, Anhang, S. 67.

Zitierhinweis:
DI 85, Halle/Saale, Nr. 411 (Franz Jäger), in: www.inschriften.net, urn:nbn:de:0238-di085l004k0041106.